Next – The Next Big Thing?

Das Konzept des Restaurants Next in Chicago begeisterte mich schon, als ich zum ersten Mal davon hörte: Viermal im Jahr ersinnt das Team um Grant Achatz (Alinea) ein völlig neues Menü nach einem bestimmten Leitmotiv. Die Menüs sind so unterschiedlich, dass es sich eigentlich alle drei Monate um ein völlig neues Restaurant handelt. Vergangene Themen waren bspw. „Paris, 1906“, „Childhood“, „Thailand“, „Kyoto“ und „The Hunt“.Next brachte sich auch damit ins Gespräch, als eines der ersten Restaurants seine Plätze online über ein Ticketsystem zu verkaufen – ähnlich wie bei einem Konzert oder bei Fluggesellschaften. Die Tickets gehen seit der Eröffnung weg wie warme Semmeln.

Der Guide Michelin hält sich bisher (noch?) bedeckt und spricht für das Next nicht einmal eine Empfehlung aus. Doch wie soll er auch, wenn eines der Hauptbewertungskriterien Konstanz ist? Wenn das „Paris“-Menü hervorragend war, muss es das „Thailand“-Menü ja nicht sein. Aber wen schert’s? Der Laden brummt auch ohne Sterne.

Als ich heute Mittag im lässig-schicken NAHA sitze (Bericht folgt) und ich meiner abendlichen Reservierung im L2O ohnehin ein wenig skeptisch gegenüber stehe, meldet sich das Next bei mir per E-Mail: Ein Tisch ist frei geworden, um 22:15 Uhr für zwei Personen. Angesichts der späten Uhrzeit zögere ich zunächst, sage jedoch zu und kaufe die Tickets (ca. $330). Sogar hundert Dollar Stornokosten vom L2O nehme ich dafür in Kauf, wohl wissend, dass ich gerade über 400 Dollar losgeworden bin, um vermutlich müde und sehr hungrig ein äußerst proteinarmes Essen zu mir zu nehmen. Das aktuelle Menü im Next heißt nämlich „vegan“.

Zur Verwunderung mancher interessiert mich dieses Menü ungemein. Denn obwohl ich eine derart eingeengte Nahrungsaufnahme – sofern diese ausschließlich praktiziert wird – als eine Mischung aus Essstörung und Esoterik betrachte, weiß ich natürlich, dass es dem Next nicht um eine Bewegung oder Ideologie geht. Vielmehr geht es einerseits um die Herausforderungen, die eine solch restriktive Küche mit sich bringt als auch um die Fokussierung auf die Genüsse, die Gemüse bieten können. Dass man nicht zwingend tierische Produkte benötigt, um kulinarisch Großartiges zu erleben, steht außer Frage. Ich selbst würde auf Gemüse vermutlich als letzte aller Nahrungsmittel verzichten wollen.

Aber ein ganzes Menü ohne Milch, Butter, Sahne, Eier, Käse, Honig, Fisch u. v. m.? Ich bin sehr gespannt, wie ein zweifellos hervorragendes Küchenteam dies bewältigt (und vermute dabei weder Tofu in den Speisen noch einen Veganer unter den Gästen …).

Gegen kurz nach zehn finde ich mich dann in einer etwas industrielleren Gegend Chicagos wieder. Lediglich eine Reihe von Zierbäumen sowie ein am Straßenrand platzierter Bodenaufsteller fürs Valet-Parken mit der Aufschrift „Next & Aviary“ (letzteres ist eine weitere Achatz-Institution, die sich komplett dem Thema Cocktails hingibt) weisen auf die Existenz urbanen Lebens hin. Ich trete ein. Während um diese Uhrzeit mancherorts schon der Tisch fürs Mittagessen am Folgetag eingedeckt wird, ist es hier noch rappelvoll. Das Restaurant besteht aus einem mittelgroßen, fensterlosen Speisesaal mit ungefähr 20 Tischen, die längsseitig aufgestellt sind. Eine unverkleidete Stahlkonstruktion und das leicht konvexe Dach lassen den Raum ein bisschen wie einen Hangar wirken.

Die einzige Entscheidung, die ich jetzt noch treffen muss, ist die nach der Getränke- bzw. Weinbegleitung. Ich entscheide mich fürs reserve wine pairing ($108), und dann geht es auch schon los.

In Anbetracht der Vielzahl an Speisen und der Aussichtslosigkeit, die jeweils vorgetragenen Zutaten zu behalten oder sich Notizen dazu zu machen, beschreibe ich die Gänge hier nicht im Einzelnen. Zwischen 22:38 Uhr und 02:06 Uhr wird mir auf jeden Fall Folgendes aufgetischt:

Starter and burnt avocado
Wein: Serge Faust Brut, Champagne NV
Saft: passion fruit, yerba, pinapple

Kale bouquet

Sprouted tempeh

Frozen baked potato

Nori Dumpling

Earl Grey rambutan

Baby artichoke

Fermented apples and lichen

Lily pond

Fennel with white cherry

Dazu Antoinette Cidre und Rare Wine Special Reserve Verdelho Madeira

Salsifies with oyster and dandelion

Wein: Guy Breton Régnié, Beaujaulais 2010

Saft: strawberry, rhubarb, black pepper

Swiss chard and douchi

Und obwohl einem die (sehr eigensinnige und äußerst gelungene!) Getränkebegleitung hier recht sparsam erscheinen mag, gibt es zu keiner Zeit trockene Kehlen.

Kombu atoll

Wein: Scholium Project Gemella, California 2012

Saft: yellow tomato, eucalyptus, aloe

Mushroom cart

Wein: Gramont Nuits-Saint-Georges, 2009

Saft: Huitlacoche

Red onion | inspired by Stupak

Wein: Max Ferd. Richter Riesling Spätlese 2009

Saft: mango, galangal, kafir lime

Curry roasted cauliflower

Olive oil jam and black truffle

Hibiscus and pistachio

Wein: Château d’Arlay Macvin du Jura

Saft : Malt, bitter chocolate, black sesame

Areated chocolate with passionfruit

So das Menü.

Wie das alles geschmeckt hat? Andersartig und aufregend. Ob mir etwas gefehlt hat? An dem Abend rein gar nichts; an einem perfekten Menü nach gewöhnlichen Maßstäben jede Menge. Im Vordergrund standen zwar eine Vielzahl spannender und innovativer Kombinationen von Aromen und Texturen, überwiegend jedoch im bitteren/herben/sauren Geschmacksspektrum (bis auf das tatsächlich herrlich süffige Pilzgericht!). Doch gleichermaßen hat mich das Menü inspiriert wie wenige zuvor und sich – schon jetzt – tief in meine Erinnerung eingebrannt. Es ist gut vergleichbar mit dem legendären El Bulli, das ich zunächst mit einem großen Fragezeichen verlies, dessen Aussage aber bis heute nachwirkt, weil es Grenzen verschoben und an Dogmen gerüttelt hat. Wenn das Next also irgendein Satzzeichen verdient, dann ein großes Ausrufezeichen!

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: Next (→ Website)
Chef de Cuisine: Grant Achatz, Dave Beran
Ort: Chicago, USA
Datum dieses Besuchs: 26.07.2013
Guide Michelin (CHI 2013):
Meine Bewertung dieses Essens 8 (Was bedeutet das?)