Aqua – einmal Toast Hawaii

Am elften November kann man viele Dinge zelebrieren: den Karnevalsbeginn, zum Beispiel, oder den Martinstag. Ich habe heute Besseres vor: ein Abendessen im „Aqua“. Ohne Jecken, ohne Kölsch und ganz sicher so unorthodox, dass mich kein heiliger Martin gerne in seinem Namen feiern sähe.

Die Hoffnung auf kulinarische Höhepunkte im „Aqua“ ist bei mir schon vor längerem einem beruhigenden Gefühl der Gewissheit gewichen. Die Gewissheit, in Wolfsburg denkwürdige Sternstunden der Gastronomie und des Genusses vor mir zu haben. Ansonsten führe ich heute nicht zum vierten Mal dorthin.

Und obwohl dieses wiederholte Lob einzig den lukullischen Kreationen Sven Elverfelds geschuldet ist, bucht man mit dem „Aqua“ immer auch ein Gesamtpaket. Sollte man zumindest. Dieses besteht dann üblicherweise aus einem Aufenthalt im angenehm modernen Hotel Ritz-Carlton, das eigenartig surreal in die eindrucksvolle Fabriklandschaft von Volkswagen integriert ist und Wünsche nicht erfüllt, sondern gar nicht erst aufkommen lässt. Diese artifizielle Oase der Gastfreundschaft versprüht zwar irgendwie auch einen Hauch Dubai, allerdings ohne die Hitze und in erheblich geschmackvollerer Farbgebung.

Gegen halb acht sitze ich dann am Tisch. Das Ambiente des Speisesaals habe ich noch immer nicht ganz für mich entdeckt, doch das ist sekundär und ohnehin Geschmackssache.

Apropos. Die Knusperillos werden aufgetischt. Bei diesen Miniaturkreationen handelt es sich um kleine, filigrane Fingersnacks, die jeweils in ungefähr sechs Kubikzentimetern die gesamte Essenz einer scheinbar trivialen Speise repräsentieren und diese auf eine andere Genussebene befördern. Ob Currywurst, Labskaus oder, wie heute, Toast Hawaii, Geflügelsalat „Florida“ und Büsumer Krabbencocktail, – die jeweils typischen Aromen sind sofort identifizierbar. Eine haardünne Scheibe eines Röllchens würde ausreichen, um zu erkennen, welche Speise hier thematisiert wird – und dabei auch noch besser schmecken als das jedem bekannte Original. Ein wesentlicher Aspekt des Gaumenschmauses ist auch die leicht knusprige Textur jedes Röllchens, die so präzise ausgearbeitet ist wie die Spaltmaße einer deutschen Fahrzeugkarossiere.

Mit alldem beherbergen die „Knusperillos“ nicht weniger als die fundamentalste Botschaft über gehobene Küche, die ungefähr so lautet: lieber ein richtig gutes Toast Hawaii als zehn mäßige Hummer.

Weiter geht es dann mit den „Suppen-Shots und Löffeldegustationen“, die den „Knusperillos“ in nichts nachstehen. Hervorragend sind Königsberger Klops mit Reis & Kapernsauce, Gebratene Sobrasada mit Honig & Kartoffelpürree und ein Süppchen von Topinambur; großartig intensiv ist der Krustentier- & Rouilleschaum; und eindrucksvoll, wie immer, auch die Kalamata-Olive, die frivol mit den für süß und sauer verantwortlich zeichnenden Geschmacksrezeptoren spielt.

Fast erschreckend, dass man für den Verzehr dieser acht Köstlichkeiten – selbst mit gutem Willen – in nur wenigen Minuten fertig ist. Servierte man sie etwas größer portioniert und hintereinander, hätte man damit schon ein exzellentes, abendfüllendes Menü auf höchstem Niveau genossen. Dieses hier hat gerade erst begonnen.

Die Gänseleber „Lulumba“ & Zwetschgebuhlt dann zunächst mit einem effekthascherischen Blasengebilde um die Gunst des möglicherweise verunsicherten, an den falschen Gebrauch eines Strohhalms erinnerten, Essers, doch spätestens am Gaumen sollte jede Skepsis weichen. Die Aromen der Zwetschge passen hervorragend zur Gänseleber, die sich als unterste Schicht auf dem Teller befindet, und genau richtig portionierte knusprige sowie kalte Elemente tragen zu willkommener Abwechslung bei. Eine heitere Kreation, die noch weiter verbessert wurde und damit zu den besten und kreativsten Gänseleber-Gerichten gehört, die ich kenne.

Räucheraal / Kürbis, grüner Apfel & Kernöl ist ein Baukasten für ein herausragendes Geschmackserlebnis, mit dem Vorteil, dass man die Teile nur richtig zusammensetzen kann. Eine der vielen perfekten Gabeln enthält am besten ein wenig von allem: ein Stück rauchigen, opulenten Aals, etwas Kürbiscreme, ein zartes, aromatisches Kürbisstückchen, dazu etwas markantes Kernöl, ein bisschen erfrischender Apfel sowie einige der knusprigen Komponenten. Ganz hervorragend. Ich suche verzweifelt den zweiten Teller…

Das Stück Kabeljau mit Kartoffel-Allerlei, Speckwürfelchen, Gurke und Kartoffeln (in Scheiben und als kleine krosse Würfel) wird zwar mit einer sehr delikaten Dillsauce serviert, verblasst jedoch vor den bisherigen Darbietungen durch eine zu bodenständige Ausführung, der keine der hier üblichen Höhepunkte entgegengesetzt ist. Vielleicht ziert deshalb ja ein Fragezeichen den Teller.

Ausgerechnet in diesem Moment erwischt uns eine der charmanten Damen aus dem Service bei offenbar leicht nachdenklichen Gesichtsausdrücken. „Nicht gut?“, fragt sie erstaunt. „Doch, doch“, erwidere ich prompt und ehrlich, „es ist alles phantastisch, bitte weiter so!“. Das Niveau, das hier vom ersten Bissen an vorgegeben wird, ist so hoch, dass selbst gute Gänge mittelprächtig erscheinen.

Es folgt Rosenkohl mit Ziegenfrischkäse, dazu zwei Scheiben würzige Wildsalami, Chips von Kümmelbrot und Braunschweiger Mummebier. Kurzum: ein herrlich herzhaftes Gericht, das mit vergleichsweise einfachen Zutaten und einer intensiven, dichten Sauce den Esser in Momente des Staunens und des Glücks versetzt. Ausgezeichnet!

Blumenkohl & Eigelb mit Parmegiano Reggiano delle vacche rosse & Trüffel „Magnatum Pico“ ist atemberaubend. Die erdigen, betörenden Aromen von Blumenkohl, hier als Püree, und weißer Trüffel scheinen ein und derselben Geschmacksfamilie anzugehören, die nach längerer Trennung am Gaumen ihre Zusammenkunft feiert. In der Mitte dann irgendwo das Eigelb, das für noch mehr Zusammenhalt sorgt, sowie die leicht pikanten Aromen vom Parmesan für etwas Tiefe. Das ist cremig, waldig, „schlotzig“ – einfach famos! Hier sind wir angekommen am oberen Ende der Genussskala, die auch in Drei-Sterne-Restaurants längst nicht immer erklommen wird.

Wir bleiben jetzt erst mal dort oben. Sven Elverfeld kennt sich hier bestens aus und serviert mit Kalbsbries glasiert mit Nussbutter, Champignons, Staudensellerie, Kartoffeln ein in mehrerlei Hinsicht grandioses Gericht. Es sieht wunderhübsch aus, recht fragil und beinahe schützenswert hinter den wuchtigen Glaswänden des Gefäßes, in dem es serviert wird. Doch wer könnte hier schon Widerstand leisten? Es duftet nach Wald. Und es tut noch etwas ganz Erstaunliches: es hört sich gut an! Führt man seinen Löffel an die Schicht mit den hauchdünn geschnittenen, rohen Champignons, antworten diese mit einem einladenden, krossen Knistern. Es ist ganz leise, sollte jedoch aufmerksamen Essern nicht entgehen. Anbei eine kurze Aufnahme davon (Lautstärke ggf. hochdrehen):

Nur sehr wenige Speisen involvieren überhaupt bereits auf dem Teller eine akustische Ebene: ein knackiger Salat, zum Beispiel, den man auf die Gabel spießt; die knusprige Haut von gegrilltem Geflügel; oder die karamellisierte Schicht einer Crême brûlée. Und jedes dieser Geräusche ist wohlklingend und appetitanregend – genau wie hier.

Probiert man es endlich, setzt sich die Begeisterung uneingeschränkt fort. Perfekt gegartes Kalbsbries vermengt sich mit der cremig-schaumigen Nussbutter und einem herzhaften Sud zu einem unvergesslichen Gaumenschmaus. Grandios!

Zählt man die Amuse-Bouches mit, – und es gibt keinen Grund, der dagegen spräche – folgt mit Kaisergranat & Jungschweinebauch vom Holzkohlegrill die fünfzehnte Kreation des Abends. Doch es treten weder Überforderung noch Gewöhnung ein, und so macht auch meine Begeisterung vor diesem (mir bereits bekannten) Gang keinen Halt.

Nach einem wie immer erfrischenden Champagner-Cremesorbet folgt ein weiterer Knüller in Form vom Rothirsch aus der Altmark mit Kurtraubenglasur, Wirsing & Hoorische Knödel mit Wildleberwurst. Die herausragende Qualität und perfekte Garung des Fleischs sind nahezu beispiellos; doch mindestens ebenso viel Bewunderung verdient die Sauce. Ob es dieselbe ist, die ich bei einer Abwandlung (oder Vorstufe?) dieses Gerichts bereits im Juni als phänomenal bezeichnet habe, kann ich nicht genau ausmachen. Diese hier ist auf jeden Fall so gut, dass Paul Bocuses Saucier hier Nachhilfeunterricht nehmen sollte. Es ist der Traum aller dunklen Saucen, dicht eingekocht, glänzend und verführerisch aromatisch.

Zum Glück hält ein kleines Kännchen noch eine großzügige Menge des Elixiers parat. Ich möchte mich ausdrücklich dafür entschuldigen, nicht auch noch den Teller blitzblank geleckt zu haben.

Als ich den Maitre d‘ frage, welches Gerät eingesetzt wird, um das vorherige Sorbet derartig cremig zu bekommen, antwortet er: „Ein Gerät… und ganz viel Butter!“. Natürlich, Jimmy, wie könnte es auch anders sein. Einer der Gründe, warum selbst die hyperkreative Küche Elverfelds so herausragend ist, ist die makellose Beherrschung aller klassischen Register der Kochkunst, die immer dort hervorblitzt, wo jedes Substitut fehl am Platz wäre. Dicht abgebundene Saucen auf Fondbasis; authentische, identifizierbare Produkte bester Qualität; und kompromissloser Wohlgeschmack – das alles lässt sich durch nichts ersetzen. Sven Elverfeld weiß genau, wann und wie er diese Register ziehen muss.

Vier Stunden nach Beginn des Menüs beginnt schließlich die Patisserie ihr süßes Werk, auf das ich aus Gründen des Umfangs nun nur noch kurz eingehen möchte.

Der „Big Apple“ mit Granny Smith, griechischem Joghurt und Pecannuss ist eine typische Kreation des Teams um Nadja Hartl und angenehm erfrischend, apfelig, schaumig, nussig – sehr gut. Jürgen Giesel serviert dazu einen kongenial passenden Weißwein, den ich im Eifer des Gefechts leider nicht notiert habe.

Die Schokolade „Piura Criollo Grand Cru“, Peru mit Quitte, Malz & Buchkernölkann mich dagegen nicht so recht überzeugen. Zu viele und zu mächtige Zutaten eifern hier um die Anerkennung des Essers, sodass sich die Komposition – trotz hervorragender Schokoladenqualität – in ihrer Vielseitigkeit und ihrem Umfang etwas verliert.

Das „Süße Finale“ trumpft dann noch einmal mit sechs Köstlichkeiten auf: Spekulatius, Gebrannte Mandeln & Lebkuchen; Karottenkuchen mit Frischkäsesabayon & Ginger-Ale-Gelee; Ananasravioli mit Mascarpone, Limette & Pistazie; sowie, im Glas, Feige, Walnuss & Schmand – die fünfundzwanzigste Kreation an diesem Abend.

Skeptiker der „teuren“ Küche, Ihr habt Recht! Der trockene Steinbutt, den Ihr mal für siebzig Mark in einem biederen Restaurant gegessen habt, war sein Geld nicht wert. Ihr habt da nichts falsch verstanden, denn gute Küche muss man nicht verstehen. Sie erschließt sich einem von ganz allein.

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: Aqua (→ Website)
Chef de Cuisine: Sven Elverfeld
Ort: Wolfsburg, Deutschland
Datum dieses Besuchs: 11.11.2011
Guide Michelin (D 2012): ***
Meine Bewertung dieses Essens 9 (Was bedeutet das?)