Frantzén/Lindeberg – offene Küche

Natürlich verstehen sich Berlin und Hamburg als weltoffene Metropolen, doch allein die Existenz eines Restaurants wie das Frantzén/Lindeberg führen diese Selbstüberschätzung ad absurdum. In diesem kleinen Eckrestaurant in Stockholms gemütlicher Altstadt gibt es einige Tische und, für bis zu vier Glückliche, einen Tresen mit offener Küche, in der ein halbes Dutzend smarter Kerle mit Dreitagebart unzählige Produkte in ein abendfüllendes Menü verwandeln (SEK 2.100, ca. € 260). Die Speisekarte ändert sich – je nach Verfügbarkeit und Ideenreichtum – täglich.

All dies – zusammen mit zwei Michelin-Sternen seit 2010, Platz 20 der World’s 50 Best Restaurants und der Auszeichnung „bestes Restaurant in Schweden“ durch den Restaurantführer White Guide – sind für mich Gründe genug, dem Lokal einen Besuch abzustatten. (Von den smarten Kerlen mit Bart einmal abgesehen.)

In modernen Städten mit einem auch kulinarisch interessierten und offenen Publikum gehen solche Konzepte auf. Und solange man hierzulande Sternerestaurants immer noch wahlweise mit Markus Lanz, Kronleuchtern oder teuren, fischigen Zutaten verbindet, wird man die wirklich spannenden Restaurants unserer Zeit immer im Ausland finden. So treffe ich hier an einem Nachbartisch auch auf David Toutain, Mitbegründer des Agapé Substance und selbst kreatives Kochtalent. Ein Wink mit dem Zaunpfahl.

Bei einem Glas Jahrgangs-Winzerchampagner (ca. € 33, Erzeuger nicht notiert, mehrfaches Nachschenken auch hier selbstverständlich), mache ich es mir auf meinem Hocker am Natursteintresen ausreichend bequem. Mein Platz ist mit dem Wichtigsten eingedeckt: ein gutes Messer auf einem Holzbänkchen, ein kleiner Kasten mit Gabeln und Löffeln zum Selbernehmen, Brotmesser und -schälchen, Serviette. Dann steht da noch ein Kasten mit Brotteig. Etwas später hat man das knusprige Weißbrot dann im Schälchen. Wunderbar authentisch und viel reizvoller als jede Brotauswahl.

Björn Frantzén, Frontfigur in der Küche, erläutert kurz das Konzept des Menüs, das achtzehn Positionen auflistet. Es ist unterteilt in einen „Prolog“, vier „Kapitel“ und einen „Epilog“. Eine Wahl gibt es nicht. Aber was sollte man hier auch wählen (und damit auslassen) wollen, wenn man nicht einmal weiß, was einen erwartet?

Kurz darauf stehen die fünf Petitessen des „Prologs“ vor mir. Von rechts nach links sind das: 1.) Schweinekopf in Püree von geröstetem Kohl mit Trüffeln; 2.) Dinkelbrioche, Hühnerhaut, gerösteter Knoblauch und Bärlauch-Kapern; 3.) Schweineblut und Foie Gras mit eingemachten Preiselbeeren und Roter Bete; 4.) „Vichyssoise“, Trüffel, Asche; 5.) Karotten-Macaron mit Leber und Estragon.

Die vielen Eindrücke lassen nur ein Fazit zu: Das ist ein famoser Auftakt, der mich positiv fordert, überrascht und begeistert. Nicht der x-te Schaum aus der Spritztüte, nicht das hundertste Krabbenhäppchen, sondern gewagte Zutaten (Kopf, Haut, Blut, Asche!), die kreativ und wohlschmeckend umgesetzt sind. Hervorragend!

Nach einem aromatischen Süppchen aus geröstetem Sellerie mit Kastanie und Trüffel (nicht im Menü) beginnt dann das erste „Kapitel“ mit Auster „45 Min.“ mit Jersey Cream, Algen und Sanddorn. Das auch optisch ansprechende Ensemble ist Meer pur. Und auch wer nicht allergrößter Austernfan ist, so wie ich, kommt hier wegen der insgesamt stimmigen Komposition voll auf seine Kosten. Ich bin fasziniert von der unverkrampften Kreativität aller bisherigen Gerichte, die in Teilen sogar Parallelen zu César Ramirez’ Küche in New York zulässt.

Und während man so vor sich hin genießt, arbeitet die Brigade in der Küche präzise und hochkonzentriert. Es wird geraspelt, angerichtet, geschnitten, gebraten, nachgedacht – und selbst die Arbeitsfläche ist dabei stets so sauber und ordentlich als ließe sich hier gleich ein Gast nieder.

„The langoustines are back!“, sagt Frantzén verschmitzt, und bezieht sich dabei auf den kurze Zeit zuvor noch lebendig präsentierten Kaisergranat aus Schottland. Der wurde in einem angeblich schonenden Transport (aufrecht und einzeln lagernd) hierher gebracht und dann erst in allerletzter Minute seinem ehrbaren Schicksal zugeführt. Der Schmuck aus Sellerie, getrocknetem Störrogen (gehobelt) und Apfelkernöl steht ihm ausgezeichnet, doch leider geht das Tier darin etwas unter. Aber nur etwas! Auch diese Speise ist exzellent – und erfrischend originell.

Als nächstes folgt ein kleines Gericht zum Auslöffeln mit einer treffsicheren Komposition: Rührei vom Rebhuhn, geräucherte Nussbutter und Trüffel sowie kleine frittierte Gemüsesticks(?). Das ist bodenständig und äußerst schmackhaft. Dass man hier nicht vor Bewährtem wie Ei/Trüffel oder einer beurre noisette zurückschreckt prägt den Stil dieser undogmatischen Küche. Très bien!

Um einiges angenehmer umgesetzt als das martialisch zubereitete Knochenmarkgericht von Kollege Nilsson zwei Tage zuvor, präsentiert Björn Frantzén dann als letzten Gang seines ersten Kapitels dann Knochenmark, geräucherte Petersilie, Rahm und Ossietra-Kaviar. Der Schmelz des leicht angebratenen Marks harmoniert wunderbar mit dem Kaviar; die Cremes bringen noch Frische und Reichhaltigkeit dazu.

Die leider nicht von mir notierte Weinbegleitung (ca. € 175) macht von Beginn an ebenfalls große Freude. Ganz modern serviert man hier keine Etiketten, sondern eher unbekannte Erzeuger auf hohem Niveau. Aber auch ein Corton Grand Cru ist Teil der cleveren Auswahl.

Ein spannendes erstes Kapitel! Doch es wird noch besser.

Satio Tempestas“, so der Name des nächsten Gerichts, ist eine Kreation mit dutzenden Zutaten aus dem restauranteigenen Garten. Die Zutaten wechseln ständig. An diesem Abend sind es achtundzwanzig, darunter verschiedene Beten, Kohlrabi, Sellerie, Fischschuppen, Kohl und vieles mehr. Unweigerlich erinnert dieses Gericht an das „Gargouillou“ von Michel Bras. Das schwedische Pendant ist zwar nicht ganz so aufwändig, aber geschmacklich absolut hervorragend. Die Frische der Zutaten, das angenehme Texturspiel und die intensiven Aromen der Gemüse machen jede Gabel zu einem Genuss! Großartig. Solche Gerichte sind der Grund, warum ich auf die ständige Nachfrage der meisten Verbraucher nach möglichst viel und möglichst billigem Fleisch mit absolutem Unverständnis reagiere. (Von dem großen Aufschrei bei dann zwangsweise folgenden „Fleischskandalen“ ganz zu schweigen.)

Inzwischen ist auch das Brot gebacken (kein Foto) und die Butter geschlagen – beides so gut wie nur irgend möglich.

Das zweite „Kapitel“ schließt mit Jakobsmuschel mit Trüffel und „Dashi“, einem Gericht, das mit grandioser Produktqualität, einer ansprechenden Zubereitungsart (in Scheiben) und geschmacklicher Finesse auftrumpft. Wo Magnus Nilsson (mit dem Servieren einer fast gänzlich naturbelassenen Jakobsmuschel) aufhört, fängt Björn Frantzén also gerade erst an. Mehr!

Ebenso hervorragend ist Skrei mit „almost burnt cream“, Hahnenkamm und Waldpilzen. Hier fügen sind abermals exzellente Produkte in einem cremig-nussigen Ensemble zu einem Gericht zusammen, das man am treffendsten mit „unglaublich lecker“ beschreibt – ja, lieber Telleranalysten, genau das: zum Tellerabschlecken gut!

Und obwohl Björn Frantzén „eigentlich gegen Sorbets an dieser Stelle eines Menüs“ ist, erklärt er, warum er heute Abend dennoch eines vorsieht. Ganz verstanden habe ich diesen Widerspruch nicht, aber über das Ergebnis bin ich überaus froh. Ein Sorbet mit rosa Pfeffer klingt fast schon zu experimentell, ist aber hervorragend. Nicht zu süß und leicht würzig erzeugt es ein regelrecht herzhaftes Geschmackserlebnis. Die Überleitung zum nächsten Gang – einem Fleischgang – ist damit verblüffend stimmig.

Das zuvor mit einem Gasbrenner über einem Stück Holzkohle leicht angegrillte Stück Rib-Eye wird nun als Tartar serviert. Dazu gibt es geräucherte Sauerrahmsauce und „Weißmoos mit luftgetrocknetem Rind“ sowie Pilze und Zwiebel. Das optisch schon fast wie ein Dessert anmutende Gericht kommt tatsächlich mit etwas Süße daher, zu der es jedoch keinen signifikanten Gegenpol gibt. Mir fehlen hier etwas Salz und Knusprigkeit. Mit der Beschreibung „dennoch sehr gut“ hinkt dieser Gang den anderen etwas hinterher und untermauert meine Erfahrung, dass Gerichte mit rotem Fleisch fastnie das Highlight eines umfangreichen Menüs darstellen.

Doch kein Hauch von Frust! Es geht weiter mit Taube, gebratenem Hummer, Blutorange und grünem Pfeffer – eine Wucht von einem Gericht! Der ätherische, einlullende Duft von orientalischen, indischen Gewürzen springt einem geradezu ins Gesicht. Am Gaumen (und dann in Gedanken) setzt sich diese kleine Reise nach Fernost fort: Gewürzmärkte, Hitze, ein schattiger Platz zum Verweilen … Ein starkes Gericht voller Bilder.

Für den süßen Teil des Menüs zeichnet der heute nicht anwesende Chefpatissier Daniel Lindeberg verantwortlich. Doch ganz offensichtlich tut sein heutiges Fehlen dem Gelingen keinen Abbruch.

Ein Bratapfel mit Sour-Cream-Eis und Lavendel bietet ein recht weihnachtliches Erlebnis und passt damit gut zur Kälte draußen – ein sehr gelungenes Dessert! Ein kleiner Geniestreich ist auch Rote Bete mit 100 Jahre altem Balsamessig, welches trotz – oder gerade wegen – des Gemüses und des alten Essigs eine schöne Süße mitbringt, wie man sie sich von einem Dessert erhofft. Auch die Hüften kommen dank der cremigen Sahne voll auf ihre Kosten. Herrlich!

Mit dem „Epilog“ schließt sich dann auf gekonnte Weise der Kreis zum Beginn des Menüs. Die schlicht Sweets genannten Petitessen sind eine Wiederaufnahme der Amuse-Bouches aus dem „Prolog“ und sehen diesen verblüffend ähnlich – nur mit gänzlich anderen Zutaten.

Die Küche im Frantzén/Lindeberg lässt keine Wünsche offen. Sie ist modern, ohne den Fokus auf Wohlgeschmack zu verlieren; sie ist kreativ, ohne verspielt zu sein; und sie ist mutig, ohne zu provozieren. Wer in Skandinavien immer noch nach dem dritten Stern fürs Noma schreit, dem lege ich eine Reise nach Stockholm ans Herz. Hier spielt die Musik!

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: Frantzén/Lindeberg (→ Website)
Chef de Cuisine: Björn Frantzén
Ort: Stockholm, Schweden
Datum dieses Besuchs: 09.02.2013
Guide Michelin (EU 2013): **
Meine Bewertung dieses Essens 8,9 (Was bedeutet das?)