Atera – alles awesome

Hi, how are you?“ – „Good, how are you?“. Normalerweise endet die amerikanische Begrüßungsfloskel hier, doch Matthew, laut Visitenkarte Captain hier, antwortet mit gelassener Miene: „I’m awesome!“. Warum er sich ausgerechnet so großartig fühlt, frage ich nicht; vermutlich ist die awesomeness Teil der Corporate Identitity des Atera.

Doch in der Tat gibt es Schlimmeres als mit Spannung und Appetit am Tresen dieses Restaurants zu sitzen, das innerhalb seiner erst zweieinhalbjährigen Geschichte so bemerkenswerte Auszeichnungen vorweisen kann wie zwei Sterne vom Michelin und drei (von vier) von der New York Times. Da kann man sich schon mal awesome fühlen. Also fühle ich mich auch awesome und stöbere in der Weinkarte, aus der ich mich zunächst mit einer halben Flasche 2010Château Montelena Chardonnay ($ 55) aus Napa vergnüge.

Während ich den cremigen Chardonnay in meinem Glas schwenke, lasse ich das Ambiente auf mich wirken. Dies verrät: Hier erwartet den aufgeschlossenen Esser ein umfangreiches Degustationsmenü ($ 195) mit allem was heutzutage in kreativen Restaurants dazugehört, wie z. B. ein kaum auszumachender Eingang, ein Tresen mit offener Küche und jungen Köchen dahinter, feste Uhrzeiten (seatings) zum Essen, keine Speisekarte, strikte Reservierungsrichtlinien. Ich mag das alles. Denn trotz der ganzen Besonderheiten muss man sich als Gast dann im Restaurant um nichts mehr kümmern, sondern kann sich einfach in die Hände des Küchenchefs und seines Teams begeben. Die Küche einfach machen lassen: das entspricht dem japanischen omakase-Gedanken.

Was Küchenchef Matthew Lightner (ein weiterer Matthew) und sein Team in den nächsten drei Stunden dann hier „einfach machen“, ist nicht weniger als das Folgende:

Königskrabbe / Zitronengras / Haselwurz / Rhabarber. Nicht nur schön anzusehen, sondern ein anspruchsvoller Einstieg mit bitteren und herben Noten. Sehr gut.

Golden Osietra Kaviar / Schwarze-Olive- und Walnuss-Creme. Der nussigen Cremigkeit des Kaviar stehen hier die abermals etwas bitteren, sehr intensiven Cremes entgegen. Das ist gewagt, aber voll gelungen und verdient ein dickes Ausrufezeichen. Hervorragend!

Schwarzbarsch (leicht sautiert) / Hagebutte / Blütenfond / Hunds-Rose. Auch dieser Gang kombiniert ein exzellentes Produkt aus der Tierwelt mit einem Potpourri an vegetabilischen Zutaten. Ich bin nicht der größte Blütenesser, aber sich auf diesen Gang einzulassen, lohnt sich. Vor allem die angegossene Infusion mit Rose rückt dieses wohlschmeckende Gericht in einen eleganten Kontext. Für Erwachsene.

Forelle ist das Thema der nächsten drei Kreationen, und zwar in Form eines Crackers mit Forellenleber / Apfel / Beurre noisette mit weihnachtlichen Aromen, gefolgt von einem makellosen Stück Forelle, leicht geräuchert, mit Schweinefett (exzellent) sowie, zu guter Letzt, Amarant-Toast / geräucherter Rogen / „tartar sauce“, eine angenehm rauchige Angelegenheit.

Das Serviertempo ist hoch, aber völlig akzeptabel in Anbetracht der kleinen Portionen.

Der nächste Gang ist unerwartet sensationell. Unerwartet, weil die bisherigen Gänge zwar allesamt hervorragend sind, aber der Küchenstil hier deutlich den Fokus auf Kreativität und Originalität legt als auf einzelne, herausragende Produkte.

Dennoch begeistert mich die lediglich mit Purple Fruits betitelte Kreation außerordentlich. Die Geschmackswelt ist „waldig-beerig“, unterstützt durch eine milde Säure und eine noch dezentere Süße (ohne dabei wirklich süß zu sein) … ein geschmacklicher Volltreffer.

Weiter geht es mit Feste Trogmuschel (surf clam) / Lauch / frische Mandel, ein ganz fein elboriertes Gericht, das durch irgendetwas Geräuchertes an Lagerfeuer erinnert. Exzellent!

Was dann aussieht wie ein Gericht mit Tomate ist in Wahrheit Karotte / Seeigel / Hummer. Eine etwas unnahbare, aber dennoch gute, Komposition.

Erheblich zugänglicher ist ein kleiner Becher mit Kloß (dumpling) / Huhn / Shrimp / Trüffel / Erbsen, dem man als Kontrast einen Spritzer Zitrone hinzufügt. Sehr harmonisch und herzhaft-süffig.

Die nächste Kreation ist Elefantenrüsselmuschel (geoduck) / Lardo / „air baguette“ – ein angenehm rauchiger Fingersnack –, gefolgt von Jakobsmuschel / geröstete Kartoffel-Boullion als exzellente Darbietung von Frische und, erneut, süffiger Herzhaftigkeit.

Mit Lobster Roll folgt eine kreative Interpretation eines nordostamerikanischen Klassikers, einer Art Fischbrötchen mit Hummer. Kühl, frisch, leicht, hervorragend!

Die Optik des nächsten Gangs lässt kaum darauf schließen, dass es sich hier um das beste Gericht des Abends handelt, das man mühelos auch in einem Drei-Sterne-Restaurant servieren könnte. Das vom Kellner mit Seafood Porridge angekündigte Gericht ist wie ein Risotto gekocht und enthält, unter anderem, fermentierten Reis, Garnele, Muscheljus, Taschenkrebs, Butter und Olivenöl. Ein separat angerichtetes Stück Abalone ist Teil des Ganzen. Die trotz aller Komplexität sehr unbeschwert genießbare Kreation lebt am Gaumen von ihrem Spiel mit Texturen, einer gehaltvollen Cremigkeit und einer deutlichen, aber nicht aufdringlichen, Aromatik von Meer und Ozean. Genial!

Ebenfalls großartig ist die Maine-Auster, die über Zedernholz gegart wurde. Angegossen ist die Speise mit „Reismilch“, und akzentuiert mit Mönchsbart, einem kongenial hierzu abgestimmten Kraut. Dazu lasse ich mir einen Sake einschenken, den ich bei Tresennachbarn in der Weinbegleitung sehe. Wunderbar das Ganze.

Und glücklicherweise naht noch immer kein Ende. Die Atmosphäre ist leger, die Stimmung gut – bei Gästen wie im Service –, und im Hintergrund spielen leise die Red Hot Chili Peppers oder Phil Collins.

Da alles bisher exzellent war, darf man auch mal deutlichere Worte verlieren: Der folgende Gang ist abscheulich! Es handelt sich um ein Stück Heilbutt von durchaus makelloser Qualität und Garung, doch die weiteren Zutaten in Form dreier Cremes aus Walnuss, Kamille und Molke lassen den Fisch so schmecken als hätte er zwei Stunden in Terpentin mariniert: tranig, harzig, bissig, bitter. Ich weiß nicht genau, wer daran Gefallen finden soll. Doch im bislang hervorragenden Gesamtkontext ist das absolut verschmerzbar – und immerhin durchaus denkwürdig.

Ein Hushpuppy mit geräuchertem Eigelb und Mais sorgt wohltuend für eine Linderung am Gaumen, bevor es erneut hervorragend weitergeht …

… und zwar in Form von Ente (von grandioser Qualität und Zubereitung), dazu Lauch, Salat und eine Emulsion von grünem Tee und Entenfond. Hier macht vor allem das Hauptprodukt eine äußerst gute Figur und kann daher nur begeistern.

Drei Desserts sowie Pralinen bilden das süße Finale des Menüs. Den Auftakt macht ein ganz hervorragendes Sorbet mit Rhabarber und Lakritzkaramell, welches durch das Süßholz eine gelungene Brücke vom Hauptgang hierhin schlägt. Weiter geht es dann – sehr gut, aber etwas weniger aufregend – mit Mandel / Erdbeeren / Hibiskus sowie Joghurt / Marshmallow / Nussbutter.

Geschafft! Und trotz der Vielzahl an Gängen fühle ich mich keineswegs übersättigt. Die Portionen waren alle recht übersichtlich und bestanden aus leichten Zutaten. Was mir sehr gut gefallen hat, war der Mut der Küche, sich ab und zu etwas abseits der „sicheren“ Geschmackswelten zu bewegen, ohne sich dabei zu verzetteln. Hierbei entstanden teilweise äußerst anspruchsvolle Gerichte, für deren Wertschätzung eine fortgeschrittene „Gaumenreife“ und ein gewisses Maß an Experimentierfreudigkeit jedoch sicherlich nicht schaden kann.

Das ist aber auch gleichermaßen eine Kritik, denn ein solches Menü ist haarscharf an der Grenze, nur Foodies zu gefallen anstatt dem nach unkomplizierten Genuss suchenden Esser. Ich selbst hatte heute allerdings Gefallen an einer Rolle als Foodie.

In Summe verbrachte ich hier einen genussreichen und kurzweiligen Abend mit vielen Highlights in entspannter Atmosphäre und in … New York! Draußen vor der Tür warten schon die Lichter auf mich. Awesome!

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: Atera (→ Website)
Chef de Cuisine: Matthew Lightner
Ort: New York City, USA
Datum dieses Besuchs: 29.07.2014
Guide Michelin (NYC 2014): **
Meine Bewertung dieses Essens 8 (Was bedeutet das?)