Tim Raue – fantasiatisch!

Vor etwas mehr als drei Jahren war ich zum ersten Mal bei Tim Raue und war verblüfft: von der einzigartigen, pikanten, asiatisch inspirierten Küche mit Gerichten wie „Abalone: buddha jumps over the wall“; vom geradlinigen, an eine Kunstgalerie erinnerndes, Ambiente; und von einem entspannten, sehr versierten Serviceteam in T-Shirt und Turnschuhen. Was mir von Beginn an gefiel: nichts von dieser angenehmen Andersartigkeit wirkte aufgesetzt, sondern leidenschaftlich, authentisch und originell. Raue war einer der ersten, der dem alle Sternerestaurants über einen Kamm scherenden Deutschen („ich mag diesen ganzen Chichi nicht“) das Fürchten gelernt hat. Statt Chichi gibt es hier Kimchi, und wer das auch nicht mag, kann ja zu Hause bleiben.

An all diesen Wohltaten hat sich in den letzten Jahren nichts geändert. Regelmäßig war ich bei Raue und konnte die Entwicklung seiner Küche verfolgen. An diesem Samstag bin ich endlich erneut hier. Und für denjenigen, der meiner Anreise aus Hamburg („nur“, um hier Essen zu gehen) mit Erstaunen begegnet, habe ich nur ein Achselzucken übrig. Dieses Restaurant in unter drei Stunden erreichen zu können, ist immer ein beruhigender Gedanke.

Ganz nach meinem Geschmack überlasse ich heute dem Küchenteam die Speiseauswahl (Menü € 168). Nein, ich habe keine Allergien, keine Diätvorschriften, keine komischen Präferenzen, aber dafür zwei andere Dinge: Vertrauen in die Küche und Lust auf einen genüsslichen Abend! Es darf also losgehen. Egal wie, und lieber sofort als später, damit es länger dauert.

Eine Batterie an Petitessen wird aufgetischt. Sie sind mal mild, mal scharf, mal elegant, mal herzhaft-süffig und fassen viel von dem zusammen, wofür die Küche Raues steht. Sie steht vor allem für den faszinierenden Gegensatz zwischen der Leichtigkeit der Gerichte, die nahezu ohne Kohlenhydrate auskommen, und deren zupackenden Aromen. Der einzige Wehrmutstropfen ist, dass diese Amuse-Bouches seit Jahren nahezu unverändert so serviert werden. Dabei bin ich schon so lange auf den nächsten Streich gespannt.

Der nächste Streich des Menüs folgt dann in Form des ersten Gangs: Imperial-Kaviar / geflämmtes Rindermark / japanische Gurke. Dill, Granny Smith und Sauerrahm spielen weitere Rollen in diesem spannenden Auftakt, bei dem geschmacklich erstaunlicherweise das Aroma der Gurke die Hauptrolle spielt. Das ist insofern erstaunlich, als man die Dominanz zunächst beim Kaviar und dem Mark vermutet. Doch diese Zutaten drängen sich geschmacklich nicht in den Vordergrund, sondern wissen um ihre Gunst auch so. Ein sehr gutes Gericht mit Stil und Understatement.

Der folgende Gang hat es in jeder Hinsicht in sich. Ein perfekt auf den Punkt gebratenes Stück Dorade schwimmt in einem leicht pikanten, ätherischen und blumig duftenden Sud von Hühnerfüßen (!), Holunderblüte, türkischer Paprika, Nussbutter, Zitronengras und salziger Zitrone. Man lasse sich das mal auf der Zunge zergehen.

Das Interessanteste an diesem Gericht ist jedoch eine weitere exotische Zutat: Schwimmblase (fish maw) – wie ich erfahre, eine der teuersten Delikatessen überhaupt. Eine Tüte von der merkwürdigen Substanz bekomme ich zur Ansicht an den Tisch. Da liegen dann gleich ein paar Hundert Euro vor mir.

Das Organ wird getrocknet verarbeitet und findet sich in kleinen Stücken, die eine wachsweiche Konsistenz aufweisen, im Jus wieder. Ein spezifischer Eigengeschmack – und damit auch eine besondere Relevanz dieser Komponente auf dem ohnehin schon exzellenten Teller – ist nur schwer auszumachen, aber es ist ohne Frage eine horizonterweiternde Erfahrung.

Weiter geht’s mit geräuchertem Schweinekinn in einem Jus von Räucherpaprika und nuoc-mam-Gelee, dazu gibt es à part einen erfrischenden Salat mit Karotten (roh und als Creme), eingelegter Papaya, saurer Tomate, Trevisano-Salat und Basilikum. Das kleine Stück Fleisch ist, besonders durch den hohen Fettgehalt, zart wie Butter und in Kombination mit der pikanten Sauce ein herrlich unbeschwerter, regelrecht „schweinischer“ Genuss. Letzteres vor allem, weil das Gericht das nicht abzustreitende, gelegentliche Grundbedürfnis eines jeden Essers nach „heiß, scharf und fettig“ befriedigt. Das geschieht nicht unbedingt auf eine sehr elegante Art (die Sauce ist recht klebrig und wirkt ein bisschen artifiziell), bereitet aber dennoch großen Genuss.

Der 2012 Blanc de Lynch Bages (€ 108) aus der außergewöhnlichen Weinkarte (eine der besten Deutschlands) neigt sich dem Ende zu, und ich überlasse fortan Sommelier André Macionga die Wahl, was immer eine gute Entscheidung ist.

Zum nächsten Gang – Sellerie / schwarzer Trüffel / Kopfsalat – serviert er einen ätherisch duftenden, reifen Moselriesling (1975 Kanzemer Altenberg Auslese, Weingut Maximimilian von Othegraven).

Das Gericht selbst, in dem eine mit Trüffeln und Shimeji-Pilzen dekorierte Rolle von geschmortem Sellerie und Pink-Lady-Apfel in einem Sud von Giarratana-Zwiebeln thront, ist eines der besten des Abends. Elegant und unaufdringlich, klassisch wie originell. Hervorragend!

Weiter geht’s mit Rehrücken mit Massaman-Curry und Shiitake-Pilz. Separat dazu ein Salat mit chinesischer Artischocke (sieht aus wie Raupen), Zwiebelsauce und Castelfranco-Salat. Die makellose Fleischqualität setzt hier ein Ausrufezeichen, aber mir ist das Fleisch etwas zu viel des Guten, und auch die (sehr gute) Currysauce will für meinen Geschmack nicht so recht mit dem feinen Wild harmonieren. Dennoch, gerade qualitativ, ebenfalls hervorragend.

Erstaunlich gut ist auch die kleine Erfrischung vor dem Dessert mit der ungewöhnlichen Kombination aus roter Bete, geeister weißer Schokolade, Koriander und Himbeere. Die fast zusammengewürfelt klingenden Zutaten ergeben ein wohlschmeckendes, spannungsreiches Ensemble, welches alles andere als dem Zufall überlassen ist. Genau das Richtige für eine sanfte Überleitung zum süßen Teil ... Oder?

Nicht ganz, denn ich konnte nicht widerstehen, noch die Peking-Ente einzuschieben. Den chinesischen Klassiker interpretiert Raue in Form von zu einem Quader geformten Stücken perfekt gebratener Entenbrust (noch leicht rosa, aber ohne blutig zu sein, mit knuspriger Haut) auf einer (etwas „dumpf“ schmeckenden) Buchweizenwaffel. Die Sauce ist, wie erwartet, pikant und süffig und passt hervorragend.

Auf weiteren Tellern gibt es Weiteres von der Ente, z. B. eine Leberterrine mit sehr zartem Schmelz. In einem klaren Süppchen ziehen derweil weitere Ingredienzen des Tieres vor sich hin. Welche genau, das sollten Zartbesaitete nicht im Voraus wissen, aber Zartbesaitete haben bei Tim Raue vielleicht ohnehin nichts zu suchen. Das Süppchen ist handwerklich hervorragend, mir aber eine Spur zu süß – ich weiß nicht genau, wodurch.

Doch so messerscharf ich hier über jede einzelne Komponente und Geschmacksempfindung urteile, umso mehr muss ich an dieser Stelle betonen, was für ein großartiger Abend das hier wieder ist. Das coole Ambiente, das charmante Personal, die hervorragenden Weine, das in Summe exzellente und regelmäßig wiederholbare Essen: all das macht dieses Restaurant zu einem meiner absoluten Favoriten in Deutschland.

Im Glas ist inzwischen ein 1994er Gaja Sperss, einer der wenigen Gründe, italienischen Weinen zu verfallen. André kredenzt dazu ein paar Gläser (insges. € 88) von dem rassig-eleganten Barolo offen zur Ente.

Ein erfrischendes Dessert mit Thai-Mango, Limette, Safran, Aprikose und frischem grünen Pfeffer (ein gelungener Kick!), später noch etwas Schokolade und noch ein sehr guter Espresso runden den Abend ab.

Eigentlich ist alles gesagt. Raues Küche ist eine der wenigen in Deutschland, die sofort identifizierbar ist. Das hat natürlich mir der asiatischen Ausrichtung zu tun, die auf diesem Niveau in Deutschland überhaupt einzigartig ist, aber auch mit seinem Mut, mit einigen Pointen anzuecken. Einfallslose Gefälligkeit ist auf jeden Fall das Letzte, was man hier erwarten darf.

Wer Deutschlands bestes asiatisches Restaurant noch nicht kennt, hat daher dringenden Nachholbedarf. Und für alle anderen wird der Nachhol- zum Wiederholungsbedarf. Bis bald, ganz sicher!

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: Tim Raue (→ Website)
Chef de Cuisine: Tim Raue
Ort: Berlin, Deutschland
Datum dieses Besuchs: 07.02.2015
Guide Michelin (D 2015): **
Meine Bewertung dieses Essens 8 (Was bedeutet das?)