The Jane – Sergio 2.0

Eine neue Hauptversionsnummer bezeichnet in der Softwareentwicklung immer eine signifikante Erneuerung der Anwendung. Sergio Herman – einer der am höchsten dekorierten Köche – ist zwar weder eine Software noch ein anderer Mensch, aber sein neues Restaurant The Jane ist sein zweiter großer Coup nach dem legendären und seit Ende letzten Jahres geschlossenen Oud Sluis. Ich selbst erlebte dort Anfang 2010 eine der beeindruckendsten kulinarischen Darbietungen in einer schon damals für die Spitzengastronomie erstaunlich lockeren Atmosphäre.

Dass der noch junge „Rockstar der Spitzenköche“, wie er von vielen – auch wegen seines Aussehens – genannt wird, etwas Neues starten wollte, ist nachvollziehbar, denn das Oud Sluis hatte Höchstnoten in allen Restaurantführern erzielt und war nicht mehr zu verbessern.

Seit ein paar Monaten ist sein neues Restaurantprojekt Realität. Es befindet sich nicht mehr in den Niederlanden, sondern im benachbarten Belgien, genauer in Antwerpen, einer weltoffenen Hafenstadt, deren pulsierende Gastronomieszene am Zahn der Zeit ist. Die Freude, die die Menschen hier daran verspüren, Gastronomie als einen täglichen Erlebnisort des Genusses, der Entspannung und des Austauschs zu betrachten, liegt hier regelrecht in der Luft. Ein guter Ort also für kreative Gastronomen mit ambitionierten Plänen.

The Jane, so viel ist mir bereits bekannt, soll mit den üblichen Konventionen der gehobenen Gastronomie brechen, ohne dabei den Anspruch zu senken, den man an ein Restaurant von internationalem Format haben könnte. „Sinnlich, aufregend und schick“ soll es hier zugehen, aber auch ein bisschen „dunkel und rock-`n`-roll – wie die perfekte Frau“, so Sergio Herman in einem Interview. Daher wechselte der Name des Restaurants irgendwann vom Arbeitstitel „La Chapelle“ in den eines weiblichen Vornamens.

Weiter ist mir bekannt, dass The Jane sich in einer ehemaligen Kirche befindet, die aufwändig restauriert wurde. Dem Fortschritt der Bauarbeiten konnte man monatelang detailliert über die sozialen Netzwerke folgen.

Doch grau is‘ alle Theorie – entscheidend is‘ auf‘m Platz.

„Der Taxifahrer braucht keine Adresse, The Jane kennt hier jeder!“, sagt mir die Dame an der Rezeption meines Boutique-Hotels, amüsiert über die abwegige Idee, der bestellte Taxifahrer könnte ein gerade neu eröffnetes Restaurant eines bekannten Spitzenkochs nicht kennen.

Natürlich kennt er es nicht.

Nach einer (nur) viertelstündigen Irrfahrt, die der Fahrer damit verbringt, die Weganweisungen eines Kollegen umzusetzen, die dieser ihm übers Handy ins Ohr brüllt, komme ich an – oder fast an, denn zunächst stehe ich nur auf einem weitläufigen Areal, das früher mal als Militärkrankenhaus diente und seit einigen Jahren in ein „Grünes Quartier“ mit modernem Wohnraum umfunktioniert wird. Ganz schick.

Ich sehe mich um, entdecke zu meiner linken ein Gebäude, das als Kirche durchgehen könnte und pilgere zielstrebig darauf zu. Hach, ist das aufregend. Endlich wieder bei Sergio! Ich ziehe meinen nicht vorhandenen Hut vor derartigen Visionären.

Schon der Empfang ist wunderbar andersartig. Es könnte ein Nachtclub sein (dafür ist es aber noch zu hell), ein Spa (dafür ist es zu laut), ein Hotel vielleicht, doch dafür ist die Rezeption zu klein. Es ist einfach, was es ist: ein Restaurant der Zukunft.

Ich folge der jungen Dame zu meinem Tisch und tue so als wäre es völlig normal, jemandem durch eine riesige Kathedrale zu folgen, von deren zwanzig Meter hohen Decke mit abblätterndem Putz eine futuristische Lichtinstallation herabhängt und in der jetzt gedeckte Tische stehen statt karge Bänke; als wäre es völlig normal, dass ein leuchtender Totenkopf über einer verglasten Küche hängt, wo früher vermutlich der Altar stand, und als wäre es völlig normal, dass eine beachtliche Anzahl an gelöst wirkenden Gästen sich von in Designer-Uniformen gekleidetem Personal guten Wein empfehlen lässt, während im Hintergrund Lounge-Musik läuft. Ach ja: kennwortfreies WiFi gibt es hier auch, logisch.

Als wäre all das normal, sitze ich jetzt hier, ertappe mich bei staunenden Blicken und befürchte schon, dass man sich an Details satt sehen kann, also im wahrsten Sinn. Doch mein Appetit – nein, Hunger – ist groß, Hunger auf das Erlebnis The Jane, das gerade erst beginnt.

Einige Dinge werden schon an den Tisch gebracht: Brot, Butter, Olivenöl, etwas Knuspriges mit schwarzen Oliven, ein Dip mit Kürbis sowie in Zeitungs- und Butterbrotpapier eingewickelte, scharf angegrillte Frühlingszwiebeln. Gutes zum Knabbern!

Und noch bevor die Speisekarte gereicht wird, geht es weiter mit einigen einladend aussehenden Snacks (u. a. mit Zwiebel und Käse, Quinoa, Radieschen, Sanddorn), die bereits an Sergio Hermans Handschrift erinnern. Röstig, säurebetont, knusprig, herzhaft, köstlich!

Die Speisekarte kommt in einem schwarzen Einband und verblüfft mit cleveren Details. Man wählt lediglich aus, mit wie vielen Vorspeisen man beginnen möchte. Hauptgang und Dessert sind ohnehin Bestandteil jedes Menüs, optional kann später noch ein Käsegang eingeschoben werden. Man kann drei (€ 55), fünf (€ 70) oder sieben (€ 85) Vorspeisen wählen. Wählt man sieben – und später noch den Käse (zzgl. € 18) – knackt man gerade so die Hundert-Euro-Marke, was für ein zehngängiges Menü eine kleine Preissensation ist.

Neben einer normalen Weinkarte (die ich versäumte mir zeigen zu lassen) werden zu jedem Gang verschiedene offene Weine angeboten – heute Abend für mich die geeignetere Form. Hier ist die Kalkulation eindeutig etwas „saftiger“ (z. B. ein gewöhnlicher, unklassifizierter Saint-Emilion zu € 20 pro Glas), aber die verschiedenen Auswahlmöglichkeiten machen eindeutig Spaß.

Im Wesentlichen muss man sich also nur zwischen „3“, „5“ oder „7“ entscheiden, der Küche Vertrauen schenken und kann sich dann sofort wieder dem eigentlichen Abend zuwenden. Ich wähle „7“, habe vollstes Vertrauen und bestaune jetzt erst mal wieder das Interieur und die herrlich entspannten, gastrophilen Menschen hier.

Der Laden ist komplett ausgebucht (nicht nur heute, sondern über genau drei Monate – weiter im Voraus kann man nicht reservieren). Achtzig Gäste zähle ich mindestens, hinzu kommt noch ein Galeriegeschoss mit einer Bar. Die Kirche brummt.

Das Menü beginnt mit einem Vorspeisentrio. Es gibt Aal, Avocado, Gurke, grüner Tee (wunderbar rauchig-frisch), Kohlrabi, Ziegenkäse, Basilikumeis (sehr gut) sowie Tomate, Burrata, Wolfsbarsch, ein fantastischer kleiner Gang mit intensivem Tomatenaroma voller Sonne, dazu gutes Olivenöl und weitere sommerfrische Salatzutaten. Herrlich unkompliziert und wohlschmeckend. Ein Auftakt, der gerade wegen seiner Zugänglichkeit so reizvoll ist. Mehr davon!

Es folgt Tintenfisch, Chorizo, weiße Bohnen. Das ist sehr gut, „verschwimmt“ aber etwas von den Aromen her. Ein paar kräftige Akzente, z. B. etwas Pikantes, hätten hier Wunder gewirkt, doch es bleibt in Summe zum Reinlegen gut.

Die fortschreitende Dämmerung – und mit ihr eine gedimmte Beleuchtung – macht es hier noch stimmungsvoller.

Ein vielschichtiges Gemüsegericht folgt; dem Titel nach zu urteilen (‘t Hof Welgelegen) mit Zutaten eines Landwirtschaftsbetriebs aus der Umgebung. Es ist hocharomatisch. Ein salzbetonter, fast schon fleischiger Jus, angereichert mit Estragonöl, verleiht dem Ganzen eine würzige Tiefe. Köstlich!

Der nächste Gang – Spargel aus Eede, Morchel, grüne Erbsen, Lammschulter – enttäuscht etwas, da die einzelnen Zutaten seltsamerweise schlecht auszumachen sind. Die Lammschulter finde ich nicht einmal. Gerichte wie dieses unterstreichen den Unterschied zur ganz großen Küche des damaligen Oud Sluis; ein Vergleich, den sich Sergio Herman und Küchenchef Nick Bril natürlich gefallen lassen müssen …

… insbesondere, wenn man Gerichte von damals serviert, wie die berüchtigte iFoie. Diese zu einer Mousse verarbeitete Gänseleber mit kraftvollem Granny-Smith-Jus (also Apfel, Apple … fällt der Groschen?) in unverkennbarer Form ist allerdings nicht gerade die kulinarisch repräsentativste Kreation aus dem alten Hause.

Der Hauptgang holt’s wieder rein. Holstein-Rind, Aubergine, Miso, Sesam ist ein kleiner, unkomplizierter Gang mit einem Fleisch in herausragender Qualität, Zubereitung und Reifung. Natürlich macht man hier auch nicht von der Unart gebraucht, vorher zu fragen, wie man das Fleisch „denn gerne hätte“, als sei es legitim, der Küche vorzugeben, wie sie zu garen hätte. Wunderbar zum Fleisch ist eine knusprige, angenehm säuerliche Zubereitung von etwas Quinoa-ähnlichem sowie einige Gemüse und ein leichter, aber aromatischer Jus. Einer der besten Gänge des Abends.

Doch es geht jetzt auch hervorragend weiter.

Die Käseauswahl von Affineur Michel van Tricht & Sons ist exzellent; auch die Temperatur des Käses scheint auf ein Zehntelgrad perfekt zu sein. Zu kalt, und Käse wird steinhart und geschmacksneutral (wie zuletzt erlebt bei Pic), zu warm und er beginnt zu schwitzen und zu zerlaufen. Dazu wird noch einmal Brot gereicht und ein süßsäuerliches Kompott, aus, ich glaube, Äpfeln. Alles hervorragend.

Auch das Dessert – Erdbeere, Rhabarber, Pimm’s – hat (fast) alles, das man sich von einem fruchtigen Dessert wünschen kann und erinnert mit seinen beerigen Komponenten sehr an einen der süßen Abschlüsse neulich auf Schloss Berg.

Bei ebenso hervorragenden Mignardises verbringe ich noch etwas genussreiche Zeit damit, über das heute Erlebte zu reflektieren.

Für einen ziemlich sagenhaften Preis bietet das Team um Sergio Herman in The Jane eine Erlebnisgastronomie für kulinarisch verwöhntes Publikum. Die Atmosphäre ist lebhaft, überaus stimmungsvoll, originell und jung, und das Essen ist in Summe hervorragend. Natürlich – bei dem Preisniveau – wird deutlich, dass an der Menge der (kostspieligeren) Zutaten gespart wird, niemals jedoch an deren Qualität oder Zubereitung. Hierzulande ist es ja häufig andersherum.

Im Großen und Ganzen ist das einer der perfektesten Orte, die ich kenne, um bei anspruchsvollem Essen in gelöster Atmosphäre einen rundum perfekten Abend zu verbringen. Ich plane schon jetzt weitere. Jane, I think I’m in love!

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: The Jane (→ Website)
Chef de Cuisine: Nick Bril
Ort: Antwerpen, Belgien
Datum dieses Besuchs: 24.05.2014
Guide Michelin (B/L 2014): noch nicht bewertet
Meine Bewertung dieses Essens 7,9 (Was bedeutet das?)