Kanda – Konsulate, Keramik und Kaiseki

Es ist mein fünfter Abend in Tokio. 120 Stunden bin ich also ungefähr schon (oder erst?) in dieser gigantischen Stadt, in der vieles nur mit Superlativen zu beschreiben ist. Wie auch das Essen bisher. Zieht man die Enttäuschung des Restaurant Joël Robuchon nicht mit ins Kalkül, waren alle weiteren sechs von mir bisher besuchten Restaurants grandios. Jedes für sich hielt der Michelin-Bewertung „ist eine Reise wert“ mühelos stand. Dabei lasse ich mich keineswegs von der Faszination dieser für mich neuartigen und einmaligen Küche blenden. Vielmehr ist es so als ließe die japanische Küche trotz ihrer teilweise hohen Komplexität weniger Fehler zu als das klassische französische Handwerk, das in der westlichen Welt den Ton angibt. Vielleicht macht hier aber auch einfach niemand Fehler. Die japanische Küche scheint zudem derart in sich zu ruhen, dass Experimente und Unsicherheiten hier gar nicht erst vorkommen. Die meisten Köche beherrschen ihre Techniken seit Jahrzehnten und machen keine Kompromisse bei den Rohstoffen. Was soll dabei noch schief laufen? Ich zumindest erlebe hier Perfektion und Stetigkeit wie nirgendwo sonst.

Kann ich noch? Und wie! Für heute Abend steht das Kanda in meinem Kalender. In einem etwa zehnminütigen Spaziergang dirigiert mich Google Maps von der Metrostation durch die hügeligen Gassen von Roppongi Hills, einer sehr gepflegten Gegend mit Konsulaten, Botschaften und entsprechenden Wohnanlagen. Wie opportun für die Damen und Herren Diplomaten, ein Drei-Sterne-Restaurant in der Nachbarschaft zu wissen.

Wie die meisten Restaurants hier ist auch dieses von außen kaum als solches wahrzunehmen, doch als ein Koch kurz hinaustritt, wähne ich mich in Sicherheit und trete ein.

Das Kanda ist ein wunderschönes Restaurant. Der Tresen ist aus sehr hochwertigem hellem Holz, an der Wand dahinter befinden sich Dutzende kunstvolle Keramiktöpfe auf schlichten Regalen, deren Formen und Farben einen Großteil des eleganten Charmes hier ausmachen. Die Freundlichkeit des etwas Englisch sprechenden Personals trägt viel dazu bei, dass ich mich von Beginn an hier wohlfühle.

Da die Weinkarte auch mal ein paar mehr Möglichkeiten bietet, gönne ich mir nach einem offenen Weißen (nicht notiert) eine halbe Flasche Clos du Marquis 2005 zum Essen. Die Bedienung ist sehr freundlich und bemüht: ihr fällt ein Stein vom Herzen, als mir der Probeschluck gefällt (woran ich allerdings auch keine Zweifel hatte).

Es geht dann auch gleich los. Auch das mag ich auch in den japanischen Restaurants: kein langes Brimborium um Garderobe und ums An-den-Platz-Marschieren; keine lange Auswahl-Arie um Aperitif und Wasser. Man bekommt zwar alles, aber stets effizient und ohne viel Aufsehen.

Wie wunderschön das aussieht! Bissfestes, brokkoliähnliches Gemüse in einer cremigen Tofusauce ist bereits optisch kongenial auf den Teller abgestimmt (oder andersherum), dabei keineswegs manieristisch, sondern mit einer unverkennbaren Liebe zu Detail und Ästhetik: typisch Japanisch eben. Ach so, es schmeckt auch noch ausgezeichnet: frisch, gehaltvoll, leicht cremig, mit schönem Biss. Das ist so souverän und exzellent wie Fingerfood-Gemüse von Alain Ducasse, nur eben doch ganz anders.

Auch hier durchflutet von Zeit zu Zeit ein angenehmes Röstaroma den Saal und aktiviert dann alle mit „heimelig“, „gemütlich“, „Lagerfeuer“, „Kamin“ usw. in Zusammenhang stehende olfaktorische Rezeptoren.

Ursächlich dafür ist unter anderem der nächste Gang, der erneut höchst einladend präsentiert wird. Zwei kleine Gelbflossenmakrelen garen auf einem Tischgrill über weißer Holzkohle. Man verspeist sie im Ganzen. Einfach köstlich, da gibt es nicht viel zu umschreiben. Der leicht erdige Saint-Julien passt dazu ganz hervorragend.

In einem Schälchen folgt ein Sashimi, dazu Sellerie, Sesam und etwas Geleeartiges, das leicht salzig schmeckt. Lediglich die glibberige Textur macht das Ganze etwas gewöhnungsbedürftig; Rohstoffe und Geschmackskomposition lassen aber auch für diesen Gang ein exzellentes Fazit zu.

Kompromisslose Rohstoffqualität ist dann auch das Thema des simplen, aber makellosen Seebrassen-Sashimi mit frischem Wasabi und einem jungen Farn.

Kaum zu glauben ist, wie grandios der nächste Gang ist. In einem heißen, transparenten Dashi, garen ein Stück artischockenähnliches Gemüse, Erbsen, etwas Lauch sowie ummantelte Garnelen. Eine kleine Blüte (Lilie?) schwimmt auch noch in dem Sud und fügt dessen Bukett eine kaum – aber eben doch – wahrnehmbare florale Note hinzu. Der flüchtige Duft, der diesem Schälchen entweicht, weist damit alle Merkmale eines guten Parfums auf: natürliche Ingredienzen, Wohlgeruch, Kopf-, Basis- und Herznoten und die Möglichkeit, durch ein rein olfaktorisches Erlebnis in eine andere Welt einzutauchen. Und dann kann man das Ganze auch noch essen: schmeckt fabelhaft. Ein aufwühlendes Erlebnis.

Auf dieser Genussebene geht es weiter, nun mit einem mit Reis gefüllten Schnapper-Sashimi, das kunstvoller kaum präsentiert sein könnte. Das Faszinierende an der japanischen Ästhetik ist immer, dass sie so einfach und genau dadurch so effektiv ist. Niemals käme hier jemand auf die hysterische Idee, ein Gericht in Jackson-Pollock-ähnlicher Manier auf ein Tischtuch aufzutragen (so erlebt im – dennoch insgesamt grandiosen – Chicagoer Alinea).

Hervorragend ist auch der folgende Torpedobarsch, knusprig mit Schuppen gegart und einem grünen Gemüse, das ich nicht benennen kann, welches jedoch eine spannende Frische beisteuert. Klar, rein, deliziös.

Der nächste Gang ist einer der besten auf meiner gesamten Reise, wenngleich ich in Kauf nehme, dass eine solche Aussage in Anbetracht meiner schon verbrauchten Superlative etwas abgedroschen klingt. Enorm sind die Unterschiede auf diesem Niveau ohnehin nicht, aber das Sashimi vom Bonito mit Dijon-Senf (!) und etwas Soja-Sauce ist einfach ein großartiger, puristischer, teils pfiffiger, Genuss.

Die zarte Textur des Fischs und die Reinheit des Produkts sind schon Höhepunkte für sich, doch es gibt noch unzählige weitere Stellschrauben auf dem Weg zu einem perfekten Häppchen. Hier sind sie offenbar alle richtig eingestellt: Temperatur des Fleischs, Dicke und Form der Stücke (Kontur, Einkerbungen usw.), Größe, Masse, Schräge des Anschnitts … All das ist am Gaumen wahrnehmbar – und macht Unterschiede. Dazu bringt noch der Senf einen überraschend passenden, fast schon „westlichen“, Akzent ins Spiel. Diese zwei kleinen Stücke hinterlassen mich sprachlos und in vollkommener Zufriedenheit.

Das nächste Gericht ist fast identisch zu beschreiben. Der einzige Unterschied ist, dass die Hauptzutat Rindfleisch ist. Aber was für eines! Die Saftigkeit, der Eigengeschmack, die feine Kruste und der hohe (nicht einmal sichtbare) Fettanteil machen genau diese kleinen Stücke zu den besten, die ich je probiert habe. Ein kleiner, säurebetonter Kräutersalat sowie erneut etwas Senf sorgen für angenehme Kontraste. Auch dies ist ein puristischer Hochgenuss.

Das schon jetzt unvergessliche Mahl geht weiter mit einem Schälchen, das mich etwas Überwindung kostet. Mir liegt die viele heiße Flüssigkeit nicht so sehr, die in vielen Kaiseki-Menüs gegen Ende hin serviert wird, insbesondere dann nicht, wenn merkwürdiges Meeresgetier darin schwimmt. Doch ist dies natürlich kein Makel, sondern eine rein persönliche Präferenz. Bis das Schälchen leer ist, habe ich mich sogar mit dessen Inhalt besser angefreundet als ich zunächst dachte.

Nach diesem heißen Intermezzo passt der folgende Teller mit frischem, säuerlichem Gemüse jetzt ganz hervorragend. Ein denkwürdiges Detail: die kleine Gurke wurde von einem der Köche mit einem scharfen Messer und äußerst geschickten Händen in Hunderte millimeterdünne Scheibchen geschnitten. Interessanterweise entsteht durch diese treppenartige Auffächerung am Gaumen ein ganz anderer, nämlich feinerer, Eindruck als würde man auf ein ganzes Stück Gurke beißen. So viel zum Thema Stellschrauben. Exzellent!

Die mir in dieser Machart schon aus dem RyuGin bekannten Minigarnelen sind auch hier ein knuspriger Hochgenuss. Davon könnte ich einen ganzen Eimer verspeisen.

Die zwei Desserts – eine Erbeermousse mit Kirschblütengelee sowie ein Zuckerrohreis – sind schnörkellose Abschlüsse eines rundum fantastischen Mahls, das mit ca. 51.000 Yen (€ 370) zwar zu den teuersten dieser Reise zählt – aber nach bereits einundzwanzig verkosteten Michelin-Sternen der letzten fünf Tage ist das Kind ohnehin schon in den Brunnen gefallen. Sayounara, Kanda-san, es war großartig!

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: Kanda (→ Website)
Chef de Cuisine: Hiroyuki Kanda
Ort: Tokio, Japan
Datum dieses Besuchs: 14.05.2014
Guide Michelin (TYO 2014): ***
Meine Bewertung dieses Essens 9 (Was bedeutet das?)