Pierre Gagnaire – kulinarischer Tinnitus

Sieben Jahre ist mein erster Besuch in Pierre Gagnaires Stammhaus jetzt her. Damals hatte der Meisterkoch und bekennende Jazzliebhaber noch kein Restaurantimperium; heute erstreckt es sich – vielfach besternt – von Las Vegas über die Metropolen Europas bis nach Tokio.

Gagnaire ist bekannt für eine besonders extravagante, kreative Auslegung französischer Spitzenküche. Rezepte entwickelt er in der Regel nicht, sondern er improvisiert, kreiert und gestaltet. Seine Art, Gerichte grundsätzlich aus mehreren Tellern zu komponieren – und dabei gelegentlich auch mal eine falsche Note zu riskieren – polarisiert selbst aufgeschlossene Esser.

Apropos Note: Die Parallelen zu Jazz, die ich schon bei meinem ersten Besuch hier feststellte, sind frappierend. Wie auch Jazz eine komplexe, spannungsgeladene Musik ist, bei der „Zwischentöne“ und Dissonanzen zum Gesamtwerk gehören, ist es auch bei Gagnaires Küche so, dass sie, in nur einem einzigen Gericht, manchmal ausschweifend und irreführend erscheinen kann, aber dann immer wieder zum Kern der Sache zurückkehrt. Und der Kern der Sache ist stets ein Fundament mit bestmöglichen Rohstoffen und meisterhaftem Küchenhandwerk. Die dabei entstehenden vielschichtigen Emotionen – von Vorfreude über Skepsis bis zu Erleichterung und Euphorie – sind es, die Gagnaires Küche so faszinierend machen.

Und um noch einen weiteren Vergleich aus den bildenden Künsten heranzuziehen: Mich erinnert Gagnaires Küchenstil sehr an die Filme von David Lynch (und allein das ist ja schon sensationell). Wenn sich zum Beispiel in Werken wie Mulholland Drive oder Lost Highway reale und surreale Welten auf unerklärliche Weise überlagern (was man als Zuschauer partout nicht verstehen kann, diesbezüglich aber verzweifelte Anstrengungen unternimmt), oder wenn die Handkamera in Inland Empire einem Protagonisten eine Viertelstunde lang wackelnd durch die Dunkelheit folgt – musikalisch nur mit einem anstrengenden Brummton untermalt –, dann ist das ganz klar nicht jedermanns Sache. Aber dass es eine anspruchsvolle, mitunter geniale Sache ist, wird kein Cineast ernsthaft abstreiten wollen.

Doch so verkopft diese von mir empfundenen Parallelen auch erscheinen mögen, schwierig ist es keinesfalls, sich von Gagnaires Kreationen mitreißen zu lassen. Einer meiner Leser kommentierte im Vorfeld bereits treffend, es handele sich um „Kochkunst für Fortgeschrittene“. Und in der Tat ist es so, dass man sich von Gagnaires Küche nicht einfach berieseln lassen kann. Bei Gagnaire ist das Essen das Thema des Abends, und wer nicht bereit ist, sich damit auseinanderzusetzen, wird hier keine Freude haben. Für alle anderen ist es ein riesiger kulinarischer Rausch, exzessiv und maßlos, aber auch glücklich machend, intellektuell fordernd und höchst genussvoll – und genau aus diesen Gründen so genial und einzigartig.

Wer jedoch Maßlosigkeit und etwas Leidensfähigkeit keine Freude abgewinnen kann, der bleibe von Gagnaire fern. Und dann wären da noch die Preise. Die Gerichte, die ja eigentlich ganze Themenwelten sind, kosten jeweils (!) zwischen 142 und 265 Euro. (Schrieb ich neulich nicht noch, dass L’Ambroisie teuer sei?) Zu zweit ist die Rechnung schon bei moderater Speiseauswahl vierstellig. Es gibt zwar auch ein Menü (€ 295), aber wer sich auskennt, weiß, dass kein komprimiertes Menü in der Lage ist, die Virtuosität dieser Küche in ihrer Gänze einzufangen.

Wen all das Genannte reizt anstatt abschreckt, der tauche mit mir ab in die kulinarische Reise eines unvergesslichen Abends.

Bei einem Glas Rosé von Billecart-Salmon (€ 30) gibt es ein paar Knabbereien (Feuilletés). Das ist alles ganz in Ordnung, aber auch nicht mehr als ein paar nette Knabbereien zum Aperitif. Es ist fast so als würde Gagnaire seinen Essern noch etwas private Zeit gönnen, bevor er die volle Aufmerksamkeit verlangt. Das ist in Ordnung, denn ich bin ohnehin noch damit beschäftigt, das Ambiente auf mich wirken zu lassen, das in den letzten Jahren etwas modernisiert wurde. Ich finde es außerordentlich gemütlich.

Die Weinkarte ist für Pariser Verhältnisse erstaunlich fair. Sie schafft in Anbetracht der teuren Speisen die skurrile Situation, hervorragende Weine finden zu können, die teilweise günstiger sind als eine einzige Vorspeise. (Z. B. einen hervorragenden 2006 Meursault „Clos de la Barre“ von der Domaine Comte Lafon für € 155).

Die A-la-carte-Auswahl beinhaltet zehn Gerichte um jeweils ein bestimmtes Thema, zusätzlich gibt es zurzeit eine eigene Trüffel-Karte mit weiteren fünf Speisen. Ich wähle eine Vorspeise aus der normalen Karte, eine aus der Trüffelkarte und einen Hauptgang: eine üppige Auswahl, doch meine Neugier siegt über die Vernunft. Vernünftig ist hier ohnehin nichts.

Es geht wenig später los mit einigen Amuse-Bouches in Form von Thunfisch / „piment Guernica“ / rote Bete, dies nur mäßig, der Rest dann ausnahmslos hervorragend und mit einer sehr individuellen, schwer einem bestimmten Stil zuzuordnenden Charakteristik:

Erbsensuppe mit Bouchot- und Stab-Muscheln, Txistorra

Nordseegarnele / Sardinen-Rillettes / schwarze Radieschen

Apfelsaftgelee / Sorbet von Reine-des-Reinettes-Apfel / Milch-Granité

„Salade Félicia“

Dann wird die erste Vorspeise serviert. Um mich allen Herausforderungen zu stellen, wählte ich absichtlich eine, die mir zunächst am unzugänglichsten erschien, nämlich Seeigel/Kaviar (Oursin-Caviar, € 169). Das Gericht besteht aus sechs Tellern.

Bereits die Spannung, von jedem einzelnen zu probieren und dann zu kombinieren, erfüllt mich mit Begeisterung und Vorfreude. Ich taste mich voran und tauche wenig später ab in einen Meeresspaziergang, den ich niemals vergessen werde. Ich fand dort Gischt, tiefes Blau, Stille, Japan, leuchtende Tiefseewesen; Spaziergänge am Hafen, Salz auf der Haut, Sonne, und Sommerregen im Meer. Ein Gericht, das den Herzschlag erhöht und Geräusche verstummen lässt, Bilder hervorruft und Emotionen weckt. Gigantisch.

Vorspeise Nummer zwei, aus der Trüffelkarte, ist Vert d’Hiver („Wintergrün“, € 215 [sic!]). Vier Teller – und riesige Abschnitte der besten schwarzen Trüffeln, die ich je gekostet habe. Die Stücke sind teilweise so dick, dass man in sie hineinbeißen kann – eine völlig neue Art, diesen faszinierenden Edelpilz wahrzunehmen. Er schmeckt überhaupt nicht aufdringlich, sondern wie eine Mischung aus rohem Champignon und Grand-Cru-Schokolade …

Die Gerichte, die der Trüffel verziert, ranken um folgende Zutaten:

Grüner Spargel aus Mallemort / Lauch / Wirsing in einem Pot-au-feu mit Rindfleisch (gîte et paleron de bœuf)

„Glace Verte“: Feldsalat / Granny Smith / Zuckererbse

Caillette Richerenches (Labmagen?) / Feldsalat

Pistanzienbrot / Puntarelle

Dieses Gericht ist ein Ausflug in eine Waldgegend an einem nasskalten, feuchten Tag im Spätherbst. Das klingt ungemütlich? Nein, denn das Gericht beinhaltet auch die Rückkehr an einen Ort, um sich aufzuwärmen, vielleicht an einem Kaminfeuer mit knisterndem Holz … Es sind solche, mitunter überraschenden Assoziationen und Bilder, die Gagnaire mit seinen Gerichten hervorrufen kann und die jedem Esser ein völlig individuelles Erleben des Essens ermöglichen.

Die Bedeutung, wie gut ein einzelner Teller ist, wird bei Gagnaire zur Nebensache. Jedes Gericht ist eine kulinarische Reise mit phänomenalen Rohstoffen und Küchenhandwerk in Perfektion. Das finale Zusammenfügen der Teller zu einem Gesamterlebnis erfolgt bei jedem Esser auf seine eigene Art – ein Konzept, welches höchst individuelle Erlebnisse schafft. Etwas Vergleichbares habe ich bisher nur mit dem berühmten Gargouillou von Michel und Sébastien Bras erlebt.

Der Hauptgang ist ein weiterer Höhepunkt und etwas weniger komplex. Es ist, als fänden nach einem stark improvisierten Abschnitt eines Jazz-Stücks Rhythmus und Melodie wieder zusammen …

Die Rede ist von Kalb (Le Veau, € 166), genauer gesagt eine côte de veau du Limousin, parfümiert mit Curry und Kümmel, deglaciert mit Absinth. Als die Spirituose über das Fleisch gegossen wird, ersetzt ein ätherischer Nebel die Atemluft um mich herum; es duftet nach Anis und Wermut, nach Butter, Zwiebel und Röstaromen.

Kaum hat sich der betörende Duft gelegt, werden die Teller aufgetischt. Es gibt das Kalb, tranchiert und mit einer grandiosen Sauce überglänzt. Darauf thront eine eingemachte Schalotte, darunter (nicht im Bild zu sehen), ein Risotto von Carnaroli-Reis mit Raddichio. Auf einem weiteren Teller gibt es perfekt gebratenes Bries mit Kapernmarmelade, schwarzen Oliven, Orange und Angustura.

Dann noch ein knusprig gebackenes Ohr (!) und, als herrlich erfrischender Kontrast zu allem, ein Schälchen mit einer kühlen Zubereitung aus Büffelmozzarella und Erdbeerbaumhonig. Eine der allerbesten Kreationen um das Thema Kalbfleisch, die ich je probiert habe. Ein Hochgenuss.

Natürlich kann ich ein Dessert nicht auslassen. Viel zu verlockend ist die mit Agrumes/Réglisse (Zitrusfrüchte/Lakritz, € 44) betitelte Kreation, welche verschiedenste Zitrusfrüchte thematisiert. Es gibt eine Velouté von Clementinen „de Monsieur Bachès“; ein „Crystal de vent Yuzu“ mit einer Marmelade von Zitronatzitrone; eine „gelierte Infusion von Bergamotte“ mit grüner Zitrone und Kalamansi; ein cremiges Eis von Amarelli-Lakritz, dazu Panna cotta von Kokosnussmilch mit Mohn.

Das war’s. Hunderte Zutaten, Hunderte Aromen und Hunderte von Empfindungen klingen langsam ab, aber verschwinden nicht. Ich höre das Stück von Pierre Gagnaire noch immer. Es hat einen kulinarischen Tinnitus hinterlassen, den ich ganz und gar nicht loswerden möchte.

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: Pierre Gagnaire (→ Website)
Chef de Cuisine: Pierre Gagnaire
Ort: Paris, Frankreich
Datum dieses Besuchs: 20.02.2015
Guide Michelin (F 2015): ***
Meine Bewertung dieses Essens 10 (Was bedeutet das?)