Willows Inn – ein König, wer hier strandet

Im Nordwesten der USA, im Bundesstaat Washington, gibt es einen Fähranleger in der Nähe von nirgendwo. Reist man aus einer der nächsten größeren Städte an, z. B. aus dem südlichen Seattle oder, wie in meinem Fall, aus dem kanadischen Vancouver, dauert die Fahrt hierhin zwei bis drei Stunden.

Am Fähranleger geht es entspannt zu. Abgesehen von ein paar weiteren Autos, die auf die immerhin im Zwanzig-Minuten-Takt zirkulierende Fähre warten, sind ein paar kreischende Möwen das einzige Lebenszeichen hier weit und breit. Mein Ziel gegenüber, Lummi Island, sieht von der Ferne zwar stark bewachsen aus, aber unbewohnt. Die kleine Insel scheint den Beginn des westlichen Endes der Welt zu markieren.

Was nicht viele wissen: Auf Lummi Island befindet sich eines der besten Restaurants Nordamerikas. In der „OAD“-Liste, eine Rangliste von Restaurants, deren Jury aus diversen weitreisenden Essverrückten aus aller Welt zusammengesetzt ist (auch mir), steht das Restaurant in den USA derzeit an Platz zwei, direkt zwischen den Drei-Sterne-Restaurants Saison und Manresa. Dafür verantwortlich zeichnet ein junger Küchenchef namens Blaine Wetzel, der – nach verschiedenen Stationen in Kalifornien – einige Jahre im Noma an der Seite von René Redzepi arbeitete und dort dessen Philosophie verinnerlichte, sowohl strikt regional zu arbeiten als auch Zutaten selber zu beschaffen anstatt sie anliefern zu lassen. Foraging nennt sich diese – eigentlich eher Tieren zugeschriebene – Tätigkeit.

2010 bewarb sich der damals erst 24-jährige Wetzel auf eine Stellenanzeige, die ihn schließlich zurück in seine Heimat Washington und dort nach Lummi Island führte, ein 24 Quadratkilometer kleines Eiland mit einer einzigen, ringförmigen Hauptstraße, kleinen, verlassen wirkenden Holzhäusern, die man behutsam zwischen Zedern, Tannen und steinige Strände gebaut hat. Mit diesen Voraussetzungen sah sich der junge Küchenchef ausreichend herausgefordert, eine regionale Küchenphilosophie eigenverantwortlich umzusetzen und sie hier auf die Spitze zu treiben. Wo mancherorts „regional“ ein ganzes Land bezeichnet, sind die Zutaten, die Wetzel beschafft, häufig fußläufig zu beschaffen.

Fast alle Zutaten seiner Menüs stammen von der Insel und den umliegenden Gewässern. Im Winter hat das Inn geschlossen. Regelmäßige Anlieferungen gibt es hier nicht. Wetzel pflanzte Gärten an, machte sich mit Landwirten und Fischern der Insel bekannt und lernte Lummi Islands Mikrokosmos kennen: Fauna, Flora, Jahreszeiten, Gezeiten.

Fast keine dieser Informationen liegt mir jedoch vor, als ich hier eintreffe. Dieses Unwissen ist zwar nicht entscheidend in Bezug auf das tatsächliche Genusserlebnis, verschafft mir jedoch einen kleinen Vorteil hinsichtlich der Begeisterung, die ich hier erleben werde.

Der Abend beginnt ganz ungezwungen irgendwann ab 18 Uhr auf der Terrasse. Manche Gäste sitzen schon seit dem späten Nachmittag im Halbschatten dort bei einem kühlen Getränk mit lokalen Kräutern oder Früchten. Nachbarn mischen sich hier unter weitgereiste Foodies, die Stimmung ist gelöst, die Architektur offen und einladend. Sonne, Brise und das funkelnde Meer prägen die einzigartige Kulisse.

Zu einem Cidre und sehr guten Cocktails (z. B. „Indian Plum Pimm’s“ mit Gin, Pimm’s, Oregonpflaume und Minze, ca. € 12,50) gibt es verschiedene rote und dunkle Beeren. Sie sind nur auf den ersten Blick gewöhnlich und schon beim ersten Bissen unmissverständlich frisch gepflückt und geschmacksintensiv. Die kühlende, knackige Säure macht Spaß und passt gut zu den Getränken. Ein entspannter Start, der perfekt zum Flair dieses außergewöhnlichen Orts passt.

Zwei weitere Snacks werden aufgetischt: Forellenrogen in einem hauchdünnen, knusprigen Teigzylinder mit Frühlingszwiebeln und einer leicht säuerlichen Creme setzt bereits eine hohe Messlatte für das hier vorherrschende Handwerk (9/10). Es folgen marinierte und mit getrocknetem Stint „gewürzten“ Pfifferlinge, die durch diese Zubereitung angenehm leicht nach Salz und Speck schmecken. Die Textur der Pilze ist bissfest und weich zugleich und erinnert damit an gute, hausgemachte Pasta. Faszinierend gut (8/10).

Getoasteter Grünkohl mit einem Püree von lokalen (!) Trüffeln und Roggen-Krumen ist nicht weniger als ein Geniestreich. Der knusprige Kohl hat durch das ihm entzogene Wasser ein intensives, würzig-erdiges Aroma, das vom Trüffel kongenial ergänzt wird. Wo ist der Rest der Tüte? (10/10)

Während der vorherige Snack noch nachklingt – sowohl gustatorisch als auch emotional –, steht bereits der nächste auf dem Tisch: ein „Donut“ von geräuchertem Kohlefisch. Dieser ist genauso präzise zubereitet wie alles Vorherige, ist viel saftiger als er aussieht und schmeckt wohltuend nach Rauch und Meer (9/10).

Schon jetzt, nach diesem kurzen Auftakt, entsteht ganz unerwartet eine starke Assoziation zur Umgebung, die fesselnd ist. Man spürt die Mikro-Regionalität mit jedem Bissen. Das silbrig funkelnde Meer, dorniges Gestrüpp am Straßenrand, die hohen Nadelbäume: alles hier dient unmissverständlich als Beschaffungsquelle für außergewöhnliche Zutaten.

Es folgen wild gefangene Austern aus den hiesigen Gewässern (Olympic oysters), die ich zu den besten zähle, die ich je probiert habe. Sie sind sehr klein – diese Größe finde ich optimal – und intensiv jodig-salzig (8/10). Das Meer vor einem: es könnte nicht näher sein.

Langsam werden die Gäste hineingebeten, doch alles geschieht nach eigenem Tempo. Ich habe die ganze Zeit das Gefühl, in einem privaten Strandhaus zum Essen eingeladen zu sein. Es gibt auch keine Speisekarte. Man wird einfach bewirtet. (Das tasting menu steht später mit ca. € 175 auf der Rechnung.)

Auch das Interieur unterstreicht die lockere Stimmung. Ein Speisesaal, der wie ein Wohnzimmer eingerichtet ist, beherbergt heute eine größere Gruppe, im anderen Raum verteilen sich die Gäste auf mehrere Tische, einige davon mit Sitzbank zur großen Fensterfront. Die Räume sind über große Wandaussparungen und offene Türen fließend miteinander verbunden, genauso wie die Küche, aus der ständig Personal ein- und auskehrt. Die Stimmung ist einmalig.

Der erste Gang am Tisch ist eine Portion Pflaumenvon der Insel, die ich auf den ersten Blick für Tomaten halte. Auch geschmacklich wäre ich nicht sofort auf Pflaumen gekommen. Stattdessen schmecke ich Veilchen, Rose und weißer Pfirsich, und doch sind die Früchte komplett naturbelassen.

Dieser farbenfrohe Gang ist eine überragende Produktdarbietung. Niemals zuvor habe ich Pflaumen mit solchen Aromen probiert. Die kühle Temperatur besänftigt ein wenig die Euphorie. Doch allein wegen der faszinierenden Komposition der verschiedenen Pflaumensorten verdient dieser Teller, so wenig er auch mit „Kochen“ zu tun hat, eine Höchstnote. Ich werde mich für immer an diese Pflaumen erinnern. (10/10)

Es geht weiter mit weißem Thun (albacore) mit Gurke und Rettich. Die Qualität des Fischs ist außergewöhnlich. Das Fleisch schmilzt am Gaumen und ist durch einen spürbaren Fettgehalt ein optimaler Geschmacksträger. Auch die Temperatur des Gerichts ist perfekt: kühl, aber nicht kalt, und dennoch mit wahrnehmbaren Temperaturnuancen der Zutaten. Die Frische der Gurke und der Akzent des Rettichs unterstreichen das klare, frische Genusserlebnis, das sowohl geschmacklich als auch von den beteiligten „Parametern“ an höchstes Sushi-Handwerk erinnert. (10/10)

Optisch ähnlich geht es weiter mit „rockfish“ (das kann verschiedene Arten bezeichnen), in geräucherten und gegrillten Scheiben, und mit Algen-Öl aromatisiert. Während das vorherige Gericht elegant und leichtfüßig war, ist dieser Auftritt ein ganz anderer. An Eleganz fehlt es auch hier nicht, aber intensive Räucheraromen und deutliches Salz passen zu kaltem Pazifik, schaumiger Gischt und kantigen Felsen. Die Qualität des Fischs ist außergewöhnlich und macht auch dieses Gericht großartig. (10/10)

Herb tostada“ ist der nächste Streich. Auf einem Stück leicht fettigen, knusprigen Stück Gebäck, in das irgendwie auch Senf verarbeitet wurde und das dadurch angenehm würzig ist, befindet sich eine mit Austern und Koriandersamen hergestellten Creme. Darin steckt ein prachtvoller Strauß Blüten und Kräuter. Die fragile Kreation ist handwarm. Jeder der wenigen Bissen schmeckt ein wenig anders, irgendwo zwischen dem Gargouillou von Michel Bras und selbstgemachter Pasta mit Basilikumpesto. Handwerklich makellos, intelligent komponiert: ein verblüffender Hochgenuss. (10/10)

Es folgt ein Kürbispüree, welches man aus einer Zucchini herauslöffelt. Dazu gibt es Kapuzinerkresse-Blüten, die geschmackliche Parallelen zu Senf aufweisen. Die Komposition besticht zwar erneut durch makellose Zutaten, aber der etwas „bissige“ Geschmack ist hier nicht ganz mein Fall. Unter ein objektives „sehr gut“ rutscht jedoch auch dieser Gang nicht. (7/10)

Kalifornischer Taschenkrebs (Dungeness crab), eine Delikatesse des gesamten pazifischen Nordwestens, wurde für den folgenden Gang in Meerwasser gekocht, dazu gibt es Pinienkerne im Ganzen und als Püree. Die ätherischen Öle der Pinienkerne bieten eine fantastische Bühne für das zarte Krebsfleisch, welches trotz des ihm gebotenen Kontrasts exzellent zur Geltung gelangt. (9/10)

Geräucherte, scharf angebratene und bereits ausgelöste Miesmuscheln, mit denen zusammen noch Sonnenblumenwurzeln verarbeitet wurden (wie genau, kann ich nicht ausmachen), duften nach einem aufwühlenden Aromasammelsurium. Heißer Stein. Frisch gebackene Brioche. Geröstetes Kalbsbries. Pazifik. Als sich meine Gänsehaut legt, habe ich die Muscheln schon lange verspeist. (10/10)

Eines der besten Gerichte mit Lachs, die ich je gegessen habe, folgt. Im ersten von zwei Tellern finde ich ein gedämpftes Stück Filet: gehaltvoll, aromatisch, saftig, buttrig zart, sowohl das Fleisch als auch die Haut. Die Qualität ist phänomenal. Dazu gibt es sehr aromatische Kirschtomaten und einen Liebstöckelsud, der zusammen mit den Tomaten für würzigen Umami-Geschmack sorgt.

Auf dem zweiten Teller gibt es weitere Stücke des Fischs, alle gegrillt, sowohl vom Bauch (fettiger) als auch von Teilen in der Nähe einer Flosse (schön zum „Abzutzeln“, so ähnlich wie beim Steinbutt im Elkano). Eine grandiose Demonstration von Qualität, Purismus und Wohlgeschmack. (10/10)

Es ist atemberaubend. Diese kleine Insel. Die fröhlichen Menschen. Der gelassene Service. Die Wohnzimmeratmosphäre. Dieses über alle Maßen großartige, kraftvolle und glücklich machende Essen. Und die Abwesenheit sämtlicher Attribute, die in unseren, von hier weit entfernten, Breiten immer noch von so vielen Gästen mit einem Spitzenrestaurant assoziiert werden.

Wer würde schon erwarten, als „Gang“ eines Degustationsmenüs Brot mit Tunke serviert zu bekommen? Ist das nicht zu einfach? Im Gegenteil: es ist zu gut! Das aus altem Weizen (heirloom wheat) gebackene Brot ist noch warm, dicht und saftig. Man tunkt es in ein als „Pfannenreste“ (pan drippings) bezeichnetes salziges, heißes, würziges Elixier auf der Basis von stark reduziertem Hühnerfond. Vor lauter Genuss hat mein Verstand es schwer, sich mit seiner Ermahnung nach Mäßigung durchzusetzen, denn wir sind noch nicht am Ende. Doch erst als das Töpfchen vollkommen leer ist, lasse ich von dem Schmaus ab. Ein „Gericht“ ist das im kulinarischen Sinn wohl nicht, aber ich schlemme auf gleichem Niveau wie bereits den ganzen Abend.

Die Reise durch Flora und Fauna dieser Gegend fährt fort mit gegrilltem Lamm mit wilden Blumen, unter anderem Ringelblume. Wer Schönheit in „gebastelten“ Tellern findet, ist auch hier fehl am Platz, denn die drei dünn geschnitten Scheiben des Fleischs liegen hier ganz schlicht in einem rostbraunen Jus, der durch die Farbigkeit der Blüten und die heterogene Textur etwas an Ratatouille erinnert. Bereits der Duft weist auf das hervorragende Küchenhandwerk hin. (Der Zusammenhang zwischen olfaktorischer Wahrnehmung und Genuss ist ohnehin viel relevanter als z. B. bei visueller Wahrnehmung. Es ist wichtig, wie ein Gericht duftet, weniger wie es aussieht.)

Das Fleisch ist von bemerkenswerter Qualität. Es ist etwas magerer als meine Referenzen für Lamm bei Troisgros oder in der Auberge de l’Ill, büßt dadurch aber keinesfalls an Genussmöglichkeit ein, denn es ist genauso saftig, zart und aromatisch. Zusammen mit dem auch am Gaumen entfernt an Ratatouille erinnernden Jus, der durch den Bratenfond und die Blüten jedoch viel komplexer und feiner ist, hat dieses scheinbar einfache Gericht Klassikerpotenzial. (10/10)

Zum Beruhigen der Nerven gibt es einen „Verdauungstee“ (digestive tea) aus gerösteten Birkenzweigen. Sehr wohltuend, wenngleich ich jetzt auch gut etwas Kühles vertragen könnte.

Darauf muss ich nicht lange warten. Mazerierte Brombeeren mit Kamillen-Granité klingt nach einer bitteren Enttäuschung aus der nordischen Dessertküche, ist jedoch alles andere als das. Die Brombeeren sind süßlich, zugleich leicht säuerlich und prall mit Beerengeschmack. Die kühle Kamille dazu ist auf so angenehme Weise präsent, dass ich sie als „leuchtend“ empfinde. Exzellent! (9/10)

Dramaturgisch schlüssig wird es jetzt noch süßer, hier mit einem Eis und einer Creme von Duftnessel, einem Ysop-Gewächs, das kräuterig frisch schmeckt, irgendwo zwischen Estragon und Anis. Der (nicht zu starke) Kontrast zwischen dem kühleren Eis und der wärmeren Creme gefällt mir besonders gut. Auch hier: hervorragendes Handwerk und eine brillant ausgewogene Komposition. (9/10)

Es folgt noch ein Kürbiskern-„Fudge“, den man einfach mit einem Metallspatel aufnimmt und die nussig süße Masse genießt wie einen Löffel, den man gerade in Honig getaucht hat. Dazu gibt es ein hübsch verpacktes Brot zum Mitnehmen. Ich freue mich darüber für meine Weiterfahrt morgen früh, über die ich jetzt eigentlich noch gar nicht nachdenken möchte.

Meine Begeisterung an diesem Abend hat auf mehreren Ebenen stattgefunden. Da ist zum einen diese kleine, charmante Insel mit ihrem dornigen Gestrüpp, ihren kreischenden Möwen, den hohen Nadelbäumen, steinigen Ufern und dem silbrigen Meer. Dann gibt es auf dieser Insel ein Gasthaus, umgeben von alldem, bei dem ein Räucherhaus vor der Tür steht, in dessen Garten Köche Blüten zupfen und einige Gäste Boccia spielen (ich habe mich nicht besonders gut geschlagen). In dieser Kulisse entsteht eine Entspannung, die man in kaum einem Restaurant erleben kann.

Die Sonne, das Meer, die Terrasse, die maritime Schlichtheit des Hauses: all das sorgt für die perfekte Kulisse eines Festmahls. Dass es tatsächlich eines wurde, ist natürlich nicht dieser Kulisse zu verdanken, sondern (Moment, jetzt muss ich nach oben blättern, um seinen Namen zu suchen …) Blaine Wetzel. Dieser Koch – smarter Typ, bescheiden, höflich und leise – serviert hier ein Essen, von dem ich gespürt habe, dass es nur von hier kommen kann. Jeder Bissen, jede Geschmacksempfindung löste eine enge Assoziation zur Umgebung aus. Es war ein Essen mit feinsten, frischsten Zutaten in wohlschmeckenden, glücklich stimmenden Kompositionen.

Eines ist klar: Wer auf dieser Insel strandet, muss selbst dann nicht ums Überleben kämpfen, wenn die Fähre mal nicht fährt. Wer hier strandet, der kann schlemmen wie ein König.

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: Willows Inn (→ Website)
Chef de Cuisine: Blaine Wetzel
Ort: Lummi Island, USA
Datum dieses Besuchs: 27.07.2016
Meine Bewertung dieses Essens (?): 10
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