Bo Innovation – wo ist der Dämon?

Alvin King Lon Leung (梁經倫), britisch-kanadischer Küchenchef, der sich selbst „The Demon Chef“ und seinen Küchenstil „X-treme Chinese“ nennt, führt in Hongkong das seit 2014 dreifach besternte Restaurant Bo Innovation.

Das muss man erst mal sacken lassen.

Wer? Was? Kanadisch? Dämon? Extrem chinesisch? Bo wie? – Tja, das weiß ich alles auch nicht so genau, aber nach einem verwirrenden Marsch durch Hongkongs Tunnelsystem für Fußgänger, welches – klimatisiert – durch Einkaufszentren, Hotels, über Rolltreppen, durch weitere Einkaufszentren und weitere Hotels und über weitere Rolltreppen sowie – unklimatisiert und tropisch schwül – durch Röhren oberhalb der Straße führt, stehe ich irgendwann endlich vor einem Fahrstuhl, der mich zu Bo Innovation bringen soll.

Mein Hemd klebt an mir, ich brauche jetzt eine Klimaanlange, eiskalten Champagner und am besten noch hervorragendes Essen. Ein paar Meter vor dem Eingang eines Drei-Sterne-Restaurants sind das keine allzu hypothetischen Wünsche. Der Champagner ist sicher, die Klimaanlage auch … bleibt nur noch das Essen.

Aus dem Fahrstuhl schreite ich zunächst hinaus auf eine Art Terrasse zwischen Hochhäusern. Dort stehen etwas karg eingedeckte Tische mit Glasplatte. Zwischen den Tischen stehen Heizpilze, die bei dreißig Grad feuchtwarmer Luft vermutlich eher ein Hilfsmittel für kühlere Zeiten sind. Vielleicht werden sie aber auch – in Hinblick auf die Techniken der Molekularküche, die hier angeblich zum Einsatz kommen – nicht mit Propangas, sondern mit flüssigem Stickstoff befüllt, was wiederum Sinn ergäbe.

Zufrieden mit meiner Schlussfolgerung nähere ich mich dem Eingang des Restaurants, der auf einer Seite mit einem schwarzweißen Abbild des etwas ungehalten durch seine Sonnenbrille blickenden „Dämonenchefs“ dekoriert ist.

Ich bin mir noch nicht sicher, was mir das alles sagen soll, und kehre einfach mal ein. Sehr höflich werde ich empfangen und am Tresen platziert, dem Chef’s Table, den ich vorher per E-Mail angefragt hatte. Das war kein Problem, es folgte in der Bestätigung lediglich der Hinweis, dass am Chef’s Table auch nur das Chefs-Table-Menü serviert wird. Irgendwie logisch.

Vor mir ist die Küche, oder zumindest ein Teil davon. Der andere Teil befindet sich hinter einer Tür weiter hinten, zwischen der ständig Köche hin und hergehen. Ein Mann mit Sonnenbrille, Tätowierungen, Piercings und rotem Zopf zu schwarzem Haar hantiert auch tatsächlich bereits (fahr)lässig mit einem riesigen Kanister flüssigen Stickstoffs. Es ist übrigens nicht der Küchenchef, der heute leider nicht anwesend ist.

Das Chefs-Table-Menü liegt schon neben mir. Nicht weniger als 16 Gerichte sind dort gelistet, allerdings kein Preis. Aber was soll mich nach Pierre Gagnaire noch beeindrucken? (Immerhin: das Menü steht später mit stolzen 288 Euro auf der Rechnung; die Weinbegleitung setzt mich um weitere 133 zurück.)

Ein erster Snack wird serviert, es ist eine dünne Waffel in Form einer Art Eierkarton; in den Hohlräumen befindet sich etwas mit Frühlingszwiebel. Ganz keck.

Es geht dann auch schon los mit dem Menü. Bei 16 Gängen ist keine Zeit zu verlieren. In Anbetracht der Vielfalt der Kreationen werde ich meine Eindrücke teilweise unverändert aus meinen Notizen wiedergeben.

Air / century egg, pickled young ginger – Rosenduft; etwas Ingwer; tolle Aromen.

Caviar / smoked quail egg, crispy taro nest – man schmeckt fast nur Frittiertes.

Oyster / tongue, sichuan green sauce – Sehr gut! Meer und Kräuter; ätherische Aromen in der Sauce.

Ich möchte nicht unerwähnt lassen, dass der jeweils mir servierende Koch zu jedem Gericht umfangreiche Erklärungen abgibt. Nahezu jedes Gericht hat einen Bezug zu irgendetwas Chinesischem. Das kann man nicht alles behalten – und für den Geschmack ist es unerheblich –, aber die Ideen sind bemerkenswert und das Konzept schlüssig. So langsam kehren in das Menü auch chinesische Aromen ein, womit es schlagartig besser wird.

Bamboo / foie gras, “chu yeh ching” miso, pickled Indian lettuce stem – Zu einem Spieß mit gebratenem Bambus und Foie Gras wird etwas Bambusschnaps angegossen. Hervorragend gebratene, cremige Foie Gras, ätherische Noten vom Schnaps; pikante Frische vom Radieschen.

Umami / toro, har mi oil, mixed noodles – Luftgetrockneten Shrimps wurde ihr beißendes Ammoniakaroma durch langes Kochen entzogen und daraus ein Öl gewonnen. Mit diesem pikanten Öl wird ein Würfel buttrig-zarten, kurz angebratenen Thunfischbauchs beträufelt, dazu gibt es nicht näher beschriebene „Nudeln“ und ein schwarzes Pulver. Lässt man die diversen Anekdoten außer Acht, die mir hierzu erläutert werden – und konzentriert sich nur auf den Teller –, ist diese Kreation allenfalls wegen der hervorragenden Thunfischqualität einen Applaus wert.

Baby Food / chili crab – Warum diese Kreation in einem Glas für Babynahrung serviert wird, weiß ich nicht, aber der mit diversen chinesischen Gewürzen zubereitete Taschenkrebs ist wunderbar. Würzig, exotisch, scharf, kühl, frisch, und ganz sicher nichts für Babys!

Molecular / cha siu bao – Diese Petitesse repräsentiert das Innere eines Dim Sum (barbecue pork bun), das hier mit Geliermitteln in Form gehalten wird. Herzhaft, würzig, gut gemacht.

Tomato – Eine unscheinbare Variation zum Thema Tomate fördert erstaunlich Schmackhaftes zutage: ganz rechts eine in süßem Essig („pat chun“) gekochte Tomate; daneben eine Kugel aus Ingwer und gelber Tomate, obenauf fermentierte chinesische Oliven („lam kok“) sowie, ganz links, ein „Tomaten-Marshmallow“ mit Frühlingszwiebelöl. Trotz vieler Verfremdungen ist das Tomatenaroma stets unverfälscht. Sehr apart!

Black Truffle / „chan dan chee“ – Ein lauwarmes, saftiges Schinken-Käse-Sandwich mit Trüffel, gebettet auf einer Art Trüffelpulver, bietet größtmögliche Befriedigung für den Heißhunger auf Herzhaftes. Fast so gut wie Ferran Adriàs „brioche frito Shangai“ aus dem El Bulli-Menü 2008.

Red Mullet Eine französische Rotbarbe ist hier perfekt gebraten und kommt mit knusprigen Schuppen (das ist inzwischen nicht mehr so ganz mein Fall), dazu gibt es fermentierten (schwarzen) Knoblauch als Creme, der eine würzige Süße beisteuert, Yuzu-Abschnitte für blumige Zitrusaromen und ein pikante Pfefferschote, bestreut mit Pulver von jodigem Rogen, ähnlich wie Bottarga. Ein aromatisch kurzweiliges und durchdachtes Gericht, das allerdings etwas grob umgesetzt ist.

Blue Lobster – Das ist jetzt mal wirklich großartig. In einer „chili shaohsing consommée“ mit über Holzkohle gegrilltem Mais befinden sich – in Form gehalten durch eine Dum-Sum-Hülle mit Lauch – Stücke von perfekt gegartem Hummer, darauf eine Sichuan-Hollandaise. Bitter, scharf, süß, herausragend!

Mao Tai – Herausragend ist auch dieser kleiner refresher zwischendurch, eine cremige Mixtur aus einem hochprozentigen Hirse-/Weizenschnaps, Zitronengras und Passionsfrucht.

Abalone / „Bo“ chicken rice – Auf einer Art in intensivem Hühnerfond gekochten Risotto findet man gekochte Abalone und Stabmuscheln. Ein Gericht von italienisch-schlichtem Charme mit einem betörenden Texturenspiel. Ganz große Klasse.

Saga-Gyu – Der mir bis dato unbekannte Name dieser Wagyu-Rasse sorgt für Fleisch mit sehr hohem Fettanteil (Grad A3). Hier ist es – einem Straßen-Snack nachempfunden – dünn aufgeschnitten und in einer Blechschale auf Papier serviert. Ebenfalls in dem Schälchen befinden sich kleine gedämpfte Reisnudelrollen („cheung fun“), die in Sojasauce und anderen umami schmeckenden Tinkturen baden. Obenauf sorgen feingehobelte Trüffel für einen Extrakick. Die einfache Darreichung mit Holzspießen erhöht dabei den Genussfaktor. Exzellent, aber heftig fettig.

Ein paar Worte zwischendurch zur Weinbegleitung: Diese bietet nur sehr mäßigen Genuss. Abgesehen von einem einfachen, aber sauberen, feinfruchtigen Riesling Kabinett vom Weingut Diel (Sonderedition „Demon Riesling“) und, noch besser, einem Pinot Noir von Felton Road aus Neuseeland sowie einem ebenfalls recht guten Bordeaux-Blend „Élu“ aus dem Napa Valley, gibt es hier so einiges an Plörre zu erdulden (die Gläser stelle ich nach einem Probeschluck dann einfach immer zur Seite), zum Beispiel der jetzt eingeschenkte „Lake Breeze Moscato“, sicherlich ein Fest für „Hugo“ trinkende Mittdreißiger, aber eine Beleidigung für jeden Weinliebhaber. Dem Sommelier wäre übrigens auch dringend eine umfängliche Restauration seiner Zähne anzuraten. Das ist zwar nicht schön zu erwähnen, aber ebenso wenig schön, sich das in einem Restaurant ansehen zu müssen. Vielleicht könnte der Küchenchef ihm die Behandlung finanzieren; das fände ich eine faire Geste.

Zu dem von mir also bereits zur Seite gestellten Fusel gibt es ein sehr exzellentes erstes Dessert, Almond, eine Art Mandelpudding in einem Jus von braunem Zucker („okinawa black sugar“) und Zimt. Ziemlich süß, aber auch ziemlich gut!

Dann folgt noch Coconut, mit, unter anderem, Palmzucker, Kokosmilch, Schokolade, Piña Colada, Kirsche und Pandan. Das ist mir etwas zu verspielt und ohne Aussage, aber es ist durchaus sehr genießbar.

Es folgen noch „acht Schätze“, eight treasures, in Form von verschiedenen Petit-Fours, sowie Bonbons zum Mitnehmen. Nichts davon haut mich von meinem Tresenhocker.

Das dreistündige Menü ist damit am Ende, und ich verlasse das Restaurant etwas zwiegespalten. Die kulinarische Darbietung war durchaus interessant und in großen Teilen außergewöhnlich – vor allem wegen des Zusammenspiels aus westlichen Produkten und chinesischen Traditionen und Aromen –, aber ich habe weder „X-tremes“ noch Dämonisches gesehen. Bis auf den Moscato. Der kam wirklich aus der Hölle.

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: Bo Innovation (→ Website)
Chef de Cuisine: Alvin King Lon Leung
Ort: Hongkong, China
Datum dieses Besuchs: 04.04.2015
Guide Michelin (HK/MAC 2015): ***
Meine Bewertung dieses Essens 8 (Was bedeutet das?)