Waldhotel Sonnora – ich bin untröstlich

Meine erste Speise des Tages ist eine Galantine von der Périgord-Gänsestopfleber „Traube-Nuss“ in Madeiragelee mit geeistem Feigencroustillant. Auf einem Stück warmer, buttriger, leicht knuspriger Brioche finden alle Komponenten dieser aufwändigen Zubereitung zu einem Wohlgeschmack zusammen, der mich kurz die Augen schließen lässt.

Die Gänseleberterrine ist perfekt gewürzt: Salz, Pfeffer, weitere Gewürze und die süßliche Säure des Madeiragelees bilden das wohlschmeckende Geschmacksfundament jedes einzelnen Bissens, der durch den Schmelz der Terrine und die bissfeste Textur der in die Galantine schneckenförmig eingearbeiteten Nusssplitter zu einem himmlischen Vergnügen wird, solange der Vorrat reicht. (10/10)

Wohl nie zuvor habe ich ein Frühstück so genüsslich eröffnet.

Aber ich habe schon die ganze Nacht darauf gewartet, wieder an einem der Tische sitzen zu können, nur um irgendetwas aus der Küche dieses Hauses essen zu können. Nur wer schon einmal wahrhaftig große Küche erlebt hat, wird diesen Wunsch nachvollziehen können.

Und während ich mir aus meinem Kännchen frisch gebrühten Filterkaffee nachschenke (Weinbegleitungen sind maßlos überbewertet), folgt Frühstücksgang Nummer zwei, ein Medley aus Kaisergranat, Wolfsbarsch und Jakobsmuschel in jeweils überirdischer Qualität: schneeweiß von innen, saftig und in der Pfanne karamellisiert. Dazu gibt es ein paar mediterrane Gemüse und eine Vinaigrette, die durch leicht geröstete Pinienkerne, hervorragendes Olio Verde und Frühlingszwiebeln mein neues Maß aller Dinge für diese einfache, aber köstliche Sauce ist. In Zeiten, in denen vielerorts Schäumchen und wässrige Jus das klassische Saucenrepertoire verdrängt haben, muss sich das erst einmal jemand trauen, zu servieren – in einem Villeroy-und-Boch-Schälchen auf Spitzenuntersetzer. Während Schäumchenfreunde nur darüber lachen können, löffle ich die angenehm säuerliche, lauwarme Vinaigrette direkt aus dem Gefäß. (10/10)

Dabei ist das Waldhotel Sonnora eine Antithese zu nahezu allem, was in der Hotellerie und Gastronomie gerade angesagt ist. Der bürgerlich-deutsche Achtzigerjahre-Stil ist so extrem, dass er schon fast eine Karikatur ist.

Goldene Wasserhähne in Schwanenoptik, rotweiß gemusterte Teppiche, griechische Büsten in den Bädern, in Messing eingefasste Lampen in Glaskugeloptik … Man kommt aus dem Staunen nicht mehr heraus. Unterm Strich wird dabei jedoch eines evident: das ist alles erheblich komfortabler und zweckmäßiger als in vielen so genannten Designhotels, bei denen man sich bis in höchste Zimmerkategorien immer über irgendetwas aufregen muss, nur, weil ein Gestalter das Bedürfnis hatte, etwas Bewährtes um jeden Preis anders machen zu müssen.

Diese Feststellung lässt sich natürlich auch ganz wunderbar auf die Gastronomie und Kulinarik übertragen. Lieber ein Holzbrett mit einem hervorragenden Produkt darauf als eine Hering-Schale mit Mittelmäßigem.

Als ich am Vorabend meines opulenten Frühstücks im Restaurant einkehre, werde ich von so vielen dekorativen Geschmacksverirrungen geblendet, dass es schon wieder Spaß macht. Es signalisiert: wer sich das hier erlauben und auch noch alle Tische besetzen kann, der macht offenbar einiges richtig.

Die Speisekarte zum Beispiel. Sie ist eine Speisekarte. Es gibt darin Vorspeisen, Fisch, Fleisch und Desserts. Herrlich einfach, oder? Für die Weinkarte, mit großem Schwerpunkt auf deutsche Gewächse, gilt dasselbe. Eine Flasche 1994 Wehlener Sonnenuhr Riesling Auslese vom Weingut Jos. Christoffel jr. (€ 88) hatte ich schon am Nachmittag geöffnet und mache hier am Tisch nun damit weiter. Die kleine Pause tat ihr gut, und meine Gerichtauswahl steht inzwischen auch.

Den Auftakt macht ein Amuse-Bouche in Form einer Crème Vichyssoise mit Räucheraal und Kaviar. Alles hieran ist hervorragend: die angenehme Portionsgröße, das präzise Handwerk, die klaren Aromen (man schmeckt Lauch und Kartoffel aus der Vichyssoise) und das wohlschmeckende Zusammenspiel von sahniger Creme, jodig-salzigem Kaviar und gehaltvollem Aal. Nahezu perfekt, vielleicht nur ein paar Grad zu kühl. (9/10)

Weitere Amuses folgen. Ein „Edelfisch“ mit Mangosauce (tatsächlich so angekündigt) ist herrlich verspielt, weil man ihn einfach an den frittierten Teigfäden, die ihn umhüllen (und die auch nicht nach Frittierfett schmecken), anfassen und genüsslich in die Sauce tunken kann. Diese schmeckt interessanterweise so ähnlich wie Hela Gewürzketchup aus dieser großen roten Plastikflasche, und wer jetzt glaubt, das sei eine Beleidigung, der irrt: natürlich ist das Geschmacksbild hier erheblich feiner und die Sauce längst nicht so klebrig, aber, mehr noch, die kleine Speise erinnert an die Unbeschwertheit von heißen Sommern mit weißen Pommesschalen und kleinen Plastikgabeln in Zeiten ohne Internet. (10/10)

Eine Gillardeau-Auster „Façon Mojito“ kommt mit Minzjulienne, Limette und überbordender Meeresfrische daher (9/10), und ein warmer, schaumiger Safransud mit Bouchot-Muscheln ist perfekt gewürzt und enthält fantastische Exemplare der kleinen Muscheln (10/10).

Die erste Speise aus der Karte ist einer der vielen Klassiker dieses Hauses: Kleine Torte von Rinderfilet-Tatar mit Imperial Gold Kaviar auf Kartoffelrösti (€ 85). Das Tatar ist perfekt würzig abgeschmeckt und von allerfeinster Qualität. Eingebettet ist es zwischen einer leicht knusprigen, herzhaften Rösti und einer von Crème fraîche unterfütterten, zentimeterhohen Schicht aus zwanzig Gramm nussig-jodigem Kaviar. Das Geschmacksbild ist klar und vollkommen, und, mein Gott, bestimmt wird das Stück wirklich aus einer ganzen Torte herausgeschnitten … (10/10)

Zur Beruhigung probiere ich danach eine Consommé double vom Ochsenschwanz mit Ravioli und Entenstopfleber sowie, was die Karte vergisst zu erwähnen, schwarzen Périgord-Trüffeln (€ 28). Doch die hocharomatische Brühe beruhigt nicht, sie wühlt auf. Der konzentrierte Geschmack, der akkurate Umgang mit Salz, die Hitze, in der die Ravioli mit zarter Gänseleber noch etwas weitergaren, und das ätherische Aroma der Trüffeln: alles ist grandios. Perfektes Handwerk noch dazu. (10/10) Und jetzt Finger hoch: Wer hat zuletzt eine heiße Kraftbrühe in einem Restaurant bestellt?

Es folgt Seezunge „Petit Bâteau“ und Kaisergranat auf in Eiswein (!) glaciertem belgischen Chicorée mit Limonen-Beurre-Blanc (€ 68). Was für eine Augenweide für Produktfanatiker wie mich! Der Kaisergranat ist fast so groß wie eine kleine Banane, unglaublich.

Die Garung der Zutaten ist absolut perfekt, und ich stelle schnell fest, dass ich vergleichbare Qualitäten in Deutschland noch nirgendwo gegessen habe. (Überhaupt ist das eines der besten mir je begegneten Exemplare.) Und was macht man am besten mit derart großartigen Produkten? Wenig. Ein gefälliges Geschmacksspiel mit der durch den Süßwein gezügelten Bitterkeit des Chicorée, etwas aufgeschäumte Buttersauce mit frischer Limone, ein bisschen Piment d’Espelette, fertig. Ein faszinierendes Lehrstück in Sachen Produktqualität. (10/10)

Weiter geht das Festmahl mit gegrilltem Hummer auf Spitzkohl mit Cassis-Feigen-Jus und Entenleber-Croutons (€ 75). Das farbenfrohe Arrangement erfreut Auge und Gaumen zugleich, und die Kombination von Feige und Hummer ist außergewöhnlich. Dazwischen der bissfeste, dem Gericht etwas Leichtigkeit verleihende, Spitzkohl: ich komme aus der Begeisterung nicht mehr heraus. Was für ein Schlemmerfest! Genuss, Emotionen, Wohlgeschmack, Wohlbefinden: all das bei jedem Gang. So nah am Wasser gebaut war ich beim Essen eine gefühlte Ewigkeit nicht. (10/10)

Von den Fleischgerichten wähle ich Sauté vom Milchkalbsbries und Galettes von Ferkelfüßchen mit glacierten Perlzwiebeln und Sauce Périgourdine (€ 64). Allein schon die Möglichkeit, in den Genuss solcher klassischen Saucen kommen zu können, rechtfertigt jeden Anreisekilometer. Auf diesem Teller sorgt die trüffelige, glänzende Sauce dafür, dass die makellos gebratenen Stücke Kalbsbries und die grobgehackte, herzhafte Schweinefleischzubereitung noch besser zur Geltung kommen. Eine nicht unwesentliche Komponente dieses Gerichts sind fast zwei Millimeter dick gehobelte (geschnittene?) Trüffelscheiben, die mich mit ihrem charakteristischen terpentinartigen Aroma berauschen und benebeln … (10/10)

Als ich wieder bei Sinnen bin, steht eine Süßspeise vor mir. Es handelt sich um geeistenMokka mit Kakaobohne und Vanille, die nach den gleichen heißen Sommertagen in der 80ern schmeckt, in denen ich schon die Pommes mit Gewürzketchup genoss. Ob dieser Bogen zum Beginn des Menüs Absicht ist? In jedem Fall ist er ein Geniestreich. Der letzte Löffel schmeckt nach Eiscafés, heißem Asphalt und aufgeschürften Knien. (10/10)

Ein lauwarmes Schokoladen-Tartelette mit Bananeneis auf geeister Guatemala-Rum-Sauce (€ 25) gibt beim „Anstechen“ heißen Schokoladendampf frei und lässt mich, zusammen mit dem Eis, die Gedanken an aus der Mode gekommene Eiscafés fortsetzen. Der Rum in der à part in einem Kännchen servierten Sauce zum Nachgießen ist allerfeinster Ron Zacapa 23, was man jedoch nur auf Nachfrage erfährt. Man prahlt hier nicht damit, man macht es einfach. (10/10)

Klassische, köstliche Petit-fours (9/10) beenden das beste Essen, das ich in Deutschland je genießen konnte. Dass ich noch nie zuvor hier war tut mir sehr leid, für mich und für alle, die sich erst durch diesen Bericht animiert sehen, die Reise hierhin anzutreten. Ich bin untröstlich.

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: Waldhotel Sonnora (→ Website)
Chef de Cuisine: Helmut Thieltges
Ort: Dreis, Deutschland
Datum dieses Besuchs: 30.01.2016
Guide Michelin (D 2016): ***
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