Pic – Anne-Sophies Welt

Anne-Sophie Pic. Das ist schon ein Name in der Spitzengastronomie. Die Vierundvierzigjährige ist erst die vierte Köchin in diesem von Männern dominierten Metier, die jemals mit drei Michelin-Sternen ausgezeichnet wurde. Die kulinarischen Wurzeln ihrer Familie reichen bis ins 19. Jahrhundert zurück. 1934 gab es dann in Pics Stammbaum zum ersten Mal drei Sterne für das Restaurant ihres Urgroßonkels, L’Auberge du Pin.

Aber ich fahre heute nicht als Ahnenforscher von Megève hinab nach Valence, sondern als Gast im Relais & Château Maison Pic. Meine Route führt mich hinaus aus den eisigen Höhen der Haute-Savoie, über Serpentinen vorbei am Gebirgsmassiv Chartreuse, irgendwann durch Grenoble und nach entspannten zweieinhalb Stunden schließlich nach Valence, Hauptstadt des französischen Départements Drôme.

Als mir die Zielführung meines Mietwagens das Ziel in 200 Metern anzeigt, wundere ich mich, denn an dieser unscheinbaren Hauptstraße ist noch keine Spur eines etwaigen Fünf-Sterne-Hotel- und Drei-Sterne-Gastronomietempels in Sicht.

Doch keine zehn Minuten später stehe ich schon an der Rezeption zum Check-in. Das Hotel scheint sich ganz bewusst von seiner tristen Umgebung abschotten zu wollen: Alle Fenster im Haus sind verhängt; zusätzlich erfüllt ein recht penetranter Raumduft jeden Winkel des Gebäudes. Das lullt einen wie in einen Kokon ein, allerdings auf eine recht artifizielle Art.

Als ich die Balkontüren meines Zimmers öffne, um frische Luft in diese Kunstwelt zu lassen, blicke ich in einen üppig bepflanzten Innenhof. Es klopft an der Zimmertür, ein Glas Champagner wird zur Begrüßung gereicht.

Keine Frage, alles ist vom Feinsten: der helle Naturstein im Badezimmer, die teuren Designerarmaturen und Hermès-Produkte, das riesige Bett im Zimmer, das fast breiter ist als lang, der große Flatscreen, die iPod-Dockingstation, Designerlampen und, und, und … Aber es wirkt alles sehr forciert, vermutlich um eine internationale, fordernde Klientel zu besänftigen. Ich hoffe, das ist kein Indiz für das Essen, das mich heute Abend erwartet.

Vier Stunden später.

Während eines Aperitifs in der großen Lobby reicht man mir zunächst etwas Lektüre, die im Gegensatz zum sonst bereits überstrapazierten Wortwitz auch wirklich als solche zu verstehen ist. Auf einem Dutzend (grafisch ansprechend gestalteter) Kärtchen erläutert Madame Pic dort jedes der verfügbaren Gerichte, von der Ideenfindung bis zum Geschmacksbild. Natürlich ist das nicht als Bedienungsanleitung zu verstehen, sondern als zusätzlicher Nutzen, um die Geschichte hinter jeder Kreation besser verstehen zu können. Außerdem wählt man hiermit die Menügröße aus, von sechs Gängen („Découverte“, € 160) bis zu allen elf („Essentiel“, € 320). Meine Wahl fällt eindeutig aus: Verzicht heißt sie nicht.

Glücklicherweise gibt es die „Speise-Karten“ dann später am Tisch noch mal in einem etwas kleineren Format zum Auffrischen des soeben Überflogenen. Diese etwas weniger hübsche Version darf man dann auch mit nach Hause nehmen. Derartige Einsparungen finde ich etwas merkwürdig, wenn man sich hier sonst mal so umsieht. Im eklektisch eingerichteten Speisesaal schreien einen aus jeder Ecke teure (aber unauthentische) Designobjekte an, vom Philippe-Starck-Lüster bis zum Baccarat-Wasserglas.

Momentan gleicht die Atmosphäre noch einem surrealen Stillleben, im wahrsten Wortsinn, denn um halb acht bin ich zunächst noch der einzige Gast im Restaurant. Die erdrückende Stille wird nur durch mein gelegentliches Absetzen des Kilogramm schweren Wasserglases sowie das Brechen des Brotes unterbrochen, das ungefähr so laut wirkt wie das Öffnen einer Chipstüte in einem Kinosaal.

Ich fühle mich inzwischen genug durch gewolltes Beeindrucken gelangweilt, jetzt kann bitte geliefert werden.

Und was in den nächsten Stunden folgt, ist dann tatsächlich eine der atemberaubendsten Speisefolgen, die mir je serviert wurden!

Den Anfang macht eine Crème brûlée mit Foie Gras und Granny Smith, in deren Schlichtheit Vollendung zu finden ist. Die makellose, hauchdünne Karamellkruste, darunter eine genau richtig gesüßte Crème mit traumhafter Vanille und hinreißendem Schmelz, sowie der feine Gegenpol durch die Säure des Apfels – das alles ist wunderbar! Es sind Nuancen, die diese Crème brûlée von Millionen ähnlichen unterscheidet, aber genau diese machen aus einem vermeintlichen Bistrodessert eine Vorspeise auf kulinarisch allerhöchstem Niveau. Das muss man erlebt haben!

Der erste Gang des Menüs ist La betterave plurielle. Pic setzt hier verschiedene Bete-Sorten ein – rote Bete, Burpee’s Golden, „la Crapaudine“, Chioggia sowie eine ägyptische Sorte –, die sich alle leicht in Bezug auf Textur und Geschmacksprofil unterscheiden. Das ungemein zarte, aber noch leicht bissfeste Gemüse wurde dabei in einer mit Jamaica-Blue-Mountain-Kaffee gewürzten Butter gegart und wird mit einer säurebetonten Creme aus Sanddorn serviert.

Was für eine großartige Kombination! Es fühlt sich so an als wäre genau dies die eine einzige, perfekte Art, (rote) Bete zu genießen. Mal wieder ein Hoch auf Gemüse!

Inzwischen hat sich auch der Speisesaal etwas mehr gefüllt (wobei ich an dem Abend nicht mehr als sechs besetzte Tische zählen werde), und meine Vorfreude auf die noch folgenden Gänge wurde mit den letzten beiden Speisen auf ein Maximum gesteigert.

Zu Recht, denn mit Les oursins violets werde ich um meine erste Erfahrung mit Seeigel bereichert – nicht grundsätzlich, sondern die erste, die mich vollends glücklich macht. Immerhin handelt es sich bei den orangefarbenen essbaren Teilen um die Eierstöcke des weiblichen Tiers – eine von der Vorstellung her ziemlich gewöhnungsbedürftige Angelegenheit, die auch noch extrem jodig schmeckt.

In diesem Gericht begegnet Pic der herausfordernden Zutat mit einem Sauerampfergelee, welches nicht nur ein leuchtendes Grün, sondern auch eine krautige Säure sowie eine leicht ätherische Note durch den Einsatz von Kubebenpfeffer beisteuert. Ein Eigelb in der Mitte ermöglicht es mit seiner Sämigkeit, die kräftigen Aromen etwas abzumildern. Durch verschiedene Kombinationen der Komponenten entstehen am Gaumen unterschiedliche Geschmackseindrücke, von recht klassischen (Ei/Salz) bis zu neuartigen, originellen. Gleichermaßen fordernd wie exzellent!

In angenehmem Tempo (mit ca. zehn bis fünfzehn Minuten Pause zwischen den Gängen) geht es weiter mit dem nächsten Geniestreich. Bei Les poireaux jaunes du Poitou et le caviar Alverta finde ich in einem tiefen Teller Lauch, Anchovis, einen aufgeschäumten Jus aus Matcha (ein pulveriserter Grüntee) sowie, obenauf, ein kleiner Kräcker mit Kaviar. Die salzige, nussige, leicht säurebetonte Kombination scheint direkt aus dem Schlaraffenland zu kommen. Sehr beeindruckend ist auch der Jus, der irgendwo (in einer goldenen Mitte) zwischen einer Bouillon und einer nur mit Butter montierten Sauce einzuordnen ist. Ein geschmacklich und handwerklich großartiges Gericht.

Die dritte Kreation in Folge, die die Farbe Grün so prominent zur Schau stellt, ist La Langoustine au casier. Mittig thront ein makelloses Exemplar ausgelösten Kaisergranats auf einem Stück Bleichsellerie, umgeben ist das Ganze von einer intensiv grün leuchtenden Sauce, die erneut einen ganz wesentlichen Beitrag zur Pracht dieses Gerichts beiträgt. Das Krustentier ist perfekt gegart, die knackige Frische des scheinbar banalen Selleries zu der feinen Süße des Tiers sehr angenehm, und die Kelle des grünen Zaubertranks dann eine einzige Offenbarung. Das schmeckt alles so fein, so raffiniert und so ausgewogen – und dabei gleichzeitig auch so andersartig –, dass ich meine Sinne langsam schwinden sehe, um danach im hier ja schon vermuteten Schlaraffenland wieder aufzuwachen.

Doch ich bleibe bei Sinnen und esse den Gang genüsslich zu Ende.

Steigt man im Nachhinein etwas in die Lektüre ein, findet man die ganze Auflösung des Saucenzaubers. Anne-Sophie komponiert diese Sauce um die vier Zutaten grüner Anis, Granny Smith, Sellerie und Zimtblatt. Als „Fetisch“ bezeichnet Pic ihre Beziehung zu grünem Anis, den sie als Kind „hasste“ und erst viel später wegen seines intensiven Aromas zu schätzen gelernt hat. Hier setzt sie ihn ein, um die Bitterkeit des Selleries zu unterstreichen. Der Apfelsaft sorgt für „Lebhaftigkeit und Säure“, und ein während der Herstellung der Sauce darin mitziehendes Zimtblatt vervollkommnet schließlich das Elixier, das im Ergebnis ganz wunderbar zum Kaisergranat passt.

Die feinsinnige Art, in der hier Wohlschmeckendes konzipiert und umgesetzt wird, ist mir völlig neuartig. Ich wünsche mir ab sofort mehr Frauen an die kulinarischen Spitze!

Und die Perfektion reißt nicht ab.

Der nächste Gang ist ein unglaublich starkes, aufwühlendes Gericht, für das sich Anne-Sophie von dem Besuch einer Kokosplantage auf Mauritius hat inspirieren lassen.

In einem komplizierten Prozess wird eine gereifte Kokosnuss von ihrer harten Schale befreit, sodass nur das innere weiße Fruchtfleisch mit dem Kokoswasser übrig bleibt. Darin werden bei hoher Temperatur eine Jakobsmuschel (La Saint-Jacques de Normandie) und verschiedene Aromaten gegart: u. a. Sellerie, Trüffel und etwas alter Rum.

Als ich am Tisch dann den Deckel des Konstrukts abnehme und alle meine Sinnesorgane näher dort heranführe, werde ich von einem Duft eingenommen, der mich sofort auf einer tropischen Insel wähnen lässt. Der süßliche Duft des rhum vieux agricole; die wunderbare Verbindung zwischen Erde (Trüffel) und Meer (Jakobsmuschel und der etwas salzige Sellerie); sowie die Milde des Kokoswasser-Suds: all das ist benebelnd und betörend. Ich höre Zikaden und leise Gitarrenklänge, rieche die parfümierte tropische Abendluft … Gigantisch.

Der nächste Gang gibt mir dann Gelegenheit, etwas zu verschnaufen. Ein Stück Petersfisch (Le saint-pierre de petit bateau) befindet sich auf einem abermals grünen Saucenspiegel – hier auf der Basis von grünem Spargel, Pfefferminze und Trüffelbutter. Während die Sauce absolut grandios ist, ist der Fisch leider völlig übergart und trocken, was ich ihm schon von außen ansehe. Es ist mir völlig schleierhaft, wie so etwas in einem derartigen Restaurant passieren kann, aber sei es drum. Mir ist nicht nach einer Beschwerde zumute (wie könnte es auch!), daher genieße ich vorwiegend die Sauce und lasse das meiste vom Fisch auf dem Teller.

Beim Abräumen merke ich den Makel höflich an, aber besonderes Interesse scheint diesem eindeutigen (schon fast peinlichen) Fauxpas niemand zu schenken. Schade, dass das ganze Drumherum hier so institutionalisiert wirkt.

Doch die weitere Menüfolge macht jedes Malheur wieder schnell vergessen. Das Lamm (L’agneau d‘hiver) bietet vollkommenen Hochgenuss. Es kommt mit einigen pyramidenförmigen „Säckchen“, berlingots genannt, die einer bekannten Bonbonart nachempfunden und hier mit einem flüssigen Ziegenkäse (Banon) gefüllt sind. Dazu gibt es ein paar Kräuter und einen leichten, aber aromatisch kräftigen Jus. Das Lamm ist butterzart, und wer an dem Stück auch nur ein einziges Bisschen Fleisch oder Fett dranlässt, sollte sich schämen. Trotz sicherlich aufwändigen Handwerks ein unkomplizierter Genuss!

Die wieder aufgegriffene Perfektion geht weiter. Le Chevreuil ist ein weiterer hervorragender Fleischgang. Ein Stück Reh wurde hierzu mit Tahiti-Vanille bei niedriger Temperatur geräuchert. Dazu gibt es einen intensiven Sud sowie unterschiedliche Kohlsorten mit sauren, bitteren und süßen Aromen. Außergewöhnlich gut.

Die Brücke zu den Desserts schlägt dann das Thema Käse, zuerst mit einem als schaumige Creme zubereiteten Brie de Meaux mit Bourbon-Vanille. Die Zubereitung ist erstaunlich gut, aber ich freue mich dann eher auf die bissfestere Variante vom Chariot de Fromages.

Ich wähle einige Sorten aus, darunter Saint Nectaire und Comté, muss allerdings verdutzt feststellen, dass die Käse viel zu kalt und hart sind, wodurch sie jung und unreif wirken (und das vielleicht auch sind). Ein ähnlich seltsames Missgeschick wie beim Fisch. Doch wie schon dort, geht es dann gleich wieder steil bergauf.

Ein pré-dessert in Form eines kleinen Küchleins mit Aromen von Rose und Geranie ist eine verzückende Angelegenheit, doch die drei kleinen Petits Fours sind dann nicht minder die besten Köstlichkeiten dieser Art, die ich je genossen habe. Eines davon, zum Beispiel, enthält eine intensive Creme aus Passionsfrucht, die sich am Gaumen dann mit allerfeinster Schokolade zusammentut; ein anderes thematisiert auf geniale Weise Litschi. Man fühlt sich in einen Süßwarenladen mit riesigen, bunt gemusterten Lollis und kubikmetergroßen Schubladen voller leuchtender Bonbons versetzt.

Genau solche Erlebnisse sind es, die einen kulinarisch so richtig verderben. Es gibt unzählige Petit Fours, doch ich möchte künftig nur diese.

Dies hätte eigentlich der krönende Abschluss sein müssen, denn das eigentliche Dessert fällt dagegen stark ab.

Les agrumes et le curcuma, enthält in einer aufwändigen, ringförmigen Konstruktion verschiedene, meist schaumige, Zubereitungen außergewöhnlicher Zitrusfrüchte wie Ponderosa-Zitrone, Santsuma, Bergamotte, Zitronatzitrone und Pomelo.

Immerhin Dreiviertel davon esse ich auf, bevor sich meine Erkenntnis festigt, dass mir das alles zu schaumig und zu „vorbereitet“ ist und die schönen Früchte dabei leider überhaupt nicht zur Geltung gelangen. Wie man dieses Thema viel einprägsamer umsetzen kann, zeigt bspw. Alain Ducasse mit seinen agrumes, die er in verschiedenen Restaurants serviert.

Doch es ist nicht der Moment, um zu nörgeln, sondern der Moment, über ein Essen zu reflektieren, das einzigartig war. Anne-Sophie Pics Küche trumpft mit genialen, feinfühligen Kombinationen von Aromen auf, die immer neuartig, aber niemals zu weit entfernt von der klassischen Basis sind, die Pic vermutlich im Schlaf beherrscht. Doch sie war heute nicht im Haus – weder wach noch schlafend –, und ich bin mir nicht immer so sicher, ob eine Umtriebigkeit von Küchenchefs (sie betreibt noch Restaurants in Lausanne und Paris, eine Kochschule hier in Valence, Feinkostgeschäfte usw.) der Küche wirklich guttut. Möglicherweise wäre ein übergarter Fisch mit ihr am Pass niemals serviert worden.

Fisch hin oder her, Anne-Sophies kulinarische Welt ist eine fabelhafte. Ich glaube insgeheim immer noch, dass in der Küche eine Tür zum Schlaraffenland existiert. Vielleicht war Anne-Sophie ja kurz dort.

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: Pic (→ Website)
Chef de Cuisine: Anne-Sophie Pic
Ort: Valence, Frankreich
Datum dieses Besuchs: 11.02.2014
Guide Michelin (F 2014): ***
Meine Bewertung dieses Essens 9 (Was bedeutet das?)