Piazza Duomo – Salatoperation

Das Restaurant Piazza Duomo befindet sich im ersten Stock eines alten Gebäudes am Domplatz im Trüffeldorf Alba. Den Eingang zum Restaurant erreicht man über eine schmale Gasse, die rechts am Haus vorbeiführt. Ich drücke die Klingel. Die Tür geht auf, und ein ungemütliches Treppenhaus, das mich an meine Kinderarztpraxis erinnert, führt hoch ins Restaurant, wo ich herzlich empfangen werde.

Dem Michelin ist das Restaurant seit 2013 immerhin „eine Reise wert“ (= 3 Sterne) – ein Qualitätssiegel, das für mich mit so vielen großartigen kulinarische Momenten verbunden ist, dass mein gesamter Blog nach dieser Auszeichnung benannt ist. Zwar habe ich auch auf diesem Niveau schon Enttäuschungen erlebt – vor allem bei den Spaniern (Arzak, Akelarre, El Celler de Can Roca) –, aber es bleiben eben seltene Ausnahmen.

Mal sehen, was mich heute erwartet. Ich bin gespannt, denn es ist mein erstes Drei-Sterne-Restaurant in Italien.

Der Service ist von Beginn an makellos. Smarte Typen in schmalen Anzügen, sehr freundlich, sprechen fließend Englisch mit sympathischen Akzent und haben alles im Griff. Auch der Küchenchef Enrico Crippa, den ich später noch kennen lerne, ist ein sehr netter Kerl. Ausgerechnet heute hat er sich den Arm gebrochen oder geprellt und steht mit seiner schmalen, fast hageren, Figur mit bandagiertem Arm in der Küche. Aber immerhin ist er da, bei seinem Team, in seinem Laden. Das nenne ich Einsatz!

Aber dann, die Atmosphäre: grellstes Halogenlicht aus dutzenden Deckenstrahlern, rosa Wände mit etwas naiver Wandmalerei, keinerlei Dekoration, es hallt wie in einer frischbezogenen Wohnung, und alle paar Sekunden geht eine Automatiktür zur Küche mit einem lästigen Surren auf und zu. Es ist so gemütlich hier wie in einem Operationssaal.

Doch auch das erschüttert mich (noch) nicht, schließlich bin ich wegen des Essens angereist. Immerhin über vierhundert Kilometer über bergige Straßen, durch lange Tunnel, inklusive einer Befragung von skeptischen französischen Zollbeamten bei Fréjus („Was ist der Zweck Ihrer Reise?“ – „Ich fahre zum Essen.“).

Ich wähle das Menü „Degustazione +3“ (€ 170). Dies beinhaltet die Klassiker, „die das Restaurant berühmt gemacht haben“, so der Kellner, sowie drei neuere Kreationen. Das klingt nach einer perfekten Wahl für ein erstes Essen hier.

Dieses beginnt mit einer scheinbar unendlichen Abfolge von Amuse-Bouches, von denen lediglich zwei ziemlich gut sind und die anderen gefühlten sechsundzwanzig zu viel.

Ein tennisballgroßer, bitter schmeckender Schwamm, den man sich mit einem Mal in seinen dazu weit aufgerissenen Mund schieben muss, ist dann das Ende dieser zweifelhaften Ouvertüre.

Es geht weiter mit einer Art Sandwich. Zwischen zwei Scheiben Kichererbsengebäck findet man Favabohnen, Feldsalat und Tomate. Das schmeckt leicht, kross und frisch, aber etwas Olivenöl gegen die Trockenheit sowie Balsamessig für eine appetitanregende Säure hätten den recht üppigen Fingersnack um Potenzen aufgewertet – und selbst dann wäre er nur „ganz nett“ gewesen.

Der nächste, farbenfroh inszenierte, Gang ist „Insalata 21, 31, 41, 51 …“. Die Zahlen beziehen sich auf die Anzahl unterschiedlicher Zutaten. 37 sind es heute. (Welche genau, verrät allerdings auch das mitgelieferte Faltkärtchen nicht, das nämlich alle Zutaten auflistet, die in dem Salat prinzipiell verarbeitet werden.)

Dieses Gericht ist ganz offenkundig stark inspiriert von Michel Bras‘ großartigem Gargouillou (das auch der Kellner stolz erwähnt), von dem ich bis heute noch in Gedanken zehre. Nun habe ich mit diesem italienischen Pendant jedoch schon nach kurzer Zeit mehrere Probleme. Zum einen sind die Zutaten alle aufeinander aufgetürmt, sodass man diese nur schwer miteinander kombinieren kann und dadurch eben gerade nicht ein so vielschichtiges Erlebnis wie beim Gargouillou erhält, wo man mal links und mal rechts etwas auf die Gabel nehmen kann. Hier ist es so, dass man sich zunächst mit der dazu gereichten Pinzette von oben durcharbeiten muss, bevor sich der Kräuternebel allmählich lichtet. Ein besonders unappetitliches Detail ist, dass es sich bei dem dazu mitgelieferten Werkzeug um eine medizinische, so genannte Nasentamponpinzette handelt. Ich wurde schon mal an der Nase operiert. Details gefällig? Dachte ich mir.

Ich bin wirklich schwer vom Appetit abzubringen, aber mit der nun fast perfekten Operationssaalatmosphäre hat es nun doch mal jemand hinbekommen. Ich nehme erst mal einen kräftigen Schluck aus der (bisher ziemlich gelungenen) Weinbegleitung „Sorsi di Piemonte“ (€ 80) mit Weinen aus der Region. Jetzt gerade im Glas ist ein weißer Pomodolce Tortonesi Derthona Grue au der Rebsorte Timorasso. Auf dass es jetzt mal richtig losgeht!

Der nächste Gang ist dann einer der „+3“-Gänge, die nicht im Menü aufgeführt sind. Im Wesentlichen sind da auf dem zunächst recht hübsch anzusehenden Teller einige Kräuter und Blüten, dann ein paar Würfel aus Foie Gras, etwas Trüffeln und einige seltsame, rosa-weiße Gebilde mit einer Füllung aus irgendeinem Mett. Stochernd taste ich mich an diese merkwürdige Kreation heran, doch schmackhaft ist das mitnichten. Mit jeder Gabel, die ich recht widerwillig davon esse, hoffe ich auf eine kulinarische Offenbarung, werde jedoch nicht fündig.

Es folgt Merluzzo al verde, d. h. Kalbeljau und etwas Grünzeug, allem voran ein Petersilienpesto. Und genau danach schmeckt es: recht neutraler, fast roher Fisch und Petersilie. Weder gut noch schlecht, einfach nichtssagend. Ich frage mich, ob irgendjemand so ein Gericht gerne ein zweites Mal essen möchte.

Weiter geht es mit Crema di patate, Lapsang Souchong. Hinter dem fernöstlichen Namen steckt eine chinesische Teespezialität. Diese wurde hier in Pulverform auf eine ziemlich flüssige Kartoffelcreme (also eher ein Süppchen) gestreut; ein Wachteleigelb befindet sich am Boden des Glases. Man soll alles schön vermengen … und dann, ja dann, schmeckt alles einfach nur nach Kartoffel. Ich habe weder etwas gegen Kartoffeln noch gegen Purismus – nur dagegen, das hier auch nur im Ansatz als große Küche zu verstehen.

Es ist jetzt kurz vor neun, und ein paar weitere Tische sind inzwischen auch besetzt. Viel gemütlicher wird es dadurch allerdings nicht.

Ein nach heißem Salzwasser schmeckendes Süppchen, das in irgendeiner Form Schwein und Linsen zum Thema hat, ist das nächste Gericht, das ich – inzwischen schon etwas gelangweilt – verspeise. Eigentlich wäre es konsequent, jetzt zu gehen, aber für irgendetwas muss ich ja hierher gereist sein. Also harre ich weiter aus und warte auf das Wunder von Alba.

Und das hätte es sein können: ein Risotto. Schlotzig, herzhaft, einfach, auf den Punkt. Doch das Risotto alle piemontese ist nichts von alldem. Es ist matschig wie Milchreis, auch eher süß als herzhaft, und was das braune Zeug ist, mit dem der Teller besprenkelt und bekleckst wurde, weiß ich nicht mehr genau. Ich habe schon gute Risottos gegessen, dieses hier zählt nicht dazu.

Der letzte Gang vor den Desserts ist Agnello e camomilla, also Lamm und Kamille. Wo letztere sich versteckt, weiß ich nicht genau, ist mir aber auch egal, weil endlich mal ein Gericht „unkompliziert gut“ schmeckt. Großartig auch nicht – da habe ich schon ganz anderes Lamm gegessen, gerade gestern bei Pic zum Beispiel – aber immerhin!

Es folgt das Dessert, Liquirizia, also Lakritz, und das ist auch recht gelungen, nachdem man sich ein bisschen da „reinprobiert“ hat. Auch hier gilt: das ist gut, aber hervorragend ist anders.

Ein letztes (nichts nützendes) Aufbäumen vor dem unvermeidbaren Fazit sind die Petits Fours, deren Tiefpunkt ein kleines Plastikfläschchen mit Schraubverschluss ist, an dem ich (bei abgeschraubtem Deckel) kräftig sauge, ohne dass ich die weiße Masse aus ihrer Verpackung locken könnte. Ich schüttle und sauge, es kommt nichts raus, es ist ein Grauen.

Die Rechnung, die ich schon vor diesem letzten Akt bestellt hatte, gelangt an den Tisch. Es ist bedauernswert, dreihundert Euro für ein Erlebnis zu zahlen, das meinen Hoffnungen in keiner Weise gerecht wurde. Doch dies ist keine Beschwerde, denn das Restaurant hat nichts falsch gemacht. Es gab sorgfältig zubereitetes Essen mit anständigen Produkten und einigen interessanten Ideen, alles professionell und sympathisch serviert – mehr aber auch nicht.

Nimmt man das heutige Menü als Grundlage, ist die Bewertung von drei Sternen schlicht indiskutabel und nicht nachvollziehbar. Das heutige Erlebnis hatte nichts mit großer Küche zu tun, die beste Produkte in wohlschmeckende Erlebnisse verwandelt, die berühren und nachklingen.

Gegen halb elf verlasse ich dann die Praxis Duomo. Schmerzen hatte ich keine, aber viel besser als beim Arzt war das leider auch nicht. Vielleicht übernimmt ja meine Krankenkasse die Rechnung.

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: Piazza Duomo (→ Website)
Chef de Cuisine: Enrico Crippa
Ort: Alba, Italien
Datum dieses Besuchs: 12.02.2014
Guide Michelin (IT 2014): ***
Meine Bewertung dieses Essens 5 (Was bedeutet das?)