RyuGin – mein erstes Mahl

Als mich das Taxi in Tokios Stadtteil Roppongi absetzt, ist es kurz vor 17.30 Uhr. Eine merkwürdige Zeit für ein Abendessen, aber durch die zwölf Stunden Flug, die ich heute schon hinter mir habe, weiß ich Uhrzeiten ohnehin gerade nicht richtig einzuordnen. Doch müde bin ich nicht.

Es ist mein erster Abend in Tokio, meine erste Reservierung in einem von zehn Drei-Sterne-Restaurants, die ich in den nächsten Tagen besuchen werde, und meine erste Begegnung mit authentischer japanischer Küche. Könnte man auf irgendetwas gespannter sein?

Als das Taxi anhält, steht bereits jemand vorm Restaurant. Ich werde freundlich empfangen und zu einem Tisch im noch leeren Speisesaal geführt. Man spricht Englisch und Französisch – an der Verständigung wird es also heute Abend schon mal nicht hapern.

Überhaupt ist das Konzept hier recht westlich geprägt: Gewöhnliche Tische, umherschwirrendes Servicepersonal und ein großer Kühler mit offenen Weinen: das werde ich in den nächsten Tagen eher selten erleben. Am Tisch reicht man mir zunächst eine gut ausgestattete Weinkarte und ein heißes Tuch für die Hände – ein angenehmer Brauch, der mein obligatorisches Händedesinfektionsmittel, das ich immer dabei habe, jedoch allenfalls ergänzen kann.

Bei einem Glas Chassagne-Montrachet sehe ich mich erst mal in Ruhe in meiner neuen Umgebung um. Es ist recht düster: ein schwarzer Fußboden, schwarze Tischdecken, schwarze Servietten, schwarz gekleidetes Personal und ein monochromes Drachenbild prägen die mysteriöse Atmosphäre. Wirklich einladend ist anders, aber ich bin ja … genau: wegen des Essens hier.

Auf dem Tisch liegt bereits das Menü in englischer Sprache. Der Titel Plating the Prodigality of Japanese Nature heißt in etwa so viel wie „die Vielfalt der japanischen Natur auf den Teller bringen“. Eine solche Speisekarte – mit detaillierten Beschreibungen der Zutaten – wird die ausführlichste sein, die ich auf meiner Reise sehen werde.

Und dann geht es auch schon los mit dem ersten Gericht, das ich in Japan serviert bekomme. Es sieht ungewohnt und schön zugleich aus. Das ist beides positiv, denn ich habe keine zehntausend Kilometer zurückgelegt, um Gewohntes zu sehen.

Mit den Essstäbchen taste ich mich an die verschiedenen Ingredienzen heran. Knackiges Gemüse in leuchtenden Farben und verschiedene Muschelarten spielen hier zusammen. Nach und nach erschließt sich mir die Faszination dieses Gerichts, die darin besteht, dass so viele verschiedene Eindrücke (Texturen, Temperaturen, Aromen) alle am selben Strang ziehen. Das Erlebnis von Frische, das dieser Teller mit jedem Bissen mehr und mehr vermittelt, ist außergewöhnlich.

Manche der Meerestiere sind mir jedoch zunächst mehr fremd als recht, sodass ich mit diesem Gericht eine Art Hassliebe eingehe. Exzellent, aber fordernd.

Es folgt ein heißes Schälchen mit den Protagonisten Seeigel und Erbse. Hier komme ich zum ersten Mal mit dem japanischen Seeigel in Kontakt, der deutlich weniger jodig schmeckt als die europäischen Exemplare, dafür aber eine feine Süße mitbringt. Die Erbsen dazu passen hervorragend; das Schälchen habe ich schnell blankgeputzt.

Und obwohl ich mir recht sicher bin, noch Begeisternderes auf meiner Reise zu verspeisen, ist das Gefühl, meine Sinne mit so viel Neuem zu füttern, schon jetzt unglaublich befreiend und jeden Flugkilometer wert.

Das nächste Schälchen gibt einen traumhaften Duft preis sowie den Blick auf abermals farbenfrohe Kontraste. Im heißen Dashi, dem Fischsud, der für viele japanische Gerichte eine Basis bildet, simmern unter anderem ein Stück Abalone sowie in einem leicht süßlichen Teig gebackene Kuruma-Garnelen. Was für eine Vielfalt in diesem Topf! Vor allem diese kleinen ummantelten Garnelen sind ganz hervorragend. Geschmack, Aromen, Handwerk, Umsetzung und Qualität der Zutaten sind makellos. Natürlich muss man diese Andersartigkeit der Küche erst einmal auf sich wirken lassen. Und genau das tue ich, indem ich mir genüsslich und in Ruhe den noch immer heißen, duftenden Dashi-Sud zu Gemüte führe.

Der folgende Gang beinhaltet dann gleich drei kleine Verköstigungen, die noch mal kurz meine Experimentierfreudigkeit antesten. Zu einem Stück Seeteufelleber (mi-cuit und geschmacklich sehr ähnlich zum Geflügelkorrelat), gesellt sich ein roher, weißer Fisch und knackig-pikanter Lauch. Der untere Teller enthält einige merkwürdige Muscheln, denen ich nicht besonders viel abgewinnen kann, wohingegen der Bonito offenbar geräuchert wurde und mit seinem fast schon „schinkigen“ Geschmack einen exzellenten Kontrast zu den anderen Speisen setzt. Gut, aber nicht uneingeschränkt wiederholungsbedürftig.

Doch der Abend hat gerade erst begonnen, und Wiederholungen stehen nicht auf dem Menü. Im Gegenteil. Die Vielfalt, die folgt, ist atemberaubend.

Man sehe sich einmal diese Augenweide an! Der jetzige Teller thematisiert zwei verschiedene Tintenfischarten: spear squidund firefly squid, jeweils in unterschiedlichen Größen und Zubereitungen. Eine wunderbare Komposition: salzig vom Meer, etwas herzhaft, am Gaumen abwechslungsreich und dazu eine ungewohnt feine Sellerieart. Ganz hervorragend!

Mittlerweile bin ich auf Sake umgestiegen. Für Reiswein kann ich zwar nicht ganz so schwärmen wie für den Rebensaft, aber es passt gerade einfach. Ein Hoch auf Japan. かんぱい!Kanpai!

Mit einem traditionell über Holzkohle gegrillten Fisch aus der Familie der Stachelköpfe (kinki fish) folgt ein weiteres Highlight. Das mit Aubergine gefüllte Stück Fisch ist knusprig, alles andere als mager, schmeckt nach Lagerfeuer und lässt damit jedes Genießerherz höherschlagen. Als wunderbaren Gegenpol findet man dazu in einem separaten Schälchen eine säurebetonte, leicht pikante Zubereitung aus Avocado, marinierten Gemüsen und geriebenem Rettich (Daikon). Ein zutiefst befriedigendes Gericht aus einer etwas familiäreren Geschmackswelt. Makellose Produkte, perfektes Handwerk und eine zutiefst befriedigende Fokussierung aufs Wesentliche. Besser kann man nicht essen, nur anders.

Dramaturgisch passend folgt an dieser Stelle dann ein Gericht mit Fleisch, das ebenso wenig zu verbessern ist. Nur zwei oder drei quaderförmige Stücke buttrig-saftiges, ebenfalls über Holzkohle gegrilltes, Akage Beef, dazu einige Gemüse und – als wäre der „Süffigkeitsfaktor“ nicht schon hoch genug – ein knusprig pochiertes Ei machen dieses Gericht unvergesslich. Erlebnisse mit Fleisch von derartiger Qualität sind so rar, dass ich eigentlich immer mehr auf Fleisch verzichte, weil kaum eines einen vergleichbaren Qualitätsanspruch erfüllt. Grobe Gaumen mögen Fleisch, Genussmenschen mögen Qualität.

Es geht weiter mit drei kleinen Köstlichkeiten. Links ein Schälchen mit Reis, der mit Kirschblüten aromatisiert wurde, dazu ein ganzer Schwarm Minigarnelen (Sakura shrimp), die so unverschämt knusprig sind wie eine gute Schnitzelpanade – noch feiner, versteht sich, vielleicht ein bisschen in Richtung hauchdünnen Krokants. Sie schmecken leicht süßlich, leicht salzig und bieten zusammen mit dem blumigen Reis ein überirdisches Genusserlebnis. Reis mit Garnelen als kulinarisches Highlight, wer hätte so etwas für möglich gehalten?

Doch auch die anderen Schälchen sind hervorragend, z. B. das mit ein paar knackigen, pikanten, teils säuerlich marinierten Gemüsen und weiteren Minigarnelen-ähnlichen, knusprigen Tierchen. Oder die Misosuppe, die genauso viele Welten von dem in unseren Breiten bekannten trüben Zeug entfernt ist wie der schlichte, grüne Tee.

Modern und verspielt – dabei aber voll gelungen, weil köstlich –, folgen ein Dessert mit dem Thema Erdbeere in verschiedenen Kontrasten (knusprig/weich, heiß/kalt) sowie weitere kleine Süßspeisen. Ein krönender Abschluss, dem es an nichts fehlt.

Zum Ausklang gibt es noch einen Becher Matcha-Tee – meine erste Begegnung mit diesem angenehm herben Elixier, das in einer sorgsamen Prozedur aufgeschlagen und aufgebrüht wird.

Damit geht ein langer Tag zu Ende, der den Anfang meines ambitionierten kulinarischen Programms der kommenden Woche kaum besser hätte markieren können. Gute Nacht, Tokio und bis morgen!

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: RyuGin (→ Website)
Chef de Cuisine: Seiji Yamamoto
Ort: Tokio, Japan
Datum dieses Besuchs: 11.04.2014
Guide Michelin (TYO 2014): ***
Meine Bewertung dieses Essens 8,5 (Was bedeutet das?)