Die verflixte erste Silbe

Da war schon wieder eines! Eines dieser absichtlich falsch ausgesprochenen französischen Wörter, vor denen man in den Reihen der gehobenen Gastronomie nicht davonlaufen kann. Ist es Ihnen nicht auch schon längst aufgefallen? Sätze wie „Darf ich Ihnen denn etwas zum Aperitif* anbieten?“, wobei das Wort Aperitif so betont wird wie das Wort Appenzeller, nämlich auf der ersten Silbe, anstatt, wie es richtig wäre, auf der letzten: Aperitif.

Möglicherweise haben Sie auch schon einmal für einen kurzen Moment Anstoß an solch einem Begriff gefunden, es dann aber als irrelevant betrachtet, oder — schlimmer noch —, man hat Sie vielleicht sogar in den Glauben versetzt, das Wort würde tatsächlich so ausgesprochen; schließlich muss der Kellner ja wissen, wovon er spricht. Aber so ist es nicht. Ihre Intuition war richtig, das Personal liegt falsch und weiß das auch. Es weiß auch, dass Sie als Gast wahrscheinlich keine Lust auf Konfrontation haben und den Affront einfach nickend akzeptieren. Die Tatsache, dass es sich stets um französische Begriffe handelt, ist der kleine Trick dabei. Oder würden Sie nicht in lautes Gelächter ausbrechen, servierte man Ihnen einen Wolfsbarsch? Nicht so beim Loup de mer. Da verstummen Sie, obwohl der Kellner den edlen Fisch gerade als Zuhälter bezeichnet hat: Lude-Mär. Haben Sie noch Appetit?

Bisher habe ich, genau wie Sie, hierzu geschwiegen. Ich habe jedoch vor, dieses Schweigen künftig zu brechen. Lange habe ich über mögliche Gründe für diesen linguistischen Auswuchs in der Branche nachgedacht und bin schnell zu dem Ergebnis gelangt, dass die falsche Betonung nichts mit sprachlicher Begabung zu tun haben kann. Hieran würde ich keinen großen Anstoß finden, da hat schließlich jeder Mensch ein anderes Talent. Eine falsche Betonung durch alle Branchenzugehörige hat eine völlig andere Qualität als die falsche Aussprache Einzelner. Ob jemand einen spanischen Tempranillo fälschlicherweise mit einem Doppel-l-Laut ausspricht wie seine favorisierte Urlaubsinsel, mag auch schockieren, hat aber mit diesem Thema nichts zu tun.

Wenn also alle falsch Betonen, dann muss dies mit Vorsatz geschehen.

Nun könnte man argumentieren, dass sich die falsche Betonung auf der ersten Silbe irgendwann einmal aus einem uns unbekannten Grund in die deutschsprachigen Küchen der Gastronomie eingeschlichen hat und seitdem an den jüngeren Nachwuchs weitergegeben wird. Dieser These ist allerdings entgegenzuhalten, dass die Küchenchefs eigentlich wissen sollten, wie die französischen Begriffe tatsächlich ausgesprochen werden. Ansonsten könnte man Ihnen zu Recht Unwissenheit auf einem Gebiet vorwerfen, indem Sie sich eigentlich besonders gut auskennen sollten, gerade in der durch französische Speisen und Begriffe dominierten Spitzengastronomie.

Ein weiterer Punkt, der meine Vermutung untermauert, die falsche Betonung geschehe vorsätzlich, ist, dass selbst diejenigen französischen Begriffe, die schon lange in die deutsche Sprache entlehnt wurden und demnach nicht erst im Rahmen einer Kochausbildung erlernt werden, ebenfalls falsch Betont werden. Das erschütterndste Beispiel hierfür ist sicherlich das allseits bekannte Wort Restaurant, das ausnahmslos von allen in der Gastronomie Tätigen wie Restaurant ausgesprochen wird. Restaurant, wie Resteessen.

Der Gast wird vom Reservierungsvorgang bis zum Dessert regelrecht damit bombardiert. „Gut, dann habe ich jetzt notiert, 20 Uhr für zwei Personen in unserem Restaurant.“ / „Zum Aperitif kann ich Ihnen heute anbieten…“ / „Als Amuse-bouche haben wir einmal auf der linken Seite…“ / „Für den Herrn dann der teau von der Gänseleber…“ (von welcher eigentlich?) / „Dann haben wir das Filet vom Holsteiner Reh…“ / „Hier ein kleiner Gruß aus der Patisserie…“ bishin zum Digestif.

Es ist kaum noch zu ertragen, und ich habe auch das Gefühl, dass es immer schlimmer wird. Ich warte schon auf den Tag, an dem man mir eine Variation von der Wachtel serviert.

Aber warum sollte all dies mit Vorsatz geschehen? Wer profitiert hiervon? Ich habe dafür eine Vermutung. Es ist die einzige Möglichkeit für das ansonsten zur Devotion verpflichtete Personal, Macht auf den Gast auszuüben. Es ist, als servierte man dem Gast absichtlich einen korkigen Wein und könnte sich dabei in Sicherheit wiegen, der Gast würde sich nicht beschweren. Hinzu kommt natürlich die innere Verbundenheit innerhalb der Branche. Das gemeinsame Sagen von Restaurant identifiziert jemanden sofort als Brancheninsider – und hat damit fast etwas Sektenhaftes. In jedem Fall schließt es den Gast aus, und das muss man sich nicht länger bieten lassen.

Ich fordere von der Branche entweder einen Wandel hin zur richtigen Betonung der französischen Begriffe oder gleich die Verwendung der deutschen Pendants – Verzeihung, Gegenstücke. Wer nicht Loup der mer sagen kann, muss eben Wolfsbarsch sagen. Wer nicht Restaurant sagen kann, muss Gaststätte sagen, und wer nicht Chardonnay trinken kann, muss eben Wasser trinken.

San!

*) Da es in diesem Beitrag viel um die Betonung von Silben geht, möchte ich von vornherein eine einfache Notation hierfür verwenden. Um die Betonung eines Wortes darzustellen, setze ich die betonte Silbe in Fettschrift. Ein paar Beispiele: Kuchen; Karrussell. Existieren in einem Wort mehrere betonte Silben, wird die stärker betonte Silbe zusätzlich unterstrichen, wie in Tischkultur oder Kultusministerium.