Epicure – ja zum Hasen

Das Epicure im Hotel Le Bristol in Paris hat vor drei Jahren – als ich zum ersten Mal dort war – maßgeblich mein Empfinden für Genuss geeicht. Unvergesslich bleiben für mich die „Krause Glucke“ mit Vin-jaune-Sauce, ein köstlicher Geniestreich von reduzierter Produktküche und meisterhaftem Handwerk, sowie die souverän so angekündigten und auch tatsächlich besten Macarons von Paris. Unter anderem.

An diesem sonnigen Sonntagmittag kehre ich endlich zurück an diesen Ort, dem ich einen anderen Eindruck als meinen ersten nur schwer verzeihen könnte.

Mein Appetit ist idealerweise auch schon sehr ausgeprägt, da mein Frühstück nur aus einem guten Filterkaffee bestand.

Wer zum ersten Mal hier ist und noch nicht weiß, was einen erwartet, wird sich durch den klassischen Luxus, der diesen prachtvollen Saal fest im Griff hat, vielleicht zunächst verunsichert fühlen. Doch das helle Interieur mit Blick auf den weitläufigen Innenhof, und vor allem das charmante, gewitzte Personal ohne Allüren, dafür aber mit viel Humor, wischen jede Schwerfälligkeit davon. Und während viele andere Restaurateure ihre Gastronomie-Tempel inzwischen in nichtssagende Design-Ausstellungen verwandelt haben, hat dieser elegante Saal noch wirklich Klasse.

Ich hatte vorher über die Website des Restaurants schon länger in der Speisekarte gestöbert und versucht, mich an den Gerichten sattzusehen: Froschschenkel mit Tandoori und Petersilie; Langoustines Royales mit Yuzu; Steinpilze aus Corrèze; Bar de ligne in Salzkruste; Kalbsbries … Das hätte den Geldbeutel arg geschont, aber es war erfolglos. Stattdessen wurde ich nur noch hungriger und noch verzweifelter, mich entscheiden zu müssen. Eine dekadente Fressorgie müsste man hier eigentlich feiern und alle Gerichte auf einmal bestellen. Sollte eine appetitanregende Speisekarte nicht immer derartige Fantasien auslösen?

Bevor meine Entscheidung fällt – ich tue mich wirklich äußerst schwer damit –, werden erste Amuse-Bouches gereicht.

Es gibt ein heißes, sehr aromatisches, schaumiges Süppchen mit Petersilie und Steinpilz, dann eine Art knuspriges Bonbon von der Bouchot-Muschel, sowie ein kleines Praliné mit Foie Gras und Roter Bete. Bereits diese drei Kleinigkeiten vereinen alles, was ich von großartiger Küche erwarte: erkennbare Produkte höchster Güte, präzises Handwerk, Duft und Wohlgeschmack. Ein fantastischer Auftakt, der die Richtung dieser Küche vorgibt.

Die Brot- und Buttersorten hier zählen ebenfalls mit zu den besten, die man irgendwo finden kann. Gerade auf meinem Brotteller: eine herzhaftes Brötchen mit Speck und Zwiebeln und reichlich Butter. Inzwischen ist auch der Aperitif-Champagner geleert (Bollinger NV, € 30), den man auch als Kräftigung benötigt, um sich auf die hochpreisige, aber exzellent sortierte Weinkarte einzulassen. Meine Wahl fällt mit Unterstützung des Sommeliers auf einen hervorragenden 2009 Chambolle-Musigny 1er Cru „Les Baudes“ von der Domaine Sérafin (€ 275). Die Wahl meiner Speisen steht inzwischen auch. Ich freue mich auf alles Weitere wie ein kleines Kind auf die Bescherung.

Vor dem ersten Gang folgt noch ein weiteres Amuse. Dabei thront eine cremige Zubereitung mit Hering, darauf eine knusprige Kartoffelscheibe, auf einem süffigen, warmen Jus mit Zwiebel, Schnittlauch und Karotten. Das Geschmacksbild ähnelt dem eines guten Fischbrötchens. Jede Zutat ist einzeln, aber mit individuellem Akzent, herauszuschmecken, bis hin zu den Kubikmillimeter kleinen Karottenwürfeln. Umwerfend gut.

Die erste Vorspeise ist einer der Klassiker des Hauses: Maccaroniin ihrer vermutlich dekadent-köstlichsten Form, gefüllt mit schwarzen Trüffeln, Artischocken und Foie Gras, gratiniert mit altem Parmesan und umringt von einem schachbrettartig angerichteten Saucen-Duo von Trüffel-Geflügel-Jus und Sauce Suprême. Das hier ist Wohlgeschmack in seiner wohl zugänglichsten Form: herzhaft, gehaltvoll, cremig, salzig, heiß, duftend, kohlehydrat- und kalorienreich, lecker, köstlich, wunderbar. Wenn man zum ersten Mal erlebt, dass große Küche so schmecken „darf“, ist das ein unglaublich befreiendes Erlebnis, das ich jedem kulinarisch Interessierten wünsche. Die 95 Euro für dieses Gericht sind eine der besten kulinarischen Investitionen, die man tätigen kann. Jeder, der das viel findet, sollte sich für zehn Fast-Food-Menüs seines Lebens schämen, die dieses Gericht kostet. Und dass man diesen Teller nicht ablecken darf, ist eine Schmach. Vermutlich darf man. Aber so viel Etikette muss sein.

Es geht weiter mit Artischocken aus der Provence (€ 72). Die grüngelbe Augenweide besteht aus verschiedenen Elementen des schmackhaften Korbblütlers, dessen Herz „in zerdrückten Sardellenfilets gebraten“ wurde (rôti aux filets d’anchois écrasés) und nun gedrittelt und in den Blättern der Artischocke angerichtet ist. Darauf findet man knusprige, hauchdünne Artischocken-Chips und jeweils eine behutsam dimensionierte Scheibe frittierten Knoblauchs der Sorte „Ail rose“ aus der Region Lautrec. (Es gibt in Frankreich sogar geschützte Appellationen für Knoblauch.)

Die Artischockenblätter wiederum sind mit Walnussöl benetzt und beherbergen auf ihrem fleischigen, essbaren Ende noch eine Creme, die geröstete Haselnüsse und die Aromen einer sämig mit Senf angerührten Vinaigrette verbindet.

Was für ein Genuss! Die feine Knusprigkeit der Komponenten, die Säure, die Fleischigkeit der Artischocke … All das ist famose Produktküche auf höchstem Niveau. Es lebe die Artischocke, es lebe das Produkt, es lebe Frankreichs Küche.

Und dann. Als würde die Auswahl zwischen Hummer, Steinbutt, Scholle, Ente, Kalbsbries und weiteren großartigen Produkten in wohlschmeckend klingenden Zubereitungen nicht schon genug Probleme mit sich bringen, hatte der Kellner mit der Nennung eines Gerichts außerhalb der Karte zu Beginn des Menüs für weitere Entscheidungsschwierigkeiten gesorgt. Es handelt sich um eines der Gerichte der traditionellen französischen Küche schlechthin. Erste Rezepte sind um 1775 herum beschrieben, Paul Bocuse hat es in seinem „Standardkochbuch“ zweihundert Jahre später zu einem der schönsten Rezepte verarbeitet, die man finden kann. Ich habe es Dutzendfach gelesen, vorgelesen und verschickt. Nachkochen kann das niemand.

Das Rezept beginnt so:

Zunächst einen schönen Hasen auswählen, möglichst mit rötlichem Haar, im Gebirge oder in einer Heidelandschaft getötet, nicht mehr ganz jung, aber auch noch nicht erwachsen. Wichtig: Der Hase muss sauber und schnell getötet worden sein, damit er nicht einen Tropfen Blut verloren hat. Diesen Hasen häuten und ausnehmen. Das Herz, die von der Gallenblase befreite Leber und die Lungen beiseitelegen. Das Blut sorgfältig in einer Schüssel auffangen und mit etwas Cognac verrühren, der dazu beiträgt, ein Gerinnen des Blutes zu verhindern.

Dann folgt ein penibler Zeitplan über mehrere Seiten, der das Servieren des Gerichts für 20 Uhr vorsieht. Und schließlich:

20 Uhr: Den Hasen, der durch die lange Kochzeit natürlich seine Form weitgehend verloren hat, so vorsichtig wie möglich herausheben und auf eine Platte setzen. Völlig herausgelöste Knochen entfernen. Zum Schluss über und um den Hasen herum die dicke, so sorgfältig hergestellte Sauce gießen. Jeweils auf vorgewärmte Teller vorlegen, als Besteck auf keinen Fall Messer und Gabel, sondern nur einen Löffel vorsehen – die Verwendung eines Messers wäre ein Sakrileg!

Heute wurde es mir angeboten und dabei fast schon mit einer Warnung versehen: das Gericht sei sehr klassisch und „intensiv“ im Geschmack. Nach einiger Überlegung habe ich ja gesagt. Ja zum königlichen Hasen, dem lièvre royal (€ 120).

Nun sind wir hier nicht bei Paul Bocuse, sondern bei Eric Fréchon. Die Küche hier ist eher kreativ als klassisch Französisch, daher ist natürlich auch beim Hasen mit Adaptationen zu rechnen – allerdings nur mit behutsamen. So gelangt erwartungsgemäß kein ganzer Hase an den Tisch, sondern eine zylinderförmige Tranche des Schmorfleischs, umgeben von Artischocken-Ravioli. Die „dicke, so sorgfältig hergestellte Sauce“ findet man aber selbstverständlich wieder, es gibt à part auch noch ein Kännchen mit dem Elixier, das faszinierend intensiv nach Wild, Lorbeer und Eisen schmeckt, Letzteres von dem Blut herrührend, mit dem die Sauce abgebunden wurde. Ich mache den Beginn, allein aus Huldigung vor Bocuse‘ Rezept, mit dem Löffel, bediene mich danach aber Messer und Gabel. Es sei mir verziehen.

Es ist ein vorzügliches Gericht: unmodern, schwer, fleischig, schnörkellos, aber von königlichem Genuss. Ein Sonntagsbraten in seiner besten Form, hergestellt mit einem handwerklichen Können, das nur noch wenige besitzen. Auch der Anachronismus einer solchen Speise ist in hohem Maße wohltuend: ich genieße in diesem Moment ein Stückchen stehengebliebene Zeit. Unvergesslich!

Ein leichtes, erfrischendes Sorbet mit Hibiskus und Grapefruit setzt einen markanten, gelungenen Kontrast zum schweren Hauptgang und schafft Raum für die weiteren Süßspeisen, die man hier unter gar keinen Umständen auslassen darf.

Die Dessertkarte macht es mir erneut nicht einfach, doch nach schwerer Schokolade ist mir nachvollziehbarerweise jetzt nicht mehr, eher nach etwas Frischem.

Meine Entscheidung fällt schließlich auf das Dessert mit dem Titel Citron de Menton (€ 33). Aus Menton, einem mir sehr bekannten Ort an der Côte d‘Azur, stammen einige der aromatischsten Zitronen überhaupt. Bei diesem Dessert wurde aus einer Art weichem Meringue-Teig, der von einer Schicht Zitronen-Limoncello-Gelee umgeben ist, eine täuschend echte Zitrone hergestellt. Bricht man diese auf, was man wohl oder übel irgendwann tun muss, offenbart sich ein süßlich-saures, kühles Inneres mit Stückchen von kandierter Birne und einem Hauch Minze. Ganz einfach eines der besten Desserts, die ich jemals gegessen habe.

Zu einem exzellenten Kaffee aus Jamaica (€ 14) von der eigenen Kaffee-Karte schließe ich dieses Festmahl mit einer Auswahl Macarons ab. Ich wähle Kokos, Cassis, Karamell und Schokolade. Es sind immer noch die besten Macarons, die ich kenne.

Es bleibt also alles beim Alten. Das Epicure ist ein hedonistischer Genusstempel, der Wohlgeschmack so rigoros zelebriert wie kaum ein anderes Restaurant. Ich möchte eigentlich jeden hierhin zerren, der von gebastelten Multikomponenten und -texturen-Tellern schwärmt anstatt von einer Zitrone aus Menton oder einem königlichen Hasen. Aber bezahlen muss dann jeder selbst.

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: Epicure (→ Website)
Chef de Cuisine: Eric Fréchon
Ort: Paris, Frankreich
Datum dieses Besuchs: 10.11.2015
Guide Michelin (F/MC 2015): ***
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