Schauenstein – Schlossgeschichten

Die dicken Mauern des Schlosses Schauenstein im schweizerischen Fürstenau können sicherlich viele Geschichten erzählen. Kein Wunder bei der bewegten Vergangenheit. In seiner mittelalterlichen Funktion als Wehranlage wurden hier Menschen verteidigt und bekämpft; später war das Schloss mal ein Erziehungsheim, zerfiel dann wieder, wurde wiederaufgebaut, renoviert und diente dann als Treffpunkt für Künstler und Wissenschaftler. Heute ist es im Besitz einer Stiftung und beherbergt nicht weniger als eines der berühmtesten Restaurants Europas. Küchenchef Andreas Caminada genießt mit seiner kreativen Küche einen außergewöhnlichen Hype um seine Person – und viel mediale Präsenz.

Nach meinem heutigen Abend im Schloss gibt es eine weitere Geschichte, die sich in diesen Mauern zugetragen hat. Es könnte die folgende sein.

An diesem regnerischen, dunklen Abend im Januar habe ich in einem echten Schloss gespeist. Eines mit dickem Gemäuer und Schlossturm, das unter anderem eines der besten Restaurants der Welt beheimatet! Vor dem Essen wird man in ein Kaminzimmer gebracht, in dem alte Gemälde die Wände zieren und eine moderne Lichtinstallation changierende Muster an die Decke wirft. Eine wahrlich außergewöhnliche Atmosphäre.

Ein Kamin spendet Wärme, und sehr freundliches Restaurantpersonal serviert schon mal einige Amuse-bouches. Eines nach dem anderen, und noch bevor man überhaupt die eigentlichen Speisen ausgewählt hat. Ich weiß gar nicht genau, was das alles war, aber es war fantastisch! Nichts, was man sonst aus gehobenen Restaurants kennt.

Dann gibt es noch eine App, die man herunterladen soll. Sie liefert zu dem Schloss und zum Essen weiterführende Informationen. Ich verzichte allerdings darauf, weil das WiFi-Netz hier nicht läuft, aber man versichert mir, dass das Essen auch ohne App funktioniert. Ich bin erleichtert!

Als ich mich dann fürs Menü entschieden habe (sechs Gänge, ca. € 240) begleitet man mich in den Speisesaal. So müssen Fürsten speisen: edle weiße Tischdecken, kostbares Geschirr, elegant gekleidetes Personal. Es ist alles so wie man es sich in einem Drei-Sterne-Restaurant vorstellt.

Und dann das Essen! Kaum zu beschreiben, was es alles gab. Ich erinnere mich noch an ein Gericht, das nicht auf einem Teller, sondern auf einem Bildschirm serviert wurde. Der Bildschirm zeigte eine animierte grüne Fläche – wie Rasen –, auf dem eine kleine Gruppe essbarer Häuser angerichtet war. Der Wahnsinn! Es gab natürlich noch viel mehr: Lamm mit Sanddorn, Zander mit Kürbis, Huhn mit Mais – und Desserts wie aus dem siebten Süßspeisenhimmel.

Jeder Gang war dabei ein optisches und handwerkliches Kunstwerk: höchst aufwändig, optisch ansprechend und meist auf mehreren Tellern angerichtet. Das Brot wurde sogar in einem eigenen Stoffumschlag serviert. Dazu der elegante Service: höchst professionell, die Gläser waren immer voll, die Tischdecke immer krümelfrei, man kümmerte sich einfach um alles. Der Abend war perfekt von A bis Z!


Wer mich kennt weiß, dass das nicht meine Geschichte ist. Aber ein Märchen habe ich dennoch nicht erzählt. Es gibt das Schloss, es gibt das Kaminzimmer mit changierender Lichtprojektion, die App zum Essen, die vielen Amuse-bouches, die aufwändig angerichteten Teller, das effiziente und freundliche Personal. In alle anderen Details meines Abends auf dem Schloss bringe ich jetzt aber etwas Licht hinein, und zwar so helles wie das von den Designer-Lampen, die punktgenau jeden einzelnen Tisch im Speisesaal mit so grellem Licht befluten, dass man sich wünscht, seine Sonnenbrille dabei zu haben.

Von den sieben Amuse-bouches, die im Kaminzimmer serviert werden, sind zwei bis drei exzellent, die anderen knabbert man weg, verfällt dabei aber nicht in Euphorie (im Schnitt 7,5/10). Das letzte Amuse-bouche („die Küche grüßt noch einmal …“) gibt es dann am Platz: geeister Rotkohl mit Senfmousse. Das ist hervorragend (9/10). Ich hoffe jetzt allerdings, dass das Menü, das ich bestellt habe, bald beginnt.

Und das tut es. Das geräucherte Huhn „Val Lumnezia“ wurde um das Thema Mais herum konzipiert. Der kleine Huhnquader ist etwas trockener als man ihn sich wünscht, und kross ist die Haut leider auch nicht. Die verschiedenen Komponenten aus und mit Mais – darunter auch eine Art Pinocchio-Eis – sind geschmacklich sehr gut (wenngleich Mais immer auch eine grenzwertige Süße mit sich bringt), aber ob es hier nun um Huhn, Mais oder Eis geht, wird mir insgesamt nicht so ganz klar. (7/10)

Beim zweiten Gericht geht es erst einmal um vieles – außer um Essen. Es geht um eine Zusammenarbeit mit einem benachbarten Lichtkünstler namens Peter Diem, mit dem Andreas Caminada mehrere Lichtinstallationen unter dem Konzeptnamen „Splendur“ kreiert hat. Dann geht es um einen zufällig namensverwandten Architekten Gion Caminada, der ebenfalls aus der Bündner Region stammt und Häuser baut, die, wenn sie auf einer Alm nebeneinanderstehen, „Maiensäss“ genannt werden – so wie dieses Gericht. Ein Gericht wird diese Hommage an Künstler, Architekten und Tabletcomputer allerdings erst durch ein paar essbare Häuser, die aus Bündnerfleisch-Parfait und Kalbsschwanz-Gelee hergestellt und auf dem Bildschirm platziert sind, auf dem eine abstrakte grünliche Animation abläuft. Dazu gibt es eine Gersten-Vinaigrette.

Wie viel mich an dieser Präsentation stört – von der Zeit, die mir der Kellner stiehlt, um mir diesen ganzen Firlefanz zu erklären, über den erschreckenden Gedanken, dass sich ein Koch so etwas ausdenken muss, um Gäste zu beeindrucken, bis hin zu der absurden Feststellung, dass das Gericht ohne aufgeladenen Akku nicht funktioniert – ist schwer in Worte zu fassen.

Wenn ein Heston Blumenthal mit seinen (ebenfalls inszenierten) Gerichten die Geschichte von Alice im Wunderland erzählt, ist das zwar ähnlich verspielt, aber viel intelligenter umgesetzt. Wenn sich dort ganze Taschenuhren zu einer Kalbsschwanz-Consommé auflösen, dann werden die grenzenlosen Möglichkeiten eines Märchens Teil der essbaren Realität. Das ist großartig. Eine einzelne „Lichtinstallation“ in einem sonst recht themenlosen Menü wirkt dagegen wie der hilflose Versuch eines Kochs, Künstler zu sein. Und das ist vermutlich nicht einmal seine Schuld: bei vielen Gästen ist es genau das, was im Rahmen ihres Erlebnisses hängen bleibt.

Trotz meiner Kritik auf dieser Metaebene schmeckt die Speise exzellent. Zu dem rauchig-fleischigen Geschmack der kleinen Bündnerfleisch-Häuschen steuert eine Gerste-Minze-Vinaigrette durch das Getreide eine angenehme Textur bei und durch die Minze einen frischen, äußerst passenden Akzent. Keine Frage: der kleine Snack ist, völlig für sich betrachtet, geschmacklich und handwerklich hervorragend. (8-9/10)

Inzwischen hat man etwas Brot auf dem Tisch gestellt, und zwar in einem „Säckli“. Meine Hoffnung, dass mir beim Öffnen der Stoffhülle wohlig riechender Dampf frisch gebackenen, herzhaften Brots entgegenkommt, wird leider nicht erfüllt. Das Brot hat Zimmertemperatur und ist dazu noch etwas süßlich. Das ist nicht so ganz mein Fall.

Es folgt eine Suppe mit Bündner Trüffel, bei der die regionale Herkunft der Trüffeln überrascht. Sie sind zwar nicht ganz so intensiv wie ihre Artverwandten aus dem Périgord oder aus Alba, aber gerade bei einer solchen Zutat auf Regionalität zu setzen, finde ich spannend. Zusammen mit einem rohen Eigelb, Selleriecreme und Kastanie vermischt man alle Komponenten mit einem angegossenen Jus zu einem angenehm süffigen Süppchen (aber in einem dafür ungeeigneten flachen Teller). Geschmacklich sehr gut. (8/10)

Ein Saibling von makelloser Qualität, nur ganz kurz geflämmt, ist der kurzlebige Protagonist des folgenden Gerichts. Dazu gibt es weitere Komponenten wie Schwarzwurzel-Röllchen, eine Petersilienwurzel-Creme und eine sehr gute Vinaigrette mit Safran (auch aus der Region!). A part findet man noch Saiblingstatar mit einer weiteren Creme. So gut die einzelnen Komponenten sind, liefert dieses Gericht erneut nicht den Eindruck, eine harmonische Einheit zu sein, was unter anderem erneut daran liegt, dass man auf flachen Tellern die unterschiedlichen Komponenten viel schlechter miteinander kombinieren kann. Wegen der hervorragenden Fischqualität und der Vinaigrette dennoch 8/10.

Ein Gericht, das als „Klassiker 2008“ ins Menü eingeschoben wird, bereitet mir zunächst Verständnisschwierigkeiten. Es handelt sich laut Tischkärtchen um ein mit „Langustine“ irreführend bezeichnetes Krustentier. Denn selbst, wenn dieser Begriff auf noch so vielen deutschsprachigen Speisekarten zu finden ist, existiert er nicht. Es gibt Langusten, aber keine „Langustinen“. Gemeint ist ein Kaisergranat (franz. langoustine), was man mir auf Nachfrage auch bestätigt.

Doch meine Nachfrage war nicht von Spitzfindigkeit getrieben, sondern von Erstaunen: einen solchen Kaisergranat habe ich nämlich noch nie gesehen. Das Fleisch dieses Exemplars ist ziemlich rot, weist eine ungewöhnlich homogene, feste Textur auf und ist vollkommen akkurat, bis hin zur Schwanzspitze, ausgelöst. Normalerweise sind Kaisergranate etwas „fransiger“ und haben nach dem Garprozess eine blassrosa Farbe. Die einzige Art, eine derartige Form, Farbe und Textur zu erhalten wie auf dem vorliegenden Teller ist nach meinem Wissen eine Sous-vide-Garung – doch in Karte steht „gebraten“. Doch ganz egal, wie das Tier nun gegart wurde: die hier verwendete Methode ist für das Tier eher unzuträglich. Der feste Biss passt nicht, und auch die nussige Süße, die für den Geschmack von Kaisergranat charakteristisch ist, fehlt hier. Allein aus diesem Grund finde ich weniger Freude an dem Gericht als erhofft. (6-7/10)

Weiter geht es mit Schwein in unterschiedlichen Zubereitungen. Auf einem Holzbrett findet man ein scharfes Messer und herzhaft lackierte, zarte Rippchen (8/10).

Ein Teller mit Pilzen, Foie Gras und einem weiteren Teil vom Schwein gefällt mir auch sehr gut: hier sorgt die perfekt gebratene Entenleber – wie bei einer „Rossini“-Zubereitung – für schönen Schmelz (8/10). Ein weiteres Schälchen mit Schweinebauch und knusprigen Zwiebeln bietet hervorragende Fleischqualität, ist mir aber etwas zu süß (7/10); die Tortellini mit Schwein sind ganz gut (7/10), ebenso wie das gepökelte Fleisch mit Radieschen (7/10). In Summe ein herzhafter Schmaus, aber inkongruent zum erwarteten Niveau.

Zwei Stücke vom Zander sind bei diesem Gang von vorbildlicher Qualität und Garung, resignieren aber geschmacklich vor dem sehr dominanten Kürbiskernöl und dem intensiven Kartotten-Kürbis-Allerlei. (6-7/10)

Freude bleibt auch aus beim faden Lamm aus dem Vakuumbeutel mit geschmacklich erschlagendem Sanddorn und wässrigem Jus. (6/10)

Das Pré-Dessert ist mit seinem intensiven Kirsch-Joghurt-Geschmack hervorragend (8/10), ein kleinteiliges Sammelsurium verschiedenster süßer Komponenten lässt mich eher kalt (6/10), und das klassisch zubereitete Quarksoufflé ist handwerklich brillant, dazu noch heiß und duftend (10/10) – eine kleine Entschädigung für ein ansonsten tristes Menü.

Apropos trist: Da ich alleine hier war, hatte ich den Abend über etwas Zeit, andere Gäste zu beobachten. Diskret natürlich, aber immer mal wieder und in wichtigen Momenten, z. B. wenn jemand ein Gericht serviert bekommt und davon zum ersten Mal kostet. Was ich sah, hat mich erschreckt. Ich sah überwiegend Gäste, die so aussahen als wäre ihnen gerade eine schlimme Nachricht übermittelt worden: flüsternd, schweigend und betroffen. Menschen, die den Abend mit dem Genießen von Essen verbracht haben, sah ich nicht. Dabei muss gutes Essen doch begeistern! Es muss mitreißen, verzücken, duften und gut schmecken – und je höher das Restaurantniveau, umso mehr muss es das können. Das macht ja gerade das Niveau aus. Das Niveau ist nicht einfach da, weil der Rahmen es so suggeriert. Wer in der Spitzengastronomie noch nie erlebt hat, wie Essen in der Lage ist zu euphorisieren, zu begeistern und glücklich zu machen, war eindeutig in den falschen Restaurants. Ich werde nie vergessen, dass meine Beweggründe, den Sternen hinterherzujagen, genau dieser Begeisterung für Essen geschuldet sind. Hätte ich vor vielen Jahren in diesem Schloss begonnen, nach guter Küche zu suchen, gäbe es diese Geschichte heute nicht – meine wahre Schlossgeschichte.

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: Schloss Schauenstein (→ Website)
Chef de Cuisine: Andreas Caminada
Ort: Fürstenau, Schweiz
Datum dieses Besuchs: 10.01.2016
Guide Michelin (CH 2016): ***
Meine Bewertung dieses Essens 7,5 (Was bedeutet das?)
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