Tim Raue – voll von vorn

Die pastellrosa glimmende Abenddämmerung, die kontrastreich hinter den dichten Laubbäumen leuchtet, dürfte keine Farbnuance anders sein. Genau so ist die Illusion perfekt. Es macht nichts, dass die Müllsäcke im Vordergrund etwas undeutlicher sind. Es macht auch nichts, dass überhaupt Müllsäcke in einem Restaurant zu sehen sind, denn es handelt sich hierbei um ein realistisch gemaltes, großformatiges Bild, in Szene gesetzt auf einer großen weißen Wand, wie in einer angesagten Kunstgalerie.

Tatsächlich ist das neue Restaurant von Tim Raue eine umgebaute Galerie. Deckenstrahler an Schienen und millimetergenau ausgerichtete Bilder versuchen nicht, diesen kreativen Ursprung zu verschleiern. Da soll noch mal einer sagen, Essen hätte nichts mit Kunst zu tun. Ob die Galerie zuvor angesagt war, weiß ich nicht, aber Raues Restaurant ist es jetzt.

Man hat ja viel gehört über das „Enfant terrible“ der Berliner Restaurantszene. Die Kurzfassung: Aufgewachsen ist Tim Raue unter prekären Verhältnissen in Berlin-Kreuzberg. Graffiti-Sprühen, Drogenkonsum und ernsthafte Schlägereien zählen damals zu seinem Alltag. Irgendwann will er da raus, und dann geht es schnell bergauf. Eine Küchenlehre, diverse gastronomische Stationen in Berlin und beachtliche Auszeichnungen folgen rasch. 2007 kamen dann der erste Michelin-Stern und 18 Punkte im Gault Millau für das inzwischen geschlossene „MA Tim Raue“ im Hotel Adlon mit chinesisch inspirierter Küche, und seit 2010 sorgt er nun mit seinem eigenen Restaurant für Gesprächsstoff, das kurz nach der Eröffnung schon einen Stern samt „Hoffnungsträger“ für einen zweiten erhielt. Es ist ebenfalls in Berlin-Kreuzberg. Back to the roots, sozusagen, dieses Mal allerdings ohne Straßen-Gang im Anhang. Durch einen düsteren Torbogen muss man trotzdem gehen, um zum Eingang zu gelangen.

Das Restaurant ist innen hell und schick, auf dem Tisch herrscht asiatische Schlichtheit. Über all dies nachdenkend, bekomme ich dann von entspannt gekleidetem und smart auftretenden Servicekräften verschiedene Dinge gereicht. Die Speisekarte, ein Glas Jacquesson Cuvée 735 (€ 14) sowie ein warmes, feuchtes Tuch für die Hände und gegen den Schmutz der Welt.

Das Stöbern in der Karte begleiten ein paar säuerliche und damit appetitanregende Snacks. Meine Wahl fällt schließlich auf das „menü unique in sechs Gängen (€ 148). Vorab werden, nacheinander, zwei Amuses gereicht. Das erste ein Süppchen, das Kürbis thematisiert und höchst aromatisch und pikant ist, regelrecht scharf, als wolle Raue damit sagen „Weicheier können draußen bleiben“. Mir gefällt’s, was auch immer ich daraus jetzt ableiten darf.

Noch besser ist dann der Teller mit winzigem Blumenkohl, Blumenkohlcreme, Schnittlaucheis und Reisessig, der hier durch elegante, rauchige Noten begeistert. Eine unkonventionelle Kreation voller Spannung und intensiver Aromen. Exzellent!

Es folgt Gang eins des Menüs, „Imperial Kaviar: Erbse / Wasabi“ – überaus reizvoll angerichtet. In einem intensiven Erbsensaft mit knackigen Erbsen findet man eine Koriandercreme, pikantes Wasabi-Eis, getoppt mit Imperial-Kaviar und Saiblingsrogen, dazu Ghoa-Kresse. Erstaunlich, wie alle Bestandteile des Gerichts ineinandergreifen und keine davon dominiert. Das Eis ist bspw. weder „zu kalt“ noch zu pikant und sorgt für eine angenehm cremige Verbindung zwischen den Fischeiern und den Erbsen. Sehr gut gelungen.

Es folgt der Gang mit dem lyrischen Titel „Abalone: buddha jumps over the wall“, der sich mir inhaltlich nur deswegen erschließt, da mir sowohl die Meeresschneckenart Abalone als auch die Zitrusfrucht „Buddha’s Hand“ schon mal über den Weg gelaufen sind (zum Beispiel im El Bulli undOud Sluis). Unverarbeitet habe ich diese Rohstoffe allerdings noch nie zu Gesicht bekommen. Ein Mangel, der heute Abend zumindest größtenteils nachgebessert wird. Die skurrile Zitrusfrucht mit fingerdicken Auswüchsen wird auf dem Tisch zum Anfassen in einer Schüssel präsentiert, und die ansehnlichen Perlmuttschalen der Abalone gibt’s als Souvenir zum Mitnehmen.

Wenig später auf dem Teller findet man dann akkurat und kreisförmig um die Abalone angerichtete Zutaten (nämlich die besagte Zitrusfrucht, Bambus-Pilz, Wintermelone, Wasserkastanie und wilde Gurke), die mit einem Sud aufgegossen werden. Das Gericht will erkundet werden wie der Grund eines Ozeans. So erschließt sich einem die vielschichtige und subtile Aromatik nicht unmittelbar, sondern erst nach einigem „Hinschmecken“. Dann jedoch kommt der Ozean mit voller Wucht. Kraftvoll aromatisch ist der Sud und nachhaltig die Schärfe; wie eine Welle, die am Strand bricht und sich langsam wieder zurückzieht. Die Abalone schmeckt tatsächlich nach Meer, nur nicht salzig. Ein träumerisches, poetisches Gericht!

Auf ähnlichem Niveau folgt „Wolfsbarsch: Alba-Trüffel / 20 Jahre alter Reiswein“. Der Fisch ist perfekt und klassisch in Butter gegart, darauf ein Püree mit Alba-Trüffeln. Das ganze liegt auf einem Nest von Wasserspinat. Am Rand des Tellers findet man Steinpilzconfit und Piemonter Haselnuss; der Reiswein aus dem Titel ist Bestandteil der Sauce mit Nussbutter. Verblüffend gut ist die Kombination aus den klassischen Zutaten Wolfsbarsch, Püree und Trüffel auf der einen Seite sowie dem erfrischenden, ungewöhnlichen Meereskraut, der charaktervollen Sauce und den Haselnüssen auf der anderen. Natürlich fehlt auch hier nicht die Schärfe, die sich wie ein roter Faden durch das Menü zieht und niemals übertrieben oder plump ist, sondern bei jedem Gericht eine andere Rolle spielt. Auch dies ist ein hervorragender Gang.

Zugegebenermaßen unkonventionell zu alldem ist sicherlich auch meine Weinauswahl, ein 2003erVosne-Romanée von René Engel (€ 148) – eine der letzten wenigen Flaschen im Restaurant –, doch es musste heute Abend einfach roter Burgunder sein. Er ist sehr gut! Ohnehin passt das Attribut „unkonventionell“ hier gut ins Bild.

Der vierte Gang des Menüs ist „Reh: Miso / Roter Pfirsich“. Das Stück Rehrücken ist außergewöhnlich gut gegart; eine pikante Miso-Creme, Brunnenkresse, ein Kompott von rotem Pfirsich und darauf eine Teigtasche mit Innereien (Herz, Leber, Zunge) erlauben neuartige, gefällige Geschmackseindrücke. Wenngleich mir das Gericht in Summe etwas zu salzig ist (ist es die Sauce?), erfrischt Tim Raues kreative Auswahl an ungewöhnlichen Kombinationen und Zutaten ungemein.

Das Diamond Label Beef Onglet sieht sehr verlockend aus. Einer meiner Lieblingsschnitte vom Rind (das Onglet ähnelt dem etwas häufiger angefundenen flank steak) ist hierbei in einem geleeartigen Trüffeljus angerichtet („Beef-Tea-Jus mit Périgord-Trüffel“). Dazu, am Rand des Tellers, findet man rote Bete in kleinen Türmchen, Johannisbeergelee und Perlzwiebeln. Das Fleisch ist von hervorragender Qualität und Textur, doch danach verliert mich das Gericht. Der Jus, der von den Zutaten her Herzhaftigkeit vermuten lässt, ist ziemlich süß, und für die erdig-fruchtige rote Bete gibt es sicherlich ebenfalls treffendere Mitspieler als Rindfleisch. Qualitativ hochwertig, aber geschmacklich nicht mein Fall.

Nach einem erfrischenden Pré-dessert folgt Caramel Beurre Salé (als Sauce) mit einer daraus auch konstruierten Kugel, die im Wesentlichen mit Passionsfruchtschaum gefüllt ist. Zu den weiteren Zutaten, laut Karte, zählen Madagaskarpfeffer und japanische Kastanienpaste. Kurzum, das ist fruchtig-frisch, schmeckt überwiegend nach schaumiger Passionsfrucht und ist damit, ehrlich gesagt, kein besonders denkwürdiges Dessert. (Das Pendant aus dem anderen Menü, Amadei-Schokolade: Tamarinde / Mandarine kommt hingegen am Tisch besser an.)

Unwürdiger Abschluss des bisher in großen Teilen hervorragenden Menüs ist dann eine überwiegend wässrige (Un)aufmerksakeit der Patisserie mit Kreuzkümmel und Birne; und auch von den dazu gereichten Pralinés mit Jasmin ist eine ausreichend.

Trotz der etwas enttäuschenden Entwicklung des Menüs zum Schluss, hinterlässt der Abend starke kulinarische Impressionen. Tim Raue begeistert durch den gelungenen Einsatz vieler ungewöhnlicher (fernöstlicher) Zutaten und durch mutige Akzente, die eine sehr individuelle, äußerst erlebenswerte Handschrift ergeben. Auffällig ist, dass Time Raue da am besten ist, wo er am dollsten zuhaut. Ganz wie früher.

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: Tim Raue (→ Website)
Chef de Cuisine: Tim Raue
Ort: Berlin, Deutschland
Datum dieses Besuchs: 21.10.2011
Guide Michelin (D 2011): *
Meine Bewertung dieses Essens 7,5 (Was bedeutet das?)