De Librije – Kalbsbries statt Kaffee

Was sich Jonnie Boer und seine Frau Thérèse in der ehemaligen niederländischen Hansestadt Zwolle aufgebaut haben, ist absolut beeindruckend. Sie betreiben das außergewöhnliche und charmant individuelle Designhotel Librije’s Hotel (in den Gemäuern eines ehemaligen Frauengefängnisses), das Feinkostgeschäft Librije’s Winkel, die Kochschule Librije’s Atelier und die zwei Restaurants Librije’s Zusje und De Librije mit zwei bzw. drei Michelin-Sternen. Die Reputation dieser Hotel- und Gastronomieinstitution ist längst international; nicht zuletzt die Gäste aus aller Welt sind hierfür der schlagkräftige Beweis.

Gegen 19 Uhr bringt uns der moderne und augenzwinkernd umgesetzte Butlerservice des Hotels mit einer Mercedes-Limousine direkt vors Restaurant, das in einer ehemaligen Bibliothek aus dem 15. Jahrhundert beherbergt ist.

Den Speisesaal zieren extravagante Details wie ein großer Kronleuchter aus Kunststoff, als Reflektoren dienende Deckenspiegel und andere moderne Designelemente. Das ist sicher nicht jedermanns Geschmack, aber eindrucksvoll – und behaglich für einige hoffentlich genussreiche Stunden – ist es ohne jeden Zweifel.  Zu zweit sitzt man besonders gemütlich nebeneinander an einem der Tische mit halbkreisförmiger, gepolsterter Sitzbank.

Auf Gäste mit unterschiedlichen Vorlieben bestens vorbereitet, bietet das De Librije nebeneinem großen Menü (€ 182,50), das irreführenderweise „mini menu“ heißt, auch ein vegetarisches Menü (€ 135) sowie eine A-la-carte-Auswahl an. Ich brauche keine Minute, um mich zu entscheiden. Möge der Spaß beginnen!

Ein knuspriges Röllchen mit Erdnuss und Gewürzgurke mit hohem Genussfaktor markiert den Einstieg in die Snacks. Exzellent schließt die Ofenkartoffel mit Sour cream und Schnittlauch daran an, die besonders durch ihre Räucheraromen begeistert. Klein und fein.

Außergewöhnlich präsentiert werden zwei Häppchen mit Zunge (roh!) und Haut von Kabeljau. Auch das schmeckt sehr gut, ebenso wie eine Darbietung von Blüten mit verschiedenen Füllungen (ohne Foto).

Es folgt ein Tatar vom Rind, das auf dem eigenen Handrücken angerichtet wird. Effekthascherei ist das nur zu einem vernachlässigbaren Teil, denn der infantile Akt, das kleine Häppchen von der Hand abzuschlecken, steigert die Süffigkeit der an sich schon köstlichen Kleinigkeit. Natürlich werden im Anschluss daran Tücher zum Reinigen gereicht. Genuss mit Charme.

Insgesamt war das ein grandioser Auftakt. Warum? Weil alles hervorragend geschmeckt hat! Ich kann diesen (bei einem solchen Essen wichtigsten Punkt) nie genug unterstreichen.

Als erster offizieller Gang des Menüs geht es wenig später weiter mit Gänseleber, Saft von fermentiertem Rotkohl, Mandel, schwarzen Oliven und Nordseekrabbe. Das Gericht ist optisch, aromatisch und sensorisch ein Highlight. Die Gänseleber ist fein würzig und genau richtig portioniert – ein Aspekt, den ich gerade bei Gerichten mit sättigender Leber als besonders wichtig erachte. Mit der Gänseleber verbinden sich dann am Gaumen die anderen Komponenten mit sowohl süßlichen als auch säuerlichen Aromen und sorgen für ein gleichermaßen kontrastreiches wie harmonisches Gesamtbild. Äußerst gelungen.

Das mit Langustine, Petersilienwurzel, Kohl und Fichtenöl übersetzte Gericht verwirrt mich zunächst in der Beschreibung, da es eine „Langustine“ nicht gibt und auch die Form des Krustentierfleischs nicht so recht auf die richtige Gattung schließen lässt. Ich vermute, es handelt sich entweder um Teile vom Kaisergranat oder um klein portionierte Teile einer Languste. Lässt man solche Spitzfindigkeiten beiseite, fällt dieses Gericht dennoch etwas ab. Das Geschmacksbild ist kohlig/röstig/räucherig, aber auch ein wenig monoton. Kurzum: sehr gut, aber nicht hervorragend.

Mit Seeteufel, Rollmops, Liebstöckl und Baharat gelingt dem Küchenteam ein sofortiger Anschluss an die vorherige Vorzüglichkeit. Zunächst muss der hervorragende Seeteufel betont werden, der ganz sicher zu den besten zählt, die ich je gegessen habe, und nichts von der manchmal etwas zu fleischigen, trockenen Textur aufweist, die diesen Fisch zuweilen etwas unfein wirken lässt. Dieser hier ist hochfein, zart und saftig, was vermutlich an der außergewöhnlichen Zubereitungsmethode in einem Glasgefäß liegt. Doch was an diesem Teller besonders gefällt, ist die mutige Komposition einer durch und durch säuerlichen Geschmackswelt, die ganz sicher nicht jedermanns Sache ist. Meine schon! Es ist die Art von appetitanregendem Säurespiel, bei dem einem in wahrstem Sinn das Wasser im Mund zusammenläuft. Einzigartig!

Roh marinierte Jakobsmuschel mit „Sellerie BBQ“ ist, allein betrachtet, ein sehr gelungener kleiner Gang, doch schon zum vierten Mal im Menü stehen Räucheraromen sowie auch eine deutlich präsente Säure im Vordergrund der Komposition, was mittlerweile etwas monoton erscheint. Die Sauce ist zudem befremdlich geleeartig. Das hört sich jedoch schlimmer an als es ist, denn am Gaumen kann das Ensemble durchaus begeistern.

Ähnlich verhält es sich mit Makrelenbauch, Madras-Curry und Tomaten sowie einem Ei. Hier kann der fettreiche Protagonist jedoch deutlich mehr begeistern und geht mit dem Ei und den weiteren Zutaten ein wohlschmeckendes Ganzes ein. Auch hier ist die Sauce jedoch übertrieben verdickt, was mich jetzt zu stören beginnt und einfach zu weit weg von einer gekonnten, klassischen Sauce ist.

Als sehr gelungenes Intermezzo zupft man wenig später ein pfeffrig-pikant schmeckendes Blatt von einem (in einem nahegelegenen Teich wachsenden) Strauch und nimmt dazu eine eingelegte Tomate zu sich: fertig ist eine Bloody Mary. Das eigentümliche Blatt bringt sowohl die Schärfe des Pfeffers als auch die leichte Bitterkeit des sonstigen Bestandteils Vodka mit sich. Genial kombiniert! Auch wenn die Schärfe des Schilfgewächses noch ein paar Gänge anhält…

Als Hauptgang folgt Lammrücken gereift in Bienenwachs, leicht geräucherte Auberginen und Sauce von grünen Bohnen und Kamille. Das farbenprächtige Gericht spielt ebenfalls auffallend, aber diesmal nicht gefallend, mit Säure, denn nun kommt das eigentliche Produkt dabei leider kaum zur Geltung, Bienenwachs hin oder her. Mehr Fleisch, weniger verspieltes Beiwerk wäre bei diesem Teller wünschenswert gewesen, zumal mir an dieser Stelle des Menüs durchaus nach einem exzellenten Fleischgang gewesen wäre.

Nach diesem kleinen Dämpfer geht es weiter mit „Japanischer Knoten oder Epoisses“ (sic), ein außergewöhnliches Gericht mit Kaninchennieren(!), Estragon, Buttermilch und Ingwerbier. So wenig sich mir der Titel des Gerichts erschließt und so seltsam das Ensemble anmutet, schmeckt es schlicht hervorragend. Der eigentlich sehr kräftige Epoisses-Käse wird durch die anderen Komponenten in Schach gehalten – aber nicht mattgesetzt. Auf diese Weise entsteht ein herzhaftes, süffiges Gericht, das Laune macht und beeindruckt.

Es geht über zu den Desserts. Auf einem mit Eis gefüllten Kissen wird „Himbeere“ serviert, das einen frischen und pikanten Eindruck hinterlässt; danach Thai „green curry“ Erdbeere mit unreifen Erdbeeren sowie Schärfe und Exotik als Leitthemen. Als bekennender Süßspeisenfreund am Ende eines Menüs ist das alles nichts für mich. Ich merke an, dass ich mich jetzt noch sehr gut für etwas wirklich Süßes begeistern könnte, was der junge Kellner mit einem verständnisvollen „okay“ quittiert und wenig später einen Extragang servieren lässt.

Und was für einen! „Großmutters Apfelkuchen zerstört“ kommt in einer Holzschachtel und präsentiert sich als zunächst optisch reizvolle Dekonstruktion des Kuchenklassikers. Wie das mit Dekonstruktionen so ist, tastet man sich spielerisch wieder ans Zusammensetzen der Einzelteile. Der Reiz dabei ist, dass man immer wieder neu und anders kombinieren (oder sich auch einzeln vortasten) kann – eine Möglichkeit, die einem beim bereits zusammengesetzten Kuchen verwehrt bleibt.

So probiere ich ein Rumeis hier, warme Apfelstückchen dort, kombiniere mit Teigbröseln, einem Zimtparfait und einem Vanillegel… Jede Gabel ist köstlich. Klappt doch, mit dem Süßen!

Nach einer weiteren humorvollen Kleinigkeit in Form des essbaren Joints sieht das Menü jetzt eigentlich einen Abschluss mit Pralinen vor, doch die (relative) Enttäuschung des Hauptgangs und das damit verbundene Gefühl, kein vollständiges Menü genossen zu haben, macht mir zu schaffen. Auf die Frage, ob mir nach den Desserts nun nach einem Kaffee sei, verneine ich dankend – nach dem Kalbsbries (das mir zu Beginn des Menüs im A-la-carte-Teil auffiel) sei mir viel mehr. Weniger perplex als ich vermutet hatte, nimmt der souveräne Kellner mir auch diesen Wunsch gerne ab.

Und noch bevor ich als Fazit des in großen Teilen exzellenten Menüs stehenlassen muss, dass es mir – trotz hervorragender Geschmackserlebnisse – häufig an dem fehlte, das man Produktküche nennt, und mir auch das klassische Fundament in Teilen etwas zu vernachlässigt wurde (Desserts, Saucen), schließt zumindest dieses Gericht diese Lücke perfekt. Ein grandioses Produkt, perfekt zubereitet, steht im Mittelpunkt, die unterstützende Sauce ist hervorragend. Herzhaft, sehr überzeugend und ungemein wohlschmeckend.

Zufrieden, gesättigt und mich mit der charmanten Idee anfreundend, künftig häufiger noch einen Hauptgang nach den Desserts zu mir zu nehmen, verlasse ich das Restaurant. Der Freigang ist beendet.

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: De Librije (→ Website)
Chef de Cuisine: Jonnie Boer
Ort: Zwolle, Niederlande
Datum dieses Besuchs: 11.07.2012
Guide Michelin (NL 2012): ***
Meine Bewertung dieses Essens 8,5 (Was bedeutet das?)