Auberge de l’Ill – mein Teil der Geschichte

Eine Aura der Erhabenheit liegt über dieser gastronomischen Institution, die 1950 von Paul Haeberlin ins Leben gerufen wurde und auch nach über sechzig Jahren eine Bastion der französischen Spitzengastronomie ist. Sohn Marc hat hier mittlerweile das Ruder übernommen und tritt damit in die Fußstapfen seines legendären Vaters. Alles Weitere kann anderswo nachgelesen werden, und das Einzige, das ich in der Lage bin, zur Historie dieses Restaurants beizutragen, ist meine eigene Geschichte.

Diese beginnt heute Abend gegen halb acht hier in Illhaeusern, einem pittoresken Dorf im Elsass, das mit seinem Namen in der Liste skurriler Ortsnamen nur einen der hinteren Plätze belegt. In der Nachbarschaft reihen sich ansonsten Wickerschwihr an Heiteren, Hartmannswiller an Lochwiller und Obersoulzbach an Handschuheim.

Im Interieur des Restaurants prägen Cremetöne und ein Teppich in denkwürdiger Tarnoptik das modern-behagliche Ambiente mit großer Fensterfront zum Wald.

Die Essensauswahl gestaltet sich in Anbetracht der gebotenen Vielfalt und jeweils unbekannten Machart und Menge als anspruchsvoll. Denn anstelle des Menüs „Haeberlin“ wähle ich lieber einige Gänge à la carte; und diese Auswahl will wohlüberlegt sein. Die berühmte boîte de sardines, die ich zu gern gekostet hätte, wurde leider von der aktuellen Karte gestrichen.

Meine Bestellung besteht schließlich aus zwei Vorspeisen, einem Fisch- und einem Fleischgang. Dass ich bei meiner A-la-carte-Wahl nicht dem sonst üblichen Dreiklang Vorspeise-Hauptgang-Dessert folge, scheint den Kellner zunächst hoffnungslos zu überfordern, als würde ich das gesamte Konzept der französischen Küche in Frage stellen. Es klappt dennoch.

Zum Champagner (Lallier blanc de blanc, € 18) werden die ersten Amuse-bouches serviert. Die Zusammenstellung ist gut, aber etwas teiglastig. Es ist nichts dabei, das Staunen auslöst, und, wie immer in solchen Fällen, deshalb als Auftakt enttäuschend.

Als weiteres Amuse folgt eine hervorragend gebratene Rotbarbe mit einem kleinen, sehr fein gewürzten Gemüsesalat, einem halben Artischockenherz und einer würzigen Fischsauce. Obgleich ich nicht immer der allergrößte Rotbarben-Freund bin, ist dieses Exemplar wirklich hervorragend. Der gebotene Produktpurismus ist allerdings etwas gewöhnungsbedürftig.

Bald darauf wird der erste Gang serviert, Les langoustines rôties au curry vert / sur une salade de haricots cocos et artichauts poivrades, pistou de coriandre et amandes fraîches (€ 58).

Die „optische Degustation“ vermittelt mir spontan mehrere Eindrücke: zum einen fällt auf, dass sich hier abermals halbierte Artischockenherzen auf dem Teller befinden, was in Anbetracht dieser nur mäßig verzückenden Zutat äußerst uninspiriert erscheint. Zum anderen macht das Gericht einen recht trockenen Eindruck auf mich – der recht karg erscheinende Kaisergranat, ein alles andere als saftig wirkender Bohnensalat, dazu etwas leblose Salatblätter. Keine Zutat hat den „Glanz, den das Auge erfreut“ (Bocuse).

Alle Eindrücke bestätigen sich auch am Gaumen. Ja, natürlich ist die Qualität der Krustentiere gut, aber diese Feststellung ist in einem Spitzenrestaurant nahezu nichtig. Eine Enttäuschung auf ganzer Linie zum Preis eines manch glanzvollen Menüs.

Bei meiner weiteren Vorspeise bin ich einer Empfehlung des Kellners gefolgt, der den plausiblen Vorschlag hatte, ein kleiner, leichterer Gang wie dieser sei als zweite Vorspeise genau das Richtige. Und obwohl mich eine Hauptzutat wie Eier normalerweise nicht besonders anspricht, lasse ich mich erwartungsvoll darauf ein.

Die Œufs pochés soufflés aux trois parfums, écrevisses, truffes et ris de veau (€ 48) sind indes alles andere als leicht. Drei pochierte, soufflierte Eier mit jeweils unterschiedlichem heißen Inneren – Flusskrebse, Trüffeln, Kalbsbries –, dazu Streifen von getoastetem Brot, sind äußerst üppig. Bestimmt ein Klassiker mit berechtigtem Platz in Kochbüchern über traditionelle französische Küche, doch das allein macht das Gericht nicht zu meinem Liebling. Mir ist es zu „behäbig“ und aromatisch zu undifferenziert (man nimmt fast nur die pochierte Eimasse wahr und verbrennt sich dann die Zunge am jeweils ähnlich schmeckenden Rest). Jedes gute Frühstücksei mit einer Scheibe Toast ist mir da lieber – allerdings nicht zum Abendessen.

Dass nach zwei Amuse-Bouches und zwei Vorspeisen noch immer nur Hoffnung auf kulinarisches Vergnügen besteht, ist frustrierend. Auch das sehr distanzierte Serviceteam ist nicht gerade erheiternd – es funktioniert nur, anstatt beispielsweise durch Sympathie und Leichtigkeit Wohlbehagen zu erzeugen.

Das Filet de sandre rôti au foin, petite tarte flambée aux croûtons d’anguille (€ 68), also Zanderfilet, wird makellos und auf Heu gebraten auf einer hervorragend aromatischen Sauce von grünen Kräutern serviert. Ebenfalls auf dem Teller findet man eine Art Küchlein, auf dem karamellisierte Stücke vom Aal mit Kräutern zu finden sind. Diese zunächst recht eigenartig anmutende Komponente steuert eine feine, dann aber doch etwas aufdringliche Süße bei. Dies ist bisher für mich das schmackhafteste Gericht – bleibt aber dennoch einem großartigen kulinarischen Erlebnis fern. Es ist guter Fisch mit einer vorbildlichen Sauce und einer guten Beilage, nicht mehr und nicht weniger.Alsbald wird auf einem Silbertablett ein vorzüglich aussehendes Stück einer sieben Stunden geschmorten Lammschulter präsentiert, aufgeschnitten und auf unseren Tellern, zusammen mit ofengegarten Kartoffeln mit Zwiebeln und einer Trüffelsauce, angerichtet. (L'épaule d'agneau Allaiton d'Aveyron rôtie et braisée sept heures, accompagnée de pommes boulangères aux truffes, € 155 für zwei.)

Das ist Produktqualität, die sich hervorzuheben lohnt! Das Fleisch ist zart, saftig und ungemein schmackhaft durch den hohen Fettanteil, und mühelos das beste Lammfleisch, das ich je gegessen habe. Erlebnisse dieser Art sind die Grundvoraussetzung für eine fortwährende Schulung des Sinns für Geschmack und Qualitätsverständnis. Demjenigen, der Lammfleisch nur in Form kleiner Abschnitte „mit alles“ in Fladenbroten zu sich nimmt, wird sich ein derartiges Erlebnis nie erschließen können. Er sollte hierhin reisen, um kuriert zu werden.

Doch verhält es sich auch bei diesem Gericht so, dass ich es in der dargebotenen Form nicht noch einmal bestellen würde. Es it fast nurFleisch auf dem Teller (spätestens bei der servierten zweiten Portion), abgesehen von dem Bisschen Sauce und den Kartoffeln. Prachtvolles Fleisch natürlich, aber so einen Teller erhoffe ich mir eher in einem Bistro als hier.

Für ein Dessert ist mir dann nicht nur die Lust vergangen, sondern hinsichtlich der üppigen Portionen auch schlicht der Platz. Für die petits fours reicht's dennoch.

Gastro-Kritiker Jürgen Dollase sagte einmal: „Das gute Produkt steht am Anfang jeder guten Küche“. Aber eben nur am Anfang, betone ich. Am Ende steht das, was man mit diesem Produkt anzufangen weiß. Und so sehr ich auch die Berechtigung dieser Küche, ihren Ruhm und ihr jahrzehntelanges Schaffen respektiere, habe ich all dies nicht auf meinem Teller wiederfinden können. Adieu et bonne nuit, Auberge.

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: Auberge de l'Ill (→ Website)
Chef de Cuisine: Marc Haeberlin
Ort: Illhaeusern, Frankreich
Datum dieses Besuchs: 01.06.2011
Guide Michelin (F 2011): ***
Meine Bewertung dieses Essens 7,5 (Was bedeutet das?)