Sukiyabashi Jiro Honten – flüchtige Perfektion in Tokios Untergeschoss

Auf keine meiner Reservierungen in Tokio war ich bisher so gespannt wie auf die am heutigen Abend. Eine aufwühlende Mischung aus Nervosität, Neugier und Ehrfurcht, die bisher meinen Tag beherrschte, versuche ich zu einem spektakulären Sonnenuntergang mit einem Glas Champagner abzumildern. Den Tag verbrachte ich fast schon in Askese, schließlich stand heute kein Mittagessen auf meiner umfangreichen Ess-Agenda. Ich habe mich regelrecht von äußeren Störeinflüssen abgeschirmt, damit meinem Vorhaben ja nichts in die Quere kommt.

Warum so nervös? Na ja, ich habe gleich einen Tisch – oder eher: Platz am Tresen – bei Jiro Ono, dem 88-jährigen Sushimeister, der von vielen als der weltbeste angesehen wird. Wer den prämierten Dokumentarfilm Jiro Dreams of Sushi nicht gesehen hat, sollte das dringend nachholen, um all die Details zu kennen, die Jiro-san so einzigartig machen. Seit Jiro neun Jahre alt ist und aus seinem Zuhause verbannt wurde, bereitet er Sushi zu. Und trotz seiner acht Jahrzehnte Erfahrung in diesem Handwerk, strebt der alte Mann fortwährend nach einer Perfektion, von der er sich selbst nicht sicher ist, ob sie erreichbar ist.

Hinlänglich bekannt ist auch der skurrile Ort der Restaurants, welches in einem U-Bahn-Schacht untergebracht ist. Die Herausforderung ahnend, die es darstellen würde, den Laden ausfindig zu machen, habe ich mich schon ein paar Tage zuvor auf die Suche begeben, als ich ohnehin im Stadtteil Ginza unterwegs war. Tatsächlich hat es fast eine halbe Stunde gedauert, bis ich – trotz mir bekannter Adresse – das Restaurant finden konnte.

Heute Abend bin ich also schon mal zielsicherer. Dennoch komme ich fast vierzig Minuten zu früh in der Gegend an. Ich ziehe um die Geschäfte, deren schillernde Schaufensterwelten in diesem Moment für mich nicht uninteressanter sein könnten.

Ich habe in den vergangenen Tagen in Tokio bereits Sushi auf allerhöchstem Niveau probiert und dabei gleich ein neues kulinarisches Universum erschlossen. Doch die wirklich Offenbarung: die erhoffe ich mir hier und heute Abend. Es ist kurz vor sieben. Ich steige die Treppen hinab ins Untergeschoss Tokios.

Was dann passiert, dauert gerade mal zwanzig Minuten. In dieser Zeit bekomme ich 20 Stück Nigiri-Sushi zu essen, die mein Bild dieser Speise für immer beherrschen werden. Jiro-san präpariert jedes Stück Sushi mit fließenden, stets identischen Handgriffen: Zunächst erfolgt ein Griff in die Schüssel mit Reis links von ihm, gefolgt von einer akkuraten Portionierung und Formung des Reisquaders in der Handinnenfläche. Dabei kommt es schon mal vor, dass Jiro-san einzelne Reiskörner zurück in die Schüssel gibt – es geht hier um Milligramm. Diese Intuition für die einzig richtige Portion für jeden Gast ist das Ergebnis von jahrzehntelangem Streben nach Perfektion. Fast nie schaut er dabei hoch. Wo er genau hinsieht, kann ich gar nicht ausmachen, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass der Tastsinn der einzige ist, den er benötigt, um die kleinen Häppchen zuzubereiten.

Ist die richtige Größe gefunden und geformt (das dauert nur wenige Sekunden), folgt ein Pinselstrich mit Sojasauce (er bedient sich zwei verschiedener) sowie dem Auflegen des Fischs, für dessen Zuschneiden Jiros älterer Sohn Yoshikazu verantwortlich zeichnet, der seit einigen Jahrzehnten im Schatten seines Vaters arbeitet. „Eingespielt“ wäre eine untertriebene Bezeichnung für das Vater-Sohn-Duo. Es ist eine Symbiose, die trotz einiger Scherze, die die beiden ab und zu machen, im Wesentlichen nonverbal abläuft.

Häppchen für Häppchen – die ersten nehme ich noch mit zittriger Hand zu mir – offenbart sich mir die Komplexität dieses Handwerks, das sich gut mit dem eines Uhrmachers vergleichen lässt. Unzählige Zahnräder spielen hier ineinander, um am Ende ein makelloses und reproduzierbares Ergebnis zu liefern.

Die Zahnräder sind in diesem Fall all jene Faktoren, die im Ergebnis der Sushi-Zubereitung zum gewünschten Ziel führen und vom Esser wahrgenommen werden können. Ich erlebe hier eindringlicher denn je, dass es beim Sushi fast ausschließlich um das „Mundgefühl“ geht als um konkrete Aromen oder einen bestimmten Geschmack. Wie groß die Portion im Mund ist; in welchem Verhältnis man Zunge und Zähne verwenden muss, um die Portion zu zerkleinern; welche Temperatur und Oberflächen die Komponenten haben: all das beeinflusst die Empfindung am Gaumen.

Entgegen der hierzulande weit verbreiteten Meinung, steht beim Nigiri nicht etwa der verwendete Fisch im Vordergrund, sondern der Reis. Dieser ist es schließlich, der den Großteil der Masse eines jeden Häppchens ausmacht und mit seiner Körnung, Festigkeit, Klebrigkeit, Feuchtigkeit, Säure, Temperatur und Oberflächentextur maßgeblich das Erlebnis am Gaumen ausmacht. Die Rezepturen der Sushimeister sind fast immer das Ergebnis vieler Jahrzehnte Übung. Eric Ripert, Chef des auch von mir so geschätzten Le Bernardin in New York, beschreibt Jiros einzigartigen Reis als „eine Wolke“ und bezieht sich dabei auf die Flüchtigkeit, die diesen Häppchen inne ist. Denn nach Jiro hat jede Zutat immer nur einen ganz kurzen Moment, in dem der Genuss absolut perfekt ist.

Was den Fisch betrifft, macht Jiro natürlich auch keine Kompromisse. Jeden Tag fährt Sohn Yoshikazu mit dem Fahrrad zum Tsukiji-Fischmarkt, um nur allerbeste Ware von vertrauenswürdigen Händlern einzukaufen, die häufig auf eine einzige Fischart spezialisiert sind. Sogar das Verhalten der Tiere wird beurteilt, z. B. ob ein Oktopus noch kräftig und entschlossen genug ist, sich vor seinem Käufer zur Wehr zu setzen. Ein resignierter Oktupus kommt bei Jiro nicht in die Tüte.

Die neunzehn Nigiris (plus eine Extra-Portion nach Wunsch), die ich hier im Takt „1 pro Minute“ serviert bekomme, sind die folgenden.

Karei (Plattfisch)

Sumi-ika (Tintenfisch)

Inada (Gelbflossenmakrele)

Akami (Thunfisch)

Chu-toro (mittelfetter Thunfisch)

Oo-toro (fetter Thunfisch)

Kohada (Dorosoma, eine Heringsart)

Torigai (Herzmuschel)

Aji (Stachelmakrele)

Akagai (Archenmuschel)

Kurumaebi (gekochte Garnele)

Hamaguri (Japanische Venusmuschel)

Iwashi (Sardine)

Uni (Seeigel)

Kobashira (Baby-Jakobsmuschel)

Ikura (Lachsrogen)

Anago (Aal)

Tamago (Ei)

Und noch eine Extra-Portion Oo-toro.

Ein Stück Melone – das intensiv-aromatischste, das ich je probiert habe – dient als Dessert dieses kurzen Mahls, das mit einer Rechnung von ca. 300 Euro durchaus dazu reizt, kuriose Kalkulationen anzustellen wie „15 Euro pro Minute“ oder „15 Euro pro Stück Sushi“. Doch diese Zahlen haben keinen Wert. Am Ende gilt: Für die meisten Tätigkeiten gibt es Menschen, die diese beherrschen, wenige weitere, die sie sehr gut beherrschen – und nur einzelne Visionäre, denen kein Aufwand zu obsessiv erscheint und kein Detail vernachlässigbar, um ihr Ziel zu erreichen.

Jiro Onos Ziel ist perfektes Sushi, und genau das habe ich hier erlebt. Die Kürze dieses Essens Unterstützt auch die Aussage Jiros, dass der ganz perfekte Genussmoment für eine Speise kurz und flüchtig ist. Sagenhafte zwanzig Mal hintereinander kann man das hier erleben. Wenn das keine Ausbeute ist.

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: Sukiyabashi Jiro Honten (→ Website)
Chef de Cuisine: Jiro Ono
Ort: Tokio, Japan
Datum dieses Besuchs: 16.04.2014
Guide Michelin (TYO 2014): ***
Meine Bewertung dieses Essens 10 (Was bedeutet das?)