Lorenz Adlon Esszimmer – …

Ja, natürlich gehe ich auf diese drei Tupfer ein, mit denen Küchenchef Hendrik Otto seine Gerichte „signiert“. Dass ein Koch drei akkurate Creme-Tupfer auf jedem Teller zu seinem Markenzeichen macht, um eine Unverwechselbarkeit zu schaffen, ermöglicht einen interessanten Einblick in die Gedankenwelt eines Küchenchefs aus einem aktuell hochdekorierten deutschen Spitzenrestaurant.

Ottos Signatur lässt mehrere Interpretationsmöglichkeiten zu. Da die Zahl drei in der gehobenen Gastronomie unweigerlich mit drei Michelin-Sternen verknüpft ist, könnte die Signatur für den Wunsch nach höheren Weihen stehen. Oder für die Idee, man würde sich schon auf diesem Niveau befinden. Eine weitere Deutung wäre, dass Otto seine Kreationen als Kunstwerke sieht, die, wie bei Künstlern, eben signiert werden – eine inverse Interpretation des angelsächsischen Begriffs signature dish. Der Begriff „Markenzeichen“ fällt kurz, als man von sich aus auf die drei Tupfer eingeht, aber es ist mir schleierhaft, warum ein Küchenchef lieber mit drei Tupfern für einen Wiedererkennungswert sorgen möchte als mit den Speisen an sich, oder warum man in einem Restaurant, in dem der Gast ja üblicherweise weiß, wo er sich befindet, überhaupt irgendetwas wiedererkennen soll.

Am Ende ist man vermutlich angehalten, die repetitive Tellerdekoration nicht allzu ernst zu nehmen. Lediglich ein kleiner Scherz mit Creme-Tupfern – also eine perfekte Beschreibung vieler derzeit fehlgeleiteter Küchen in diesem Land. Das ist nicht zwingend eine Anspielung auf die Küche dieses Hauses, aber zumindest steckt für mich all das in dieser „Signatur“.

Es dauert eine Weile, bis man das Loren Adlon Esszimmer im ersten Obergeschoss des Hotels Adlon findet. Genauso gut könnte an dieser Stelle des Hauses auch ein Konferenzraum sein, in dem Apfelsaft und Mineralwasser auf die Abnahme durch ihre Teilnehmer warten. Doch es ist kein Konferenzraum in Sicht, stattdessen tritt man unverkennbar in ein Restaurant ein. In eines, das klassische Tradition lebt, die völlig aus der Zeit gefallen scheint. Wo viele andere abrüsten, gibt es hier noch holzvertäfelte Wände, Ölgemälde in vergoldetem Rahmen, mit Pflanzenornamenten gemusterten Teppichboden – und einen imposanten Blick auf das Brandenburger Tor.

Es gibt zwei Menüs (vier bis acht Gänge, € 145–205) sowie die Möglichkeit, à la carte zu speisen. Ich entscheide mich für das sechsgängige Menü „HO-Q I“ für € 175. Das ist eine Abkürzung für „Hendrik Otto Quintessenz“.

Zum Aperitif gibt es Senf-Wachteleier, versteckt unter sehr viel Kräutersalat (7/10); ein Knäckebrot mit Apfel-Sauerampfer-Eis und Curry-Popcorn (7/10); und einen Sauerteigbrotchip mit Apfelkäse, Lardo und Kümmel (7/10). Alles in allem angenehme, aber etwas zu mächtige Aperitifsnacks.

Angerichtet in einer Schüssel mit Steinen findet man verschiedene Brotsorten, die von gesalzener Butter mit Blüten sowie einer Trüffelmayonnaise begleitet werden. Letzterer kann ich keinen anderen Eindruck abgewinnen als dass dort mit Trüffelöl oder ähnlichem gearbeitet wurde. Der penetrante Sulfid-Geruch macht sich am Tisch breit wie ein ungebetener Gast. Das rühre ich nicht mehr an.

Ein Amuse-Bouche folgt in Form von gebackenem Apfel mit Lardo, Kümmel und Piment. Besonderes letzteres Gewürz ist sehr prononciert und sorgt dadurch für einen überraschend angenehmen, ätherischen Akzent. Ein dazugehörendes Glas mit gefrorenem Earl-Grey-Tee, Ananas und Calvados fügt sich in diese Geschmackswelt gut ein. Wenige und gute Produkte, ein Akzent an der richtigen Stelle, das überzeugt. (7,5/10)

Der erste Gang des Menüs ist ein Filet von roh marinierter Makrele. Obenauf rote Zwiebelmarmelade, knusprige Hühnerhaut und Dill. Daneben, in einem Stück gegarter Zwiebel, stecken weitere Kräuter und dehydrierte Spreewälder Gurken. Ein grüner Apfeljus steuert etwas Säure bei. Die Makrele ist von sehr guter Qualität, dürfte aber ruhig einige Grad kühler sein. Diese Temperatur – von vielleicht um die 30 Grad – ist weder Fisch noch Fleisch und sorgt für zusätzliche Schwere des ohnehin schon gehaltvollen Gerichts. Weiße, mit Paprikapulver oder Ähnlichem bestäubte, Pommes souflées findet man etwas verloren daneben. Sie schmecken nach nichts; schade um ihre aufwändige Zubereitung. Das ist alles sehr gekonnt, keine Frage, aber viel zu aufwändig für viel zu wenig Genuss. (7/10)

Es geht weiter mit mariniertem Lachs in einer Curry-Banane-Sauce unter einem Meer von Kräutern, vor allem Fenchel, Dill und Kresse. Einige Stücke Blutorange findet man auch irgendwo, insgesamt ist mir das etwas zu viel von allem. Die übertriebene Dosierung der Kräuter schmeckt stark nach Chlorophyll und etwas nach bitterer Medizin; die Sauce und der gehaltvolle Lachs mildern diesen Eindruck zwar etwas ab, aber auch hier fehlt mir ein Fokus. Möchte man eine Kräuterküche zelebrieren? Dann sind Lachs und exotische Sauce fehl am Platz. Möchte man den Fisch in den Vordergrund stellen? Dann sind Kräuter und Sauce zu viel. (6,9/10)

Ein Kaninchen-Navarin kommt mit rohen Champignons – eine gute Idee, um erdige, kühle Frische einzubringen – und einem aromatisch gelungenen Schmorjus, der nach Kräutern und Fleischsaft schmeckt, aber etwas zu stark angedickt ist. Das Fleisch ist aromatisch ansprechend und hat eine recht feste Textur. Letzteres würde man von einem Schmorgericht eigentlich nicht erwarten. Das ist keinesfalls ein Makel, aber immerhin eine Auffälligkeit, wenn man schon mal geschmortes Kaninchen gegessen hat. Alles in allem recht gelungen (7/10), wäre da nicht noch ein gigantischer italienischer Salat mit Tomaten, Zucchini, Artischocke, einem ganzen Strauch Basilikum und viel zu viel Öl mit dabei (6/10).

So grandios ist Basilikum dann nun auch wieder nicht, dass ich gleich hundert Blätter davon essen müsste. Es gibt in dieser Küche einen bizarren Drang zu einer völlig unkontrollierten, exzessiven Dosierung von Kräutern, an die ich nur ein großes Fragezeichen setzen kann. Worum geht es bei diesem Navarin eigentlich?

Es folgt ein von mir zu Beginn gewünschter Einschub aus dem anderen Menü: confierter Schweinebauch und Chili. Das klang in der Karte ausgesprochen verführerisch, nach saftigem, knusprigem Fleisch und etwas Schärfe. Was folgt ist ein erneutes Kräuterbeet mit leider zu trockenem Fleisch; dafür ist ein dazu gereichtes heißes Süppchen auf der Basis von Rinderbrühe mit Glasnudeln, Shiitakepilzen und Frühlingszwiebeln ganz fantastisch. Hitze, Aromen und Handwerk: hier ist alles in Balance, zum ersten Mal an diesem Abend. Wäre der Schweinebauch saftig anstatt trocken, und hätte man auf das Kräutermeer verzichtet und zum Beispiel mehr auf die singuläre Kraft von Chili gesetzt, wäre das ein herausragendes (asiatisches) Gericht. (7/10)

Das Menü fährt klassisch fort. Es gibt geschmorte Lammschulter mit „Gemüsesauce“, dazu fermentierten Knoblauch, Perlzwiebeln und Trauben – sowie Kräuter, die sich hier allerdings angenehm zurückhalten. Das Fleisch ist für ein Schmorgericht erneut etwas zu trocken, und ein à part servierter Falafel auf Kräuterquark zieht das eigentlich durch und durch französische Gericht unverständlicherweise in die Nahost-Ecke. Egal, wie man das dreht und wendet, wird das nicht besser als ganz in Ordnung. (6,5/10)

Ein Pré-Dessert mit Frischkäse und Kürbis schmeckt so „gut“ wie gewöhnlicher ein Kräuter-Brotaufstrich (6/10); ein Stück Pumpernickel mit, erneut, Frischkäse und „gesalzener Grapefruitschale“, getrockneter Zitrone, Buchweizen und Schnittlauch ist auch wieder zu mächtig und von der Temperatur her abermals unpassend handwarm (6/10).

Das Dessert (bestehend, u. a., aus verschiedenen Schokoladensorten, Limonenparfait und Teesorbet) sieht aus wie eine Skulptur von Joan Miró, der die Farbe fehlt. Aber es gibt dabei einen ganz wesentlichen Unterschied: das hier ist kein Kunstwerk, sondern ein Dessert. Eines, das zuerst versucht, Aufmerksamkeit mit Unwesentlichem zu erregen. Ich habe schon oft erlebt, dass Restaurantgäste beim Anblick derartiger Bauklötzchenteller ins Schwärmen geraten. Warum? Weil der optische Unterschied zu einem gutbürgerlichen Dessert – sagen wir, Kaiserschmarrn oder Vanilleeis mit Himbeeren – so groß ist. Die aufeinandergestapelten geometrischen Formen suggerieren Extravaganz, Einzigartigkeit und Besonderheit, also genau die Attribute, die viele Gäste ohnehin mit einem Abend in einem Restaurant dieser Art verbinden. Das besonders aussehende Dessert passt zum besonderen Anlass.

Wenn man aber anfängt, sich dem Konstrukt zu nähern, um es essen zu wollen – dessen einziger Sinn – fällt schon mal auf, dass man überhaupt nicht weiß, wo man mit dem Rückbau des Gebildes beginnen soll. Ebenfalls ist es plausibel, einen kurzen, instinktiven Moment der Abneigung gegen die farblose Optik des Desserts zu empfinden und sich tatsächlich einen gelbgoldenen, heißen Kaiserschmarrn an den Tisch zu wünschen. Mit Gedanken wie „Das ist ja ein wahres Kunstwerk!“ oder „Das ist eben etwas Besonders, Sterneküche eben!“ mag manch einer seine anfängliche Skepsis als profan abtun, aber es ist genau diese Skepsis, diese Zehntelsekunden der Unentschlossenheit zwischen Ratlosigkeit und falscher Demut, bei denen ich mir mehr Selbstvertrauen von vielen Essern wünschen würde.

Ein farbloses, massiges Konstrukt, das nach Bauklötzen aussieht, ist kein Dessert, das sich irgendjemand wünschen würde, der die Tür zum Schlaraffenland öffnet. Aber was, außer den Freuden aus dem Schlaraffenland, sollte man in einem Spitzenrestaurant denn vorfinden? Wir sind hier ja nicht bei der Avantgarde in Spanien, die die Grundprinzipien von Essen auf den Kopf stellt.

Ich möchte zur Verdeutlichung meines Punkts ein Gegenbeispiel nennen. Betrachten wir eine Crème brûlée, gerade serviert in einem kleinen Schälchen, die karamellisierte Schicht funkelt in einer Farbwelt zwischen Goldgelb und Dunkelbraun, der Glanz des geschmolzenen Zuckers lacht einen an. Es duftet nach Vanille und Karamell, und die Freude, die das Anbrechen der knusprigen Schicht bereitet – vielleicht hat man vorher schon etwas darauf herumgeklopft – ist groß. Das Geräusch des Aufbrechens der Zuckerschicht bereitet einen weiteren Glücksmoment, der vom Duft der Crème unterstützt wird. Am Gaumen dann erlebt man süßes Wohltun, in einen Kontrast zwischen heiß und kalt, zwischen weich und knusprig. Gutes Handwerk zahlt sich hier aus, schlechtes macht sich sofort bemerkbar; auch gute Vanille von industriellen Aromen kann man einfach unterscheiden. Da macht einem niemand etwas vor. Und auch die Portion reicht meistens aus. Es ist ein perfektes Dessert, das glücklich machen kann.

Wenn wir uns wieder unserem monochromen Teller zuwenden, wird jedem klar sein, dass dieser solche Freuden nicht leisten kann. Und damit hat dieses Dessert versagt. Es fällt schon konzeptionell in sich zusammen, bevor man es probiert. Und wenn man das dann schließlich tut, findet man Langeweile vor. Alles schmeckt gleich, zu süß, zu schaumig und ohne irgendeine erkennbare Zutat. Belanglose Astronautennahrung. (5/10)

Nun kann und sollte man nicht ausschließlich Crème brûlées zum Dessert servieren. Aber man kann und sollte immer Desserts (und überhaupt Speisen) auftischen, die ähnliche Freuden bereiten.

Keine der Speisen hat mir heute wahrhaftige Freude bereitet. Ich weise an dieser Stelle – gerade für neue Leser – noch einmal darauf hin, dass eine Bewertung von Gerichten in der Nähe von 7/10, von denen es einige gab, durchaus „sehr gutes“ Essen auf überdurchschnittlichem Niveau beschreibt (→ Bewertungssystem). Aber von einer Küche, die doch recht großspurig daherkommt (und zudem mit zwei Michelin-Sternen bewertet ist), darf man sich mehr erhoffen. Bessere Qualitäten, fokussierte Geschmacksbilder, präziseres Garen.

Ich möchte vor allem – und immer wieder – das Bewusstsein aller Gäste dafür schärfen, dass sie in einem Spitzenrestaurant eine Küche erwarten dürfen, die ihnen so viele Glücksmomente bereitet wie der Genuss einer Crème brûlée. Für intellektuell fordernde Küchen gibt es andere Adressen, und dazwischen gibt es – auf diesem Preisniveau – keinen Platz.

Eines der letzten Dinge, die ich aus dieser Küche sehe, sind die drei Tupfer unten rechts auf dem Dessertteller. Ich mache drei Kleckse, pardon, Kreuze, dass es die letzten sind.

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: Lorenz Adlon Esszimmer (→ Website)
Chef de Cuisine: Hendrik Otto
Ort: Berlin, Deutschland
Datum dieses Besuchs: 28.01.2017
Guide Michelin (D 2017): **
Meine Bewertung dieses Essens 6,5 (Was bedeutet das?)
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