Nobelhart & Schmutzig – Deutschland taut auf

Als ich Billy Wagner zum ersten Mal kennen lernte, war das auf einer Feier meines Freundes Hendrik Thoma. Zwei leidenschaftliche Weinfreaks – pardon, Sommeliers – auf einem Haufen, das konnte nur gut gehen. Viel später dann, nämlich im letzten Jahr, erfuhr ich von Billys Vorhaben, ein eigenes Restaurant in Berlin eröffnen zu wollen. Unter dem Titel Nobelhart & Schmutzig wurden zunächst einige Testessen im privaten Rahmen veranstaltet, deren rare Plätze weggingen wie geschnitten Brot.

Aber das war auch abzusehen, wenn das „Enfant Terrible der Berliner Weinszene“ (GaultMillau) in Privatwohnungen exklusive Essen veranstaltet, bei denen im Hintergrund Tom Waits und The xx von einem Plattenspieler läuft.

Hip? Sicher. Zu hip? Mitnichten, wie ich es bei einem dieser Essen im Juni letzten Jahres selbst feststellen konnte. Die Atmosphäre war gelöst, die Gäste allesamt essbegeistert, und was dort serviert wurde – ohne die Ausstattung einer professionellen Küche – war beachtenswert: modern, schnörkellos, etwas nordic, und definitiv das beste Menü, das ich in privaten Wänden je verkostet hatte.

Davon wünschte ich mir mehr und harrte fortan der Dinge, die da folgen würden.

Soviel zu Vorgeschichte. Heute stehe ich vor dem erst seit wenigen Wochen eröffneten „Speiselokal“ (so der bewusst heimatliche Untertitel) in der Berliner Friedrichstraße. Hinter dem Checkpoint Charlie wird die sonst eher für exklusive Ladengeschäfte bekannte Shoppingmeile abrupt etwas schmuddeliger, aber dadurch nicht weniger charismatisch. Berlin eben. Neben dem „Restaurant Athen“ befindet sich Billys neue Gaststätte, die im Vorbeigehen nur bei Eingeweihten für ein interessiertes Heben der Augenbrauen sorgen dürfte. Von außen sieht das unscheinbare Lokal eher aus wie eine Vereinsgaststätte mit Kegelbahn.

Man klingelt und wird eingelassen, und auch im Eingangsbereich sieht man noch nicht, was einen gleich erwartet. Erst beim Abbiegen in den Speisesaal offenbart sich der Schauplatz der kommenden Stunden. Ich staune nicht schlecht, als sich mir eine offene Küche mit einem großen, u-förmigen Tresen auftut. Die punktweise Beleuchtung ist warm und gemütlich, die Lautstärke gedämpft, aber lebhaft, Köche servieren den Gästen Teller und Saucen, und irgendwo ist auch Billy in seinem Element: immer mit einer Flasche, einem Glas oder eine Karaffe hantierend. Ich werde an einem der Hochstühle platziert und lasse meine Blicke schweifen. Was für ein gelungenes Ambiente! Billy schenkt ein Glas Crémant de Loire ein, und ich fühle mich genau in diesem Moment am richtigen Ort.

Es gibt ein Menü (€ 80) und keinerlei Klärungsbedarf. Ich mag diese Art der Bewirtung sehr, bei der man einkehrt, Platz nimmt und sich dann um nichts mehr kümmern muss. Die Weinauswahl hätte ich natürlich auch voll und ganz in Billys Hände legen können, doch zunächst weckt in der sehr guten Weinkarte ein weißer 1991 Viña Tondonia (€ 130) mein Interesse.

Ohne viel Brimborium beginnt das Menü. Es beginnt auch genauso, wie es im Menü steht, und diese Feststellung ist gar nicht so trivial wie sie scheint. Der zwanghafte, überdeutsche Wunsch nach einem Extra, nach etwas „außerhalb der Karte“, wird hiermit schon im Keim erstickt. Es ist das drin, was draufsteht. Ich habe überhaupt nichts gegen Amuse-Bouches oder ähnliches, aber es gibt eben für alles einen Rahmen.

Die erste Speise, die man fast beiläufig zwischen seine Gläser und Menükarten zugeschoben bekommt, sind junge Bärlauchwurzeln. Man knabbert die (zum Stiel hin leicht gegarten) Wurzeln einfach weg; eine Steinklee-Mayonnaise passt dazu gut.

Es folgen Zuckerwurzeln mit Rosenessig und Traubenkernöl, ein weiterer interessanter Snack, der eine leichte Süße, Säure und die floraren Aromen von Rose miteinander vereint. Minimalistisch gut!

Weiter geht’s mit einer makellos gegarten Müritz-Forelle (leicht warm, butterzart) mit Kartoffel und Chicoree; angegossen wird Joghurtmolke, die einen säuerlich-bitteren Kontrast beisteuert. Sehr gut!

Der nächste Gang ist etwas komplexer: Schwarzwurzel / Haselnüsse / schwarzer Johannisbeerstrauch. Auch hier sind die allesamt aromatischen Zutaten beispielhaft zubereitet, und das Textur- und Aromenspiel ist anspruchsvoll und köstlich zugleich. Einer der besten Gänge des Abends, …

… wenngleich das Niveau nicht bedeutsam sinkt. Topinambur / Blutwurst / Petersilie lässt mich weiter staunen, was hier in Berlin gerade so passiert, ebenso wie Sellerie / Lauch / Lammfett, …

… eine besonders gelungene Kreation mit einem intensiven Selleiersud, der durch die Zugabe von Lammfett nicht nur schöne Augen bekommt, sondern gehaltvoll und süffig zugleich ist. Das Grün vom Lauch sorgt dabei für einen frischen Gegenpol.

Dier Stimmung hier ist wunderbar, die Weine sind so gut wie das Essen, und der Service ist leger, unkompliziert und professionell. Ich bin völlig sprachlos von diesem Konzept, das ich so noch nicht in Deutschland erwartet hätte. Endlich traut sich jemand!

Wer jetzt noch nicht satt ist (und das dürfte man durchaus sein, denn auch Brot und Butter sind gefährlich gut), der genießt noch ein Stück zarten, sich ganz leicht vom Knochen lösenden Lammnacken mit Zwiebel und Kamille.

Leidglich die Desserts – Holunder / Joghurt / Blütenpollen und Elstar-Apfel / Dark Strong Ale / Hafer – sind nicht so mein Fall. Obwohl die Kreationen spannend sind und auch handwerklich nichts vermissen lassen, entspricht der Fokus auf Bitterstoffe und Adstringenz nicht ganz meinen Präferenzen, aber objektiv ist da nichts dran auszusetzen.

Später gibt es noch Kaffee. Das ist ein Akt für sich, und er involviert eine Digitalwaage, verschiedene Gefäße und eine Menge Leidenschaft. Heraus kommt ein Elixier, das an Tee erinnert, ganz fein und aromatisch (und mit einer gehörigen Menge Koffein). Wer das affektiert findet – ich höre schon die Unkenrufe –, der kann ja weiter an seinem Alfredo-Espresso nippen.

„Brutal lokal“ nennt Billy Wagner sein Konzept, aber das kann leicht missverstanden werden. Die Küche im Nobelhart & Schmutzig ist herrlich undogmatisch, und ironischerweise auch völlig undeutsch. „Brutal“ und „schmutzig“ ist das ganz sicher nur für verklemmte Liebhaber deutscher Gastro-Spießigkeit.

Billy Wagners Speiselokal ist einer dieser raren Orte, die ich in Deutschland so lange Zeit schmerzlich vermisst habe. Doch sie kommen allmählich, die modernen Konzepte. Sie kommen nach Berlin, sie kommen nach Hamburg, und sie werden Lob ernten und auf Ablehnung stoßen. Zum ersten Mal verspüre ich Aufbruchsstimmung. Das Nobelhart & Schmutzig ist ein wichtiger Meilenstein in diesem Wandel, der spürbar, spannend und wichtig ist. Die eisige Gastronomielandschaft Deutschlands taut langsam auf. Ich kann es kaum abwarten, in dem Tauwasser weiter an Fahrt aufzunehmen.

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: Nobelhart & Schmutzig (→ Website)
Chef de Cuisine: Michael Schäfer
Ort: Berlin, Deutschland
Datum dieses Besuchs: 28.03.2015
Guide Michelin: (noch nicht bewertet)
Meine Bewertung dieses Essens 7 (Was bedeutet das?)