Alléno Paris – nouvelle nouvelle cuisine

Das Restaurant im Stadtpalais Ledoyen an den Champs-Elysées hat eine bewegte gastronomische Vergangenheit, die bis ins 18. Jahrhundert zurückreicht. Im letzten Jahrzehnt prägte Christian Le Squer hier die Küche und erkochte drei Sterne; vergangenes Jahr übernahm Yannick Alléno dann das Ruder, der vorher im Le Meurice kochte, dort ebenfalls auf Drei-Sterne-Niveau. Schon dort hatte mich seine Küche begeistert, die mit einigen der makellosesten Zutaten brillierte, die ich je genießen konnte.

Die Zeit in seiner neuen Wirkstätte, die kürzlich in Alléno Paris umbenannt wurde, hat der charismatische Spitzenkoch nun offenbar dafür genutzt, um allen zu zeigen, dass die französische Spitzenküche auch in Zeiten von New Nordic Cuisine und Pop-up-Restaurants nur einen Platz verdient, nämlich den einen, obersten, auf dem Olymp des Schlaraffenlands. Und von hier oben sieht alles andere richtig klein aus.

Als ich heute Mittag hier eintrete, bin ich gespannt und frohen Mutes, da dieses Haus das einzige der aktuellen Pariser Drei-Sterne-Restaurants ist, in dem ich noch nicht gewesen bin. Die Wahl, hier einzukehren, fiel mir daher umso leichter.

Der Speisesaal mit riesiger Fensterfront wirkt wie ein Wintergarten aus einem vergangenen Jahrhundert. Während viele Gastronomen in Paris ihre Restaurants mit scheinbar unbegrenzten Ressourcen modernisieren, scheint hier die Zeit stillzustehen. Die Modernisierung findet auf dem Teller statt.

Eine elegante ältere Dame am Nachbartisch wirkt als würde sie schon seit Jahrzehnten hier einkehren, koche hier wer wolle, Hauptsache er koche so, dass es Madame genehm ist. Dass sie – in meiner Vorstellung – noch immer hierher zum Mittagessen kommt, werte ich als gutes Zeichen.

Ein Glas 2008 Puligny-Montrachet „Les Folatières“ von Vincent Girardin (€ 37) begleitet mein Stöbern in der Speisekarte und das Umherschweifen meines Blicks im sich allmählich füllenden Restaurant.

Die Speisekarte ist sehr interessant aufgebaut. Neben verschiedenen Menüs ist besonders der A-la-carte-Teil bemerkenswert, weil er nicht, wie in Frankreich sonst üblich, zwischen Vorspeisen, Fisch und Fleisch unterscheidet, sondern als erstes alle Hauptspeisen auflistet und dahinter dann so genannte Mises en bouche. Dieser Begriff bezeichnet hier irgendetwas zwischen Amuse-bouche und Vorspeise. Man kann also eine, zwei oder mehrere davon wählen, je nach Appetit. Damit kommt die Speisekarte genau der Art und Weise entgegen, mit der ich eigentlich am liebsten à la carte bestelle: flexibel, abwechslungsreich und vielfältig. In den meisten Restaurants ist ein A-la-carte-Teil so konzipiert, dass einen drei Gänge üblicherweise an die Sättigungsgrenze bringen.

Hier ist eine explorative Auswahl also ausdrücklich erwünscht. Das ist – nicht nur in einem Pariser Drei-Sterne-Restaurant – ein zeitgemäßes und intelligentes Novum.

Als ich Frédéric, dem sympathischen Restaurantleiter, schließlich meine Favoriten nenne, habe ich dennoch Sorge, dass meine Auswahl selbst für meinen sehr früh aufgestandenen, aus Hamburg angeflogenen und nicht gefrühstückten Magen zu umfangreich sein könnte. Doch nach einem souveränen „je m’occupe“ („ich kümmere mich darum“) seitens Frédérics, sind meine Sorgen verflogen. Es gibt in den Pariser Spitzenrestaurants übrigens so gut wie keinen steifen Service. Es gibt eleganten, formellen und professionellen Service, aber ich erlebe sämtliches Personal dabei immer charmant, humorvoll und locker, so wie hier.

Das Essen beginnt mit ein paar Einstimmungen. Die ersten drei sind subtil und fein dem Thema Salzigkeit gewidmet, ganz im Sinne klassischer Aperitifsnacks. Es gibt einen Macaron mit roter Bete und Alge mit ganz leichter Textur und einem geradezu japanischen Geschmacksbild; dann ein hauchdünnes Röllchen, das ganz unwiderstehlich leicht nach Speck und Steinpilzen schmeckt; und als drittes ein weiteres Röllchen mit einer salzig-pikanten Füllung mit Fisch (Zutaten nicht notiert). Das ist alles präzise ausgeführt, angenehm akzentuiert und sehr appetitanregend. Es gibt vieles, das spektakulärer aussieht, aber nur wenig, das besser schmeckt.

Es folgt eine Zubereitung mit Kürbis, gegart in einem Vanille-Fond, der die natürliche Süße des noch leicht bissfesten Gemüses unterstreicht, aber nicht dominiert. Als Kontrast dazu gibt es feingehackte Kürbis- und Sonnenblumenkerne sowie weitere, säuerliche, Komponenten. Ein himmlischer kleiner Teller und eine prachtvolle Produktpräsentation.

Der erste von mir gewählte Gang ist 18 Monate am Baum gereifte Avocado als „Millefeuille“ mit Sellerie und einer „Extraktion aus Kokos“, „Splitter von Chia-Samen“ (ein Salbeigewächs) und ein Gelee aus Daikon und Ponzu (€ 36). Die Avocado – ein ziemlich rarer Protagonist in der französischen Küche – weist einen betörenden Schmelz und perfekte, reife Aromen auf. Es ist zweifellos die beste Avocado, die ich je probiert habe. Feine Scheiben von Sellerie dazwischen bringen Biss, die Kernsplitter noch mehr Biss. Allein dieses Textur-Crescendo ist schon großartig. Dann die Aromen: sonnige Avocado trifft auf Kokosnuss und lässt einen gedanklich in tropische Breiten entfliehen, dazu dann ein passender, japanisch anmutender Akzent des Gelees. Das Gericht weist damit eine enge Verwandtschaft zu Sushi auf, sowohl texturell als auch aromatisch, und reißt mich hin und her zwischen den Welten. Ganz großartig. Ganz aufwühlend. Ich werde dieses Gericht niemals vergessen.

Im Übrigen: Allerweltszutaten wie Foie Gras oder Kaviar findet man hier gar nicht erst auf der Karte. Mit Produkten, die in Paris fast an jedem Baum wachsen, kann man hier niemanden beeindrucken. Der deutsche Standardfeinschmecker, der sich über komplexe Tellerkunstwerke freut, wird sich hier auf unsicherem Terrain wiederfinden. Zwei Happen Avocado für knapp vierzig Euro zu bestellen und das als eines der besten Gerichte seines Lebens abzuspeichern ist definitiv etwas für Fortgeschrittene.

Mehr davon!

Es folgt auf dem Fuße …

... und zwar in Form von Kaisergranaten nature“ mit Bittermandel-Mousse und einer „Boullion aus Tomate und Petersilienöl“ (€ 48). Auf dem kleinen tiefen Teller findet man Kaisergranat, der einfach, „ganz natürlich“ eben, in Wasser gekocht wurde und damit zunächst ungewohnt hell und trocken erscheint. Einen derartigen Purismus muss man sich erst einmal leisten können. Das geht nur mit den allerbesten Produkten. Aber da auch ein Alléno weiß, dass ein Kaisergranat allein noch kein vollkommenes Gericht abgibt, wird noch ein grünes Elixir angegossen. Dabei handelt es sich um eine konzentrierte, lauwarme Emulsion von Tomate und aus Petersilie gewonnenem Öl. Die Bitterstoffe der Petersilie, die Herzhaftigkeit von Tomate, verbunden durch eine magische, ölige Textur, ist so gut und gleichzeitig auch so neuartig, dass sie wie aus einer anderen Welt zu kommen scheint.

Was daran so neuartig ist, liegt an einer kleinen Revolution des Themas Saucen, einem der wichtigsten und aufwändigsten Bausteine der französischen Küche. Jahrhundertelang hat man dazu aus Knochen und Suppengemüsen Fonds eingekocht und diese dann zur Herstellung der eigentlichen Sauce genutzt. Doch Fonds selbst erlauben nur wenig Variation, was mitunter daran liegt, dass stets dieselben Zutaten verwendet und diese auch noch alle gleich behandelt werden, indem man sie stundenlang zusammen in einem Topf reduziert. Allénos Konzept berücksichtigt die Tatsache, dass jede Zutat ihren eigenen Garpunkt hat, ihre eigene Idealtemperatur usw., um aus ihr ein Maximum an unverfälschten Aromen zu extrahieren. Diese Extrakte, die unter anderem mithilfe eines Verfahrens namens Kryoextraktion gewonnen werden, sind dann im Prinzip einzelne Fonds, die später, wie ein Parfüm, zum Endprodukt, also der Sauce, weiterverarbeitet werden. Kryoextraktion klingt nach Robotern, die die Weltherrschaft an sich reißen, beschreibt aber nichts anderes als den Vorgang, der in der freien Natur dafür sorgt, dass Eiswein entsteht. Wer sich detaillierter darüber informieren will, der lese am besten Allénos neues Buch „Sauces“, das ich im Restaurant gleich erworben habe.

Das hier ist ein faszinierendes Beispiel, wie man – an allen Schäumchen, Schwämmen und Zusatzstoffen vorbei – gezielt physikalisches Wissen dazu einsetzt, um Teilbereiche der Kulinarik zu modernisieren.

Doch alles entscheidend ist: dieses Gericht ist qualitativ, handwerklich und geschmacklich grandios!

Mein nächster Gang hört dann auf den lyrischen Titel „unwahrscheinliche Suppe von feinen Fischen“ (soupe improbable de poissons fins, € 58) und bezieht sich vermutlich auf die Tatsache, dass das, was man zuerst serviert bekommt, gar keine Suppe vermuten lässt. Allein der tiefe Teller gibt erste Hinweise darauf.

In dem Teller befinden sich zunächst marinierteSardinen mit einer Dulce-Mayonnise (dulce ist eine Algenart namens Lappentang). Auf diesem cremigen Arrangement werden dann sechs kleine Streifen mit Zitrone beträufelten und auf Olivenöleis kühl gehaltenen Thunfischs angerichtet. Man soll nicht alles davon essen. Ein kleiner Rest soll als Basis für die Suppe bleiben, die später angegossen wird. Eine charmante Idee, die Alléno von einer kürzlich unternommenen Reise nach Italien mitgebracht hat.

Ich beginne zu essen und schmecke gehaltvollen, cremigen Thunfisch in japanischer Qualität, dessen butterweiche Textur durch die leicht jodige Mayonnaise noch besser zur Geltung kommt. Darunter dann die Sardine, salzig und kraftvoll. Ich muss die Augen schließen, um die Brandung zu hören, die mir gerade die Gischt ins Gesicht sprüht. Absolut aufwühlend.

Ein ganz Bisschen konnte ich sogar übriglassen.

An den Tisch wird jetzt ein milchiges Süppchen gebracht, das aus Scholle zubereitet wurde, dazu gibt es „Salz von der Schollenhaut“ sowie kleine Cappelletti mit Butter. Das Süppchen wird behutsam mit einem Matcha-Besen aufgerührt, bevor es in den Teller gegossen wird, in dem ja noch ein kleiner Rest Sardinen mit der Mayonnaise liegt und noch etwas Salzigkeit beisteuert. Die Suppe dazu ist ebenso grandios. Eine Textur zwischen flüssig und cremig, dazu Aromen von gegrillter Scholle und etwas Biss durch perfekt zubereitete Ravioli.

Die Brandung wird ruhiger, das getrocknete Salz im Gesicht brennt in der Abendsonne, und man freut sich auf den Abend. Kennen Sie diesen Moment? Ich bin mittendrin. Als ich die Augen aufmache, ist der Teller leer, und ich blicke in den umliegenden Garten.

Die Weinbegleitung, zu der ich mich entschlossen habe, ist auch sehr gut. Auf meinem Tisch stehen inzwischen mehrere Gläser, die ich parallel verkoste. Schön ausgewählte Tropfen aus dem Burgund, von der Rhône und der Loire, und von außen scheinen die Pracht und die Sonne dieser einmaligen Stadt hinein. Was für ein Mittagessen!

Die Tische sind inzwischen auch fast alle besetzt. Durch die riesigen Tischabstände fühlt sich das jedoch angenehm entzerrt an. Es sind fast nur Asiaten im Restaurant – die neue Generation globetrottender Foodies.

Meine Reise fährt fort mit einem Filet von der Rotbarbe „à la royale“ mit etwas Knusprigem von Blutwurst (boudin) und Tintenfischtinte (€ 48). Die Sauce selbst ist ein intensives Extrakt aus schwarzen Oliven, das ganz wundervoll zu dem perfekt gebratenen Fisch passt. Rotbarbe kenne ich viel aus Spanien, dort fast immer ziemlich tranig und weich; hier ist die Haut knusprig (aber nicht schuppig), das Fleisch bissfest und strahlend weiß. Ein weiteres begeisterndes Gericht, das nebenbei meinen „Referenzpegel“ für Rotbarbe massiv nach oben korrigiert hat.

Noch immer bin ich bei meiner Vorspeisenauswahl. Mit Spannung erwarte ich die nächste, die ich allein aufgrund ihrer Zutat gewählt habe: Kalbszunge in der Salzkruste (€ 38). Nicht etwa, weil ich ein besonderes Faible dafür hätte. Im Gegenteil, ich habe bisher nicht häufig Kalbszunge probiert. Wenn man sie jedoch schon in einer Salzkruste gart und dazu einen frech-frischen Kräutersalat mit Kapern und appetitanregender Säure serviert, dann ist das einen Versuch wert.

Und tatsächlich: die riesige Zunge, von der nur eine, aber eine mächtige, Tranche serviert wird, ist ausgezeichnet. Das Fleisch ist leicht faserig, aber fest, schmeckt recht mild und sorgt am Gaumen für ein tolles Texturspiel. Das traditionelle Gericht sieht aus wie auf dem Teller eines guten Bistros, ist aber kulinarische Perfektion. Ein tolles Erlebnis!

Als Abschluss des Gerichts gibt es ein Granité aus Zwiebeln (!) und Himbeeren, dazu hauchdünne Chips, die nach Artischocke und Algen schmecken. Das klingt genauso merkwürdig wie es unspektakulär aussieht, aber es ist nicht weniger als sensationell. Die Zwiebel ist vermutlich genau in dem gefrorenen Zustand, in dem man ihre Essenz jetzt auch für einen Fond extrahieren könnte. Und am Gaumen geschieht dann genau das: das Eis verwandelt sich zu intensiven, süßlichen Zwiebelaromen; die Himbeere setzt dazu ungewöhnliche, aber sehr passende aromatische Spitzen. Die Chips sind ebenfalls eine Wucht und katapultieren einen wieder in eine jodige, mediterrane Welt. Großartig!

Meine Lust, diese Reise noch lange nicht zu beenden, überwiegt jedes Sättigungsgefühl. Daher geht es jetzt weiter mit dem ersten von zwei Hauptspeisen, einem Filet vom Wolfsbarsch mit Corail-Béarnaise, dazu roh aufgeschnittene Steinpilze mit Fleur de Sel (€ 105). Der Fisch ist von makelloser Qualität und perfekt gegart. Die Béarnaise ist geschmacklich auch ans Meer angelehnt, während die Steinpilze eine ätherische, „waldige“ Frische beisteuern. Ein prachtvoller Teller für Produktfanatiker.

Der zweite Hauptgang ist Kalbsbries, gegart in fermentierten Kirschbaumblättern, dazu ein „Jus von Frühlingszwiebeln mit Tonkabohnen und Lakritz“ (€ 98). Heiß, cremig, knusprig, golden, röstig, zart, buttrig, großartig! Zweifellos das beste zubereitete Kalbsbries, das ich je probiert habe.

Ich bin aufgewühlt, satt und glücklich. Meine Bitte, von Desserts abzusehen (es geht heute Abend noch weiter), wird mit bestem Gewissen ignoriert. Noch immer in Erkundungslaune, gebe ich mich den süßen Verführungen aus der Patisserie hin.

Es gibt zunächst ein Pré-Dessert mir mehreren einzelnen Komponenten, unter anderem etwas mit pikanter Birne und Tonkabohne. Ausgezeichnet!

Es folgt eine luftig-flüssige Creme mit Schokolade, die wegen ihrer Schaumigkeit nicht so ganz mein Fall ist; dann noch eine Crème-brûlée-Tarte, die wiederum ganz und gar mein Fall ist.


Das Essen war in jeder Hinsicht aufwühlend. Yannick Alléno weist den Weg in eine neue französische Spitzenküche. Diese ist offen für Eindrücke aus anderen Ländern, sie ist offen für neue Zubereitungsarten, und sie hat sich einer neuen, jungen Generation von Essbegeisterten zugewandt, die schon alles gesehen haben. Alles, bis auf das hier. Doch überall dort, wo Alléno Neues bringt, bleibt die Küche dennoch so französisch wie sie nur sein könnte: mit faszinierenden Produkten von kompromissloser Qualität, präzisem Handwerk und ganz und gar dem Hochgenuss gewidmeten Speisen. Alléno gelingt damit ein unglaublicher Schritt in Richtung Zukunft der französischen Spitzenküche. Tatsächlich ist das bereits die Zukunft. Ich saß mittendrin.

Als ich mich wieder bewegen kann, mache ich einen ausgiebigen Spaziergang. Ich muss jetzt schnell eine Zeitmaschine finden, die mich wieder in die Gegenwart bringt. Sonst hätte ich nämlich die ganzen Essen verpasst, die an diesem Wochenende noch folgen werden. Und das darf nicht sein, unter keinen Umständen!

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: Alléno Paris (→ Website)
Chef de Cuisine: Yannick Alléno
Ort: Paris, Frankreich
Datum dieses Besuchs: 09.10.2015
Guide Michelin (F/MC 2015): ***
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