The Fat Duck – alles im Wunderland, Teil 2

Heute ist einer der Ich-nehme-den-Michelin-beim-Wort-und-setze-mich-ins-Flugzeug-nur-um-da-und-da-Essen-zu-gehen-Tage. Was Essverrückte eben so machen. Nach einem windigen Landeanflug (gar nicht mein Fall) auf London-Heathrow, einer vierzigminütigen Zugfahrt durch die verregnete, graue Provinz westlich von London (auch nicht mein Fall) und einer kurzen Taxifahrt (schon besser) komme ich an diesem Mittwochnachmittag endlich in meinem Hotel an. Dies versteckt sich irgendwo in der Nähe vom Gourmetwallfahrtsdorf Bray und hat fünf oder vier Sterne. Das kann man nicht so genau sagen. Auf dem Schreibblock im Zimmer sind es vier, auf einem Schild in der Auffahrt sind es fünf. Sei es drum, für zwei berauschte Nächte wird es ausreichend sein.

Viel genauer nehme ich es heute Abend natürlich mit den drei Sternen des The Fat Duck. Hier möchte ich schon seit Jahren hin; doch solche Orte gibt es viele. Dennoch: Heston Blumenthals Restaurant ist legendär. Von dem Stempel der ohnehin nichtssagenden Bezeichnung „Molekularküche“ lasse ich mich dabei nicht abschrecken. Die Zeiten, in denen „Sphären“ und „Espumas“ um ihrer selbst willen serviert wurden, sind längst Schaum von Gestern. The Fat Duck ist nicht für sinnlose Spielereien bekannt, sondern für eine Küche, die sich umfassend mit dem sensorischen Erlebnis Essen beschäftigt und dies bereits seit Jahren mit einem nur wenig changierenden Menü zu perfektionieren versucht.

Gegen acht Uhr sitze ich dann am Tisch des gedrungenen Restaurants mit weiß gestrichenen Wänden, dunklen Holzbalken und einer sehr niedrigen Deckenhöhe. Einige Gäste und Kellner müssen sich sogar bücken. Es ist gemütlich hier, und alle Leute vom Service sind freundlich und guter Dinge. Zumindest die Heiterkeit dürfte heute gespielt sein, denn einen Tag zuvor sind auf tragische Weise zwei Köche dieses Restaurants in Hong Kong tödlich verunglückt. Von Trauerstimmung ist jedoch – ganz professionell – nichts zu spüren.

Bei einem Glas Deutz Rosé 2002 für freche £ 34 stöbere ich im (einzigen) Menü (£ 195), das im Ledereinband vor mir liegt. Die Weinkarte ist umfangreich und, wie das Glas Champagner, maßlos überteuert. Anstatt mich also mit einem halbwegs guten Wein für zweihundert Pfund abzugeben, wähle ich lieber die Weinbegleitung für £ 125. Das ist zwar immer noch recht viel für die aufgeführten Weine, aber ein Schnäppchen im Vergleich zur zweiten angebotenen Weinabzocke für horrende £ 285. Das Alibi-Glas 96er Château d’Yquem zum Dessert ist da nur lächerliches „Name-Dropping“ für kaufkräftige, aber unwissende Klientel. Eigentlich eine Schande. Natürlich ist Wein in solchen Restaurants nie günstig (sondern üblicherweise die einzige Gewinn bringende Einnahmequelle), aber so überzogen habe ich das selten gesehen.

Doch es gibt keinerlei Anlass für getrübte Stimmung. Eine kleine Kugel mit roter Bete und Rettichfüllung setzt gleich zu Beginn einen Akzent. Die knusprig-luftige Textur des Snacks macht Spaß; die leichte Süße und eine angenehme Frische lassen mich positiv überrascht die Augenbrauen heben.

Auch der nächste Happen, Nitro Poached Aperitifs, den man wahlweise als „Vodka and Lime Sour“, „Gin and Tonic“ oder „Campari Soda“ zu sich nehmen kann, überzeugt. Eine entsprechende Masse wird hierzu kurz in Stickstoff „pochiert“ und mit einem Pulver bestäubt. Man verzehrt das zügig im Ganzen, und es ist tatsächlich wie ein kleiner, eisgekühlter Drink. Natürlich muss man das nicht so machen, aber man kann.

Hervorragend in seiner Einfachheit ist dann Red Cabbage Gazpacho, eine kühle Rotkohlsuppe, die mit einem herrlich cremigem, leicht pikanten Pommery-Senf-Eis serviert wird. Geschmacklich und sensorisch perfekt!

Ich bin höchst gespannt, wohin diese Reise führen wird, denn eine eigene Handschrift drängt sich mir an dieser (zugegebenermaßen frühen) Stelle noch nicht auf. Es könnte jetzt auch ganz „klassisch modern“ weitergehen, und man verlässt irgendwann zufrieden das Restaurant. Doch ab dem nächsten Gang wird mir alles etwas klarer.

Da wird zunächst ein Holzkasten mit Moos auf dem Tisch platziert – waldig soll es werden, so der Kellner. Darauf liegt eine kleine Schachtel, aus der man ein kleines Gelatineplättchen angeboten bekommt, das man sich zunächst auf der Zunge zergehen lässt. Ein angekündigtes Eichenmoos-Aroma kann ich wegen der geringen Menge nicht so recht ausmachen.

Nun wird Wasser auf das Moos (und das nicht sichtbare Trockeneis darunter) gegossen, woraufhin milchiges Kohlendioxid den Essplatz zeitweilig in eine nebelig-waldige Atmosphäre verwandelt. Arzak lässt grüßen. Der große Unterschied zu Letzterem: Die appetitlichen Kleinigkeiten, die hier vor einem stehen, schmecken allesamt ausgezeichnet und haben alle einen Bezug zum Spektakel drumherum.

Im Einzelnen: Ein Toast mit Trüffeln und Radieschen ist luftig-kross und erdig-waldig. Auch das Wachtelgelee mit weiteren Schichten in Form von Krustentiercrème und Entenleberparfait ist hervorragend und dem waldigen Motto treu.

Im Wesentlichen waren das also zwei sehr gute, handwerklich und aromatisch exzellente, Gerichte. Wozu dann das ganze Theater? Ich wage eine Erklärung: Die meisten Esser, wie auch ich, dürften erlebt haben, dass Gerichte, die allein durch ihr Aroma in der Lage sind, vor dem geistigen Auge Bilder und Erinnerungen zu erzeugen, die besten Gerichte sind. Die beiden Gerichte hätten mich zwar auch ohne Trockeneis an Wald erinnert, aber das geht vermutlich längst nicht jedem so. Blumenthal gibt mit seiner Inszenierung also nur einen Anstoß, in welche Welt das Gericht den Esser entführen soll. Kommen dann noch eigene Assoziationen und Erinnerungen hinzu, umso besser. Die Tatsache, dass hier jemand auf ganz hohem Niveau und mit allerbesten Produkten kocht, ist mit diesem Gang längst abgehakt.

Kurzum: Weiter so lecker auftischen bitte!

Wie gewünscht, so bekommen. Snail Porridge mit Iberico-Schinken und geschabtem Fenchel begeistert mich mit einem feinen, kräuterigen Aroma und einem abwechslungsreichen Texturspiel. Das ist süffig und elegant zugleich. Ein unverschämt perfekter kleiner Gang, der durch seine Bodenständigkeit das Menü wieder „erdet“.

Die Weinbegleitung dagegen hinkt. Nicht bezüglich der Weine an sich, sondern wegen der regelrecht geizigen Zurückhaltung. Die zwei mickrigen Schlucke, die pro Glas eingeschenkt werden, hatte ich zu Beginn glatt mit einem Probeschluck verwechselt. Nach dem Motto: Ja, der Wein ist gut, Sie dürfen gerne einschenken. Mehrmals bitte ich um Nachschub, dem der Sommelier zwar nachkommt, doch die Knauserigkeit ist unverkennbar.

Doch das Essen macht sämtliche Anflüge von Weinfrust wieder wett. Die gebratene Gänseleber (Roast Foie Gras) ist eine meiner neuen Referenzgerichte mit diesem Produkt. Der zarte Schmelz und die perfekte Garung sind phänomenal; eine fruchtbetonte, aber nicht zu süße Sauce aus Berberitze, sowie geschmorter Kombu verleihen dem Gericht eine erfrischende Note. Ein klassisches Produkt wurde hier ganz zeitgemäß und ohne Firlefanz in Szene gesetzt.

Die Dramaturgie des Menüs ändert sich dann wieder mit dem nächsten Gang, der schon fast als eigener Akt bezeichnet werden kann. Die Mad Hatter’s Tea Party („Teeparty des verrückten Hutmachers“) vereint ein klassisches englisches Gericht aus dem 19. Jahrhundert – die Mock Turtle Soup – mit Ideen aus „Alice im Wunderland“. Was eine unechte Schildkrötensuppe, eine Teekanne, ein verrückter Hutmacher und eine goldene Taschenuhr gemeinsam haben, lässt sich am besten in Lewis Carolls Kindergeschichte nachlesen. Heute Abend auf dem Tisch sieht das Ganze wie folgt aus:

Vor mir wird eine mit heißem Wasser gefüllte Teekanne platziert, die auf einer Tasse steht – beide aus Glas. In der Tasse befinden sich bereits einige Zutaten (Gemüse, Pilze, Kalbskopfwürfel und ein Wachtelei). Nun wird eine Schatulle an den Tisch gebracht, in der sich eine goldene Taschenuhr mit Kordel und Etikett befindet.

Wie einen Teebeutel löst man die Uhr durch dann mehrmaliges Schwenken in der Teekanne auf, deren Inhalt sich dadurch in Kalbsbrühe (mit Blattgold) verwandelt. Diese Brühe gießt man dann in die Tasse, et voilà, fertig ist eine ungemein aromatische Mock Turtle Soup – und eine nicht zu verbessernde klare Suppe.

Dazu wird eine Etagère in Hutform gereicht, auf der sich drei äußerst schmackhafte Toast Sandwichesbefinden. Ich hätte auch zehn davon gegessen, so hervorragend sind die Schnittchen mit Trüffel, Gurke und weiteren Zutaten. Ein in jeder Hinsicht fabelhafter Gang.

Abermals vermisse ich etwas Wein. Der „Probeschluck“ reichte gerade mal bis zur Präsentation der goldenen Uhr …

Ein „Meeresspaziergang“ in eigenwilliger Präsentation folgt dann in Form von „Sound of the Sea“. Zu einem Glasteller mit mehreren Leckereien – u. a. Makrele, Jakobsmuschel, Austernschaum („Gischt“) und Tapiokapulver („Sand“) – wird eine Muschel gereicht, aus der Kopfhörer herausbaumeln (ja, die Schutzkappen werden für jeden Gast ausgetauscht).

Während man also die wirklich exzellenten Meeresfrüchte genießt, sollen Geräusche von Meeresrauschen und kreischenden Möwen den Esser ans Meer versetzen. Kurzum: das akustische Intermezzo ist zwar ganz angenehm – vor allem, weil man kurzzeitig den recht hohen Geräuschpegel im Restaurant ausblenden kann –, ist aber für mich dennoch etwas affektiert. Ich habe schon Gerichte gegessen, die mich ganz ohne solche Hilfsmittel an andere Orte versetzt haben – das ist erheblich beeindruckender. Doch auch für diesen Gang gilt: die Show ist nur Beiwerk. Das Gericht ist exzellent!

Salmon Poached in a Liquorice Gel, also Lachs in Lakritzgel pochiert, dürfte bei vielen Lesern auf Unbehagen stoßen, doch die Kombination von Lachs mit dem leicht süßlich-säuerlichen Lakritz funktioniert bestens. Ein deutliches, also ggf. befremdliches, Lakritzaroma ist ohnehin nicht auszumachen. Stattdessen erlebt man hier ein Produkt in famoser Qualität in einem interessanten Ensemble mit Artischocken, Vanille-Mayonnaise(!) und Forellenrogen – ganz ohne Effekthascherei.

Aber es wird noch besser. Der Gang mit Rehrücken (Saddle of Venison) ist eines der besten Gerichte, die ich je gegessen habe! Das Fleisch ist von allerbester Güte, die Sauce ist auf Weltklasseniveau, und die weiteren Zutaten sind ein Exkurs in neuartige Geschmackswelten abseits der üblichen Pfade, z. B. auch das separat gereichte „Dinkelrisotto“ mit „Kellogg’s Smacks“-ähnlichen Komponenten. Eine grandiose Kombination von makelloser Kochkunst, Produktperfektion und unkonvetionellem Einfallsreichtum.

Und es ist noch kein Ende in Sicht. Der Hot & Iced Tea ist auf der einen Seite warm und auf der anderen kalt – ein amüsantes Erlebnis am Gaumen, und eine charmante Überleitung vom warmen zum kalten Teil des Menüs.

Als erster und einziger Ausrutscher des Abends präsentiert sich Botrytis Cinerea, also ein nach der im Weinbau „Edelfäule“ benanntes Dessert. Zwar ist die Präsentation in Form eines Weinblatts zweifellos originell, doch im Gegensatz zum süßen Schmelz eines edelsüßen Weins ist dieses Dessert leider nur trocken und „staubig“.

The „BFG“ / Black Forest Gateau ist dann wieder hervorragend. Eine (nicht zu) moderne Umsetzung der allseits bekannten deutschen Torte schmeckt schlicht vorzüglich. Nicht besser als ein gut gemachtes Original, aber an dieser Stelle einfach gut. Wer hätte gedacht, dass man so etwas in England finden würde.

Die auf einem aufgestellten Bildrrahmen servierten Whisk(e)y Wine Gums sind, wie der Name vermuten lässt, Weingummis aus unterschiedlichen Whiskeysorten. Der rauchige Drop aus Laphroaigschmeckt am interessantesten. Eine witzige, gut umgesetzte Idee.

Und wenn man denkt, das Ende naht, wird man noch mal auf eine kleine Reise in die Kindheit entführt. „Like a Kid in a Sweet Shop“ heißt dieser Teil des Menüs, der komplett in einer rosa-weiß-gestreiften Tüte voller süßer Petitessen serviert wird.

Da ist eine Luftschokolade mit Mandarinengelee, Kokosraspeln mit Tabakaroma in einer Tabaktüte(!), ein Stück Apfelkuchenkaramell mit essbarem Klarsichtpapier(!) sowie die Queen of Hearts – ebenfalls entlehnt aus „Alice im Wunderland“ –, eine weiße Schokolade mit einer wunderbar fruchtigen Himbeerfüllung. Grandios.

Die besten Speisen waren für mich schon immer die, die Geschichten erzählen. Im Idealfall sind das meine eigenen Geschichten, die durch bestimmte Gerichte zum Leben erweckt werden, doch Heston Blumenthal (und Küchenchef Johnny Lake als sein ausführender langer Arm) ist ein kulinarischer Geschichtenzähler, dem ich unglaublich gerne zugehört habe.

(Ein Hinweis zum Titel: Im Jahr 2009 gab ich einem Besuch im L’Arnsbourg den Titel „alles im Wunderland“, weil mich das Essen von Jean-Georges Klein inmitten einer Art Zauberwald auch an „Alice“ erinnerte. Die jetzige zufällige Parallele in Bray drängte sich daher geradezu als passende Fortsetzung auf.)

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: The Fat Duck (→ Website)
Chef de Cuisine: Johnny Lake
Ort: Bray, Großbritannien
Datum dieses Besuchs: 21.11.2012
Guide Michelin (GB/IRL 2013): ***
Meine Bewertung dieses Essens 9 (Was bedeutet das?)