Flocons de Sel – hohe Genüsse

Wenn ich manchen Leuten erzähle, dass ich Reisen unternehme, bei denen Restaurants das Ziel vorgeben, stößt das regelmäßig auf großes Erstaunen. Dabei gibt es für mich keine spannendere Reiseplanung! Viele Orte auf dieser Welt – und damit auch Landschaften, Menschen und deren Geschichten – würde ich sonst nie zu Gesicht bekommen. Ich würde dann andere Orte sehen, aber wenn einen dann noch ein hervorragendes Restaurant erwartet, dann ist das ein ziemlich perfektes Gesamtpaket, das einem kein Reisebüro jemals bieten könnte.

An diesem Wochenende – es ist mein Geburtstag! –  führen mich meine Genussambitionen in die französische Gebirgsregion der Haute-Savoie, genauer gesagt in die Nähe von Megève, einem Wintersportort beim Mont Blanc.

Doch Sport werde ich hier keinen machen. Denn ein paar Kilometer über verschneite Serpentinen weiter oben von Megève liegt das gemütlich-luxuriöse Relais & Châteaux Flocons de Sel, welches auch das gleichnamige Drei-Sterne-Restaurant beherbergt und damit erheblich weniger zum Sport einlädt als zum Essen. Seit 2012 erst leuchten die drei Sterne über dem Haus. Und ich werde gleich zwei Mal in deren Genuss kommen, was eigentlich ungeplant war.

Aber von vorn.

Das von mir gewählte Menü („Randonnée aux saveurs d’hiver“, € 188) beginnt zunächst mit zwei Gerichten, die das Thema schwarze Trüffeln für mich in ein völlig neues Licht rücken.

Zunächst ist da ein Amuse mit Trüffeln und Haselnuss (etwas staubig, aber wegen der hervorragenden Trüffeln dennoch ganz außergewöhnlich); dann folgt mit „Schwarzwurzel-Spaghetti“ mit geräuchertem Lardo und Périgord-Trüffel (Salsifis en spaghetti lard poudre légerement fumé et truffle Melanosporum) ein ganz delikater Schmaus mit waldigen, rauchigen und frischen Aromen.

Die Art, in welcher die Trüffeln in diesen ersten beiden (und vielen noch folgenden) Gerichten verarbeitet sind, ist beeindruckend. Die dicken Scheiben lassen den edlen Pilz fast wie Gemüse erscheinen. Dabei sind diese Trüffeln auch keinesfalls aufdringlich. Was viele mit „Trüffelaroma“ assoziieren und häufig als penetrant empfinden ist anderen Sorten vorbehalten und hat mit diesen Exemplaren rein gar nichts zu tun. Diese hier (Tuber melanosporum) sind elegant und zurückhaltend und erinnern etwas an die herben Aromen von Grand-Cru-Schokolade. Schon der Stil dieser zwei Gerichte ist überaus einprägsam und einzigartig.

Der nächste Gang ist eine Consommé mit roter Bete, Pastinaken- und Rotkohl-Gnocchi, Rettich und altem Beaufort (Moelleux de panais, betterave, consommé jardinier relevé de raifort et vieux Beaufort) – ein sehr feines Geschmackserlebnis, das elegant mit pikanten und herben Aromen spielt. Ein leises, „andeutendes“ Gericht, das winterlich-heiß daher kommt, aber Spuren von Frühling ankündigt. Frappierend gut!

Es folgt in einem Schälchen eine Scheibe(!) Quellwasser, darunter nussig-cremiger Kaviar, Vodka und geronnene Milch (Fine tranche d’eau de source, caviar, vodka citron, lait caillé), alles in unterschiedlichen Zubereitungen. Das ist salzig, jodig, nussig, sauer, cremig, kurzum: phänomenal!

Mit dem nächsten Gang (Langoustines : froides en surprise, mandarine, gentiane et oseille) kann ich mich trotz aller Offenheit nicht so recht anfreunden. Dort sind Teile vom Kaisergranat von einer merkwürdig bitteren Hülle umgeben, die das königliche Tier völlig untergehen lässt. Dazu wird ein kleines Getränk basierend auf Enzian und Sauerampfer serviert. Letzteres würde vielleicht als Eau der Toilette ganz gut funktionieren, ist aber geschmacklich überhaupt nicht mein Fall. Außer bitter gibt es hier wenig zu entdecken.

Als „Entschädigung“ folgt dann gleich ein überragendes Fischgericht. Zu Recht stolz scheint Emmanuel Renaut auf seinen Zulieferer Eric Jacquier zu sein, der zweifelsohne ziemlich prächtige Fische aus dem Genfersee angelt. Derzeit ist offenbar Hecht das Thema, der in diesem und weiteren Gerichten im Mittelpunkt steht.

Was hier alles, neben dem Fisch, noch auf dem Teller ist, kann ich nicht im Detail benennen, auch die Karte lässt keine Rückschlüsse zu (Poisson du lac Léman pêché par « Eric Jacquier ». Der gute Mann ist hier in Anführungszeichen gesetzt, er heißt aber wirklich so.) Sicher ist: So zart und schmelzend habe ich Fisch noch nie erlebt, eine buttrig-cremige Sauce dazu ergänzt diesen perfekten Gaumenschmaus, der an die Reinheit kristallklaren, eiskalten Wassers erinnert. Ein Teller für die Ewigkeit. Dieser allein lohnt die ganze Reise in die Berge!

Ein weiterer Teller desselben Fischs in anderer Zubereitung folgt. Er ist leicht geräuchert, dazu gibt es Estragon und eine wunderbar süffige, schaumige Sauce aus grünen Kräutern. Umwerfend gut.

Man spürt hier die ganze Zeit diese Souveränität, die von wirklich großer Küche ausgeht. Denn wer so exzellente Produkte verarbeitet und dann noch sein Handwerk so gut beherrscht, der kann gar nicht mehr viel falsch machen. Es macht Spaß, diese Leidenschaft auf dem Teller zu schmecken! Viele wünschen sich immer eine objektive „Legende“ für die Kriterien der Michelin-Sterne. So etwas kann es aber nicht geben. Man muss das erfahren. Ich kann dazu nur sagen: Das hier zum Beispiel, das sind drei Sterne.

Als weiterer Fischgang folgt Brochet du lac, comme und biscuit, jus d’oignons paille grillé. Hierfür wurde abermals Hecht zu einer Art quaderförmigem Krapfen verarbeitet, was ihm die Textur von Omelette oder Eierstich verleiht und das Gericht in eine süßliche Geschmackswelt verschiebt. Das ist etwas gewöhnungsbedürftig, weil das Produkt hier stark verfremdet ist. Der Zwiebelsud ist zwar sehr passend dazu, aber in Summe ist das mir das dann doch etwas zu süß und zu konstruiert. Dennoch auf sehr hohem Niveau!

Und dann folgt wieder ein Hochgenuss par excellence in Form von makellosem Kalbsbries mit einer Schalotten-Zitrone-Mousseline, Grünkohl, Karotten und Angostura-Reduktion (Pomme de ris de de veau doré, mousseline échalotes citron, choux vert et carottes, jus réduit angostura). Dazu werden Pommes soufflés gereicht – kleine handwerkliche Kunstwerke.

Das Gericht selbst ist phänomenal. Die dunkle Sauce ist wunderbar aromatisch, das Bries butterzart und so präzise auf den Punkt gegart, dass man glaubt, der Zufall hätte seine Hände mit im Spiel. Aber es ist natürlich reiner Vorsatz, dass das alles so wohlschmeckend ist. Es sei Renauts Lieblingsgericht, so seine (deutsche) Frau Kristine, die mit im Service agiert. Ich bin kurz davor, es ein zweites Mal zu bestellen, doch der Tag ist schon lang, und ich kämpfe bereits etwas …

Eine hervorragende Käseauswahl führe ich mir dennoch zu Gemüte, bevor ich mich dann den Desserts („Les flocons de sucre“) zuwende.

Die im Menü nicht näher beschriebenen Speisen – darunter eine rechteckig angerichtete, mäßig gute Kreation rund um das Thema Haselnuss sowie eine (bessere) Variation von Zitrusfrüchten – runden das Menü ab. Wirklich hervorragend sind nur die Petits-Fours ganz zum Schluss.

Ein sehr eigenständiges, denkwürdiges Menü ist damit zu Ende. Zugegeben, die Gerichte waren teilweise etwas schwer zugänglich. Aber als ich diese Zeilen schreibe – knapp einen Monat später – klingt das Menü noch immer nach. Und wie! Die Verwendung der Trüffeln, der grandiose Hecht in mehreren Versionen und das durchweg makellose Küchenhandwerk (Saucen, Garungen): all das findet man ohne Zweifel nur in den allerbesten Restaurants.

Am nächsten Tag hatte ich für den Abend dann eigentlich eine Reservierung im Flocons Village, dem Bistro unten im Dorf, vorgesehen. (Ein Shuttle-Service fährt einen jederzeit nach Megève und holt einen auch wieder ab.) Doch es kam alles anders.

Nach einem fantastischen Frühstück im Hotel (von der Art, bei der man alles serviert bekommt) und einem ausgiebigen alpinen Spaziergang sitze ich zur besten Mittagszeit wieder im Hotel. Es gibt hier sonst nicht viel zu tun … außer Ski fahren, aber damit habe ich – vermutlich als Einziger hier im Ort – nicht viel am Hut. Und als hätte ich irgendetwas anderes erwartet, überkommt mich auf einmal ein leichter Appetit. Ich habe doch nicht ernsthaft geglaubt, dass ich es bis zum Abend durchhalte? Also frage ich nach der Möglichkeit, ein, zwei Gänge im Restaurant zu mir zu nehmen. Immerhin bin ich Hotelgast, und es gibt weit und breit keine Alternative. Doch das Restaurant ist ausgebucht. Man bietet mir aber kurzerhand einen Tisch in der Küche an, worüber ich überaus erfreut bin. Besser hätte es überhaupt nicht kommen können. Weg mit den ganzen Service-Allüren, her mit den heißen Tellern direkt vom Herd!

Wenig später bin ich dann tatsächlich an einem rustikalen Holztisch in der gar nicht mal so großen Küche platziert. Keine zwei Meter entfernt am Pass agiert Küchenchef Emmanuel Renaut und bekommt auf präzise Fragen („Les pommes soufflées?“) präzise Antworten („30 secondes, chef!“). Aus nicht mehr als einem Dutzend Leute besteht das Orchester, das so verantwortungsvoll und fehlerfrei bei der Sache zu sein scheint wie Fluglotsen in einem Tower. Der hochkonzentrierte Renaut muss kaum reden: bewegt er seinen Arm nach hinten, ist schon die Saucière zur Stelle, um ihm irgendein Elixier zu reichen. Die Teller final anzurichten ist natürlich Chefsache. Wärmelampen werden zentimetergenau über jedem Teller justiert, bevor die Kellner diese dann schließlich auf Tabletts in den Speisesaal abtransportieren.

Ich könnte diesem Schauspiel stundenlang zusehen – und tue das auch. Denn glücklicherweise spricht überhaupt nichts dagegen, währenddessen zu essen. Es gibt auch kein Menü; ich werde einfach bekocht. (Dabei lasse ich mich auch preislich völlig überraschen. Aber jetzt mal ehrlich: Ich sitze ja nicht zufällig zum zweiten Mal innerhalb von sechzehn Stunden in einem Drei-Sterne-Restaurant. Preisdiskussionen auf dieser Ebene habe ich schon immer überflüssig gefunden.)

Nach ein paar (sehr schmackhaften) Kleinigkeiten vorweg folgt die erste Kreation mit Polenta, Trüffeln und Pilzen. Ganz deliziös!

Danach serviert mir Renault persönlich eine Hommage an das Gemüse Topinambur. Ein handwerklich aufwändiges Konstrukt, das nahezu ausschließlich aus Würfeln von Topinambur und Trüffeln besteht, thront in einer aufgeschäumten hellen Sauce. Dazu dekorieren abermals dicke Trüffelscheiben den Teller, während zwei Nelken auf dem Tellerrand einen ätherischen Duft verströmen. Und genau dieser ätherische, betörende Duft findet sich dann auch am Gaumen wieder. Ein märchenhaftes Gericht von einem völlig unterschätzten Gemüse!

Das ist ja noch besser hier als gestern Abend …

Eine weitere Variante vom Hecht (so habe ich es zumindest verstanden) folgt nun, diesmal in Salzkruste gegart und mit der Haut serviert. Eine säurebetonte Creme dazu komplettiert diese erneut ganz hervorragende Kreation. Man benötigt eben kaum mehr als ein einziges grandioses Produkt, die Beherrschung seines Handwerks und die Absicht, Wohlgeschmack auf den Teller zu bringen.

Als nächstes gelangt ein kleines Schälchen mit Flusskrebsen an den Tisch. Bereits der Anblick der leicht schaumigen, sahnigen Komposition lässt erahnen, wie süffig das alles ist. Duft- und Geschmacksprobe bestätigen die erfreuliche Vorahnung. Mit wenigen Bewegungen aus dem Handgelenk – aber unter allen Umständen genüsslich – putze ich das Becherchen leer. Einfach herrlich.

Auch die Weinbegleitung dazu ist stets passend.

Renaut bietet mir nun an, Rind in zwei Variaten zu servieren: einmal gebraten, dann geschmort. Diese Abstimmung auf kurzem Wege finde ich unglaublich sympathisch. Natürlich stimme ich zu.

Der erste dieser beiden Gänge dann ist kanonisch. Entgegen des weitverbreiteten Trends, möglichst fettiges Fleisch zu servieren, kontert Renault hier mit einem recht mageren (aber wunderbar gereiften) Stück Rind, dazu gibt es perfekte Pommes soufflées, gegrillte Perlzwiebeln und eine (etwas abgewandelte) Sauce Béarnaise, die mühelos zu den besten Saucen zählt, die mit je serviert wurden. Ein einfaches, makelloses, überraschend grandioses Gericht.

Das dann folgende Schmorgericht ist nicht weniger wohlschmeckend. Bestgeschmortes Fleisch trifft auf einen tiefdunklen Schmorjus sowie orange leuchtende, auf den Punkt gegarte Karotten. Zutiefst befriedigend und wunderbar zugänglich.

Und als wäre es der Fleischeslust noch nicht genug, freue ich mich darüber, dass hier ein grandioses Gericht nach dem anderen serviert wird. Wie ich regelmäßig hier schreibe, enttäuschen Fleischgerichte – auch in Spitzenrestaurants – viel häufiger als solche mit Fisch oder Gemüse. Aber hier nicht, also gerne weiter so!

Gesagt, getan, zaubert die Küchenmannschaft dann nichts weniger als einen paté von Gamsbock im Teigmantel aus dem Ofen. Aufgrund meiner Nähe zum Pass kann ich beobachten, wie das handwerklich aufwändige, tortenähnliche Gebilde angerichtet wird. Zunächst wird mit Hilfe einer Spritze mehrfach behutsam rote Garflüssigkeit aus dem dampfenden Gebäck gezogen. Das dauert ein paar Minuten. Danach wird das Konstrukt aufgeschnitten, das im Inneren Kleingewürfeltes vom besagten Tier enthält. Was genau, weiß ich nicht, aber das kleine Stück auf meinem Teller, zusammen mit der Sauce, schmeckt hervorragend! Meine erste bewusste Begegnung mit dieser seltenen Fleischart ist also gleich eine Offenbarung.

Es ist jetzt schon fast drei Uhr Nachmittags. Angesichts dieses üppigen Mahls rückt die Idee mit dem Tisch im Bistro in weite Ferne …

Und nach den Desserts, die ich auch noch alle esse, torkle ich nur noch ein paar Meter in mein Zimmer, lasse mich rücklings aufs Bett fallen und bleibe dort weit über eine Stunde lang regungslos liegen, mit dem Blick hinaus auf die schneeweiße Landschaft.

Tatsächlich esse ich an dem Abend dann nichts mehr.

Was für ein vielfältiges kulinarisches Abenteuer! Eines, das am Anfang ein wenig Zeit braucht, um einen zu fesseln, aber dann ... Es war wie ein gutes Musikalbum, das man mehrmals hören muss, um seine ganze Größe zu verinnerlichen.

Kaum vorstellbar, welche Genüsse einen wohl auch im Sommer hier erwarten. Die Kräuterküche des legendären Marc Veyrat stammte schließlich auch von hier. Und da ich nicht Ski fahre, gibt es sowieso keine Ausrede, auch wenn der Schnee hier verschwunden ist.

Der Schnee kommt, der Schnee geht, und Emmanuel Renaut kocht hier tagein und tagaus, mittags und abends. Ich bin froh, einen Teil dieses Zyklus erlebt zu haben und fahre morgen erst einmal wieder hinunter ins Flachland, nach Valence, wo Anne-Sophie Pic auf mich wartet. Ein bisschen Appetit habe ich sogar schon wieder.

Informationen zu diesen Besuchen
Restaurant: Flocons de Sel (→ Website)
Chef de Cuisine: Emmanuel Renaut
Ort: Megève, Frankreich
Datum dieser Besuche: 09.02.2014 / 10.02.2014
Guide Michelin (F 2014): ***
Meine Bewertung dieser Essen 8,9 und 9 (Was bedeutet das?)