L’Ambroisie – das zwischen den Bäumchen

Die Place des Vosges ist einer der schönsten Plätze von Paris. Um etwas mehr als einen Hektar Parkanlage säumen sich prachtvolle Stadtpalais mit Backsteinfassaden und hohen Giebeln.

Im Park locken eine Fontäne, Grünflächen und Bänke zum Verweilen ein, im Sommer spenden die Arkaden der Häuser ringsherum kühlenden Schatten. Flaniert man unter den Arkaden, entdeckt man vielleicht irgendwann einen unscheinbaren Eingang, auf dessen Existenz lediglich zwei Bäumchen in dekorativen Kübeln hinweisen.

Das ist der Eingang zu einem der allerbesten der besten Restaurants der Welt, eine Bastion der klassischen französischen Spitzenküche: L’Ambroisie, benannt nach der Speise der Götter. Ein selbstbewusster Name, doch vermutlich auch der treffendste für dieses Restaurant. Der Qualitätsfanatismus von Bernard Pacaud ist vergleichbar mit dem von japanischen Sushi-Meistern. Was Jiro Ono für Sushi ist, ist Pacaud für die klassische französische Küche. (Wer sich davon ein detaillierteres Bild machen möchte, dem empfehle ich diesen großartigen Film.)

Nach meinem bisher einzigen und unvergesslichen Besuch im Jahr 2009 stand ich schon häufiger vor den beiden Bäumchen an der Place des Vosges, nur um zu gucken, ob sie noch dort sind. Sie waren immer da, nur hatte ich stets andere Pläne. Aber das bloße Wissen um die Existenz dieses Orts hatte für mich über die Jahre immer etwas ungemein Beruhigendes. Das liegt daran, dass ich die Gerichte, die ich vor fünf Jahren hier genoss, zu den einprägsamsten und köstlichsten überhaupt zähle. Vielleicht esse ich genau diese heute einfach wieder, um mein Aromengedächtnis aufzufrischen. Dass sie noch auf der Karte stehen ist keine Frage, es waren Klassiker des Hauses.

Heute also gehe ich endlich hindurch zwischen den Bäumchen und hinein in die fensterlose Genusswelt der Pacauds. Das hier ist noch ein richtiges Familienunternehmen: kein Hotel im Hintergrund, keine weltweiten Dependancen, keine Öffentlichkeitsarbeit. Da hat man geradezu Verständnis für die extremen Preise, die das L’Ambroisie vermutlich zum teuersten Restaurant der Welt machen. Die Gerichte kosten im Schnitt über € 120. Keine Chance, hier zu zweit auf eine dreistellige Rechnung zu hoffen, selbst bei maßvollem Weinkonsum. Das ist schon für eine Einzelperson messerscharf kalkuliert. Aber wer schon mit Göttern speist, wer rechnet da noch?

Das Restaurant hat mehrere Speisesäle, die sehr klassisch dekoriert sind. Große Wandteppiche, Blumen und vergleichsweise simpel eingedeckte Tische, eine Art Markenzeichen. Selbst teure Weine trinkt man hier aus dickwandigen kleinen Gläsern, auf dem Tisch stehen Pfeffer- und Salzstreuer wie in einem Bistro. Mit dieser gewollten Einfachheit kommt eine Botschaft, die heißt: die Küche dieses Restaurants ist so zugänglich wie Bistroküche und auch sehr ähnlich konzipiert, nur mit anderen, viel teureren und rareren Produkten und aufwändigerer Zubereitung.

Ich wähle meine Gerichte von damals, doch der Maître d‘ – seit über dreißig Jahren hier im Haus – empfiehlt noch einen Zwischengang und genießt diesbezüglich mein uneingeschränktes Vertrauen. Wenn schon, denn schon.

Es wird ein Amuse-Bouche gereicht, eine lauwarme royale de foie gras mit einer Kopfsalat-Velouté und einer Art Senfcreme. Vollmundig, fein, wunderbar.

Und dann geht es los mit der feuillantine de langoustines aux graines de sésame, sauce curry (€ 98). Wer auch nur ein einziges Mal Kaisergranat von derartiger Qualität probiert hat, was selbst auf allerhöchstem Restaurantniveau schwierig ist, wird verstehen, warum ich in all den Jahren so klare Meinungen zu verschiedenen Produkten ausgeprägt habe. Keine Garnele wird jemals diesen leicht süßlichen Geschmack, diesen ganz speziellen, zarten, aber dennoch leicht festen „Biss“ aufweisen wie ein Kaisergranat. Und selbst von denen sind nur wenige so grandios wie diese perfekt gebratenen und alle völlig identischen Exemplare aus der Pfanne dieses Hauses.

In Verbindung mit einer leicht pikanten, verführerisch sahnigen Currysauce (!) und der Knusprigkeit des hauchfeinen Sesamgebäcks ist dies eines der vollkommensten Gerichte, die ich kenne. Immer noch. Nach all den Jahren meiner weiteren kulinarischen Bildung. Ich schließe die Augen, und die Geräusche um mich herum verschwimmen zu einem angenehmen Hintergrundrauschen. Dieses Gericht zu Essen ist wie Urlaub, wie ein faulenzender Tag am Meer, wenn man im Halbschatten unter Palmen eindöst. Das Gericht ist deliziös, kurz aufwühlend, aber dann beruhigend und erholsam. Wann kann man so etwas schon von einem Gericht behaupten?

Ich kann das nicht oft genug betonen: Wer nur in der deutschen, belgischen, nordischen, spanischen usw. Spitzengastronomie unterwegs ist, wird so etwas nicht nachvollziehen können. So etwas ist dort nicht erlebbar. Meine Leidenschaft für gutes Essen ist gerade deshalb so ausgeprägt, weil ich sehr früh in solchen Restaurants war. Die Lust nach Kreativerem und nach weniger förmlichen Restaurantkonzepten erwuchs erst später – und inzwischen macht es die schöne Mischung. Doch wer wirklich dazu steht, wegen guten Essens zu essen und noch keinen Fuß in ein Pariser Drei-Sterne-Restaurant gesetzt hat (zum Beispiel in dieses), der sollte alle Pläne verschieben und seine Flüge nach Paris noch heute buchen.

Es geht weiter. Nun mit dem vom Kellner empfohlenen Zwischengang, ravioli de homard, truffe (€ 86, kleinere Portion), ein wunderbarer, harmonischer, herrlich süffiger Gang mit allerfeinsten Zutaten. Die Pasta: perfekter Biss, tadellos gemacht. Selbst der weiße Alba-Trüffel, den das Restaurant heute zum letzten Mal in diesem Jahr auf der Karte hat, ist – trotz seiner naturgemäßen Prägnanz – so fein wie ich ihn noch nie zuvor erlebt habe. Wie die Faust aufs Auge passt dazu der Chassagne-Montrachet 1er Cru (Erzeuger nicht notiert, halbe Flasche € 120).

Dann folgt ein weiteres der zu recht berühmtesten Gerichte dieses Hauses (und der französischen Spitzengastronomie im Allgemeinen): escalopines de bar à l’émincé d’artichaut, nage réduite au caviar golden (€ 152). Oh ja, ich erinnere mich noch gut. Es war das erste Mal, dass ich erlebt hatte, wie Kaviar als wesentlicher Bestandteil eines Gerichts Verwendung findet, nicht nur als Nocke oder optionales „Add-on“. Hier schwimmt jede einzelne Perle (es dürften über Tausend sein) in einem reduzierten, mildsäuerlichen Jus, der durch den Kaviar noch eine meerige, leicht nussige Jodigkeit bekommt. Der in Perfektion gegarte Wolfsbarsch geht damit eine elegante Kombination voller Finesse ein. Zum Abtauchen und Schwelgen. In diesen raren Momenten vollkommener kulinarischer Glückseligkeit gibt es nur noch mich, reduziert auf Geruchs- und Geschmackssinn, dieses Essen und den Genuss.

In klassischer Fasson bildet ein Sorbet die Brücke zu den Desserts. In diesem Fall ein sorbet pinacolada, das mit seinem dichten, buttrigen Schmelz und einem komprimierten Geschmack der gesamten französischen Karibik restlos begeistert.

Das erste Dessert war ebenfalls ein weiterer Vorschlag des Kellners, auf den ich mich gerne einließ, bevor ich mich erneut dem besten Schokoladenkuchen der Welt widmen möchte. Doch zunächst gibt es reine des reinettes en boule nacrée, sabayon au calvados du Domfrontais (€ 23, kleine Portion), eine Apfelkonstruktion wie man sie häufiger schon gesehen hat, doch diese Ausführung setzt erneut Maßstäbe. Wenn man es ungeschickt macht, kommt nämlich so etwas dabei heraus wie bei einem nicht besonders repräsentativen Besuch im Le Pré Catelan vor ein paar Jahren, wo einem aus der geplatzten Zuckerkugel eine gigantische Menge schaumiger Masse entgegenquoll, die alles andere als appetitlich war.

Macht man es richtig, fällt das charmant verspielte Dessert so aus wie hier. Die hauchdünne Schicht schmeckt nach frischem Apfel, die Füllung besteht aus mild-süßlichen Apfelstücken und einer Calvados-Sabayon, nicht zu viel, genau richtig. Makellos, fast schon sommerlich, und dennoch in den Winter passend. Ein hoffnungsvolles Gericht auf wärmere, leichte Tage.

Der Schokoladenkuchen, d. h. die tarte fine sablée au cacao amer, crème glacée au moka (€ 30) ist ein weiteres Muss in diesem Haus. Ich hatte gar nicht mehr in Erinnerung, wie leicht das Stück ist. Schon bei der leichtesten Berührung mit der Gabel verschiebt man es. Die Tarte ist sehr aufwändig herzustellen und äußerst fragil. Durch die Luftigkeit dieser Kreation kostet es keine Anstrengung, ein Stück dieses Formats noch am Ende des Menüs genießen zu können. Eine Meisterleistung der Patisseriekunst und vor allem eines: unglaublich köstlich! Dazu empfiehlt der Sommelier ein Glas alten Rums, oder zwei – und könnte treffsicherer kaum sein. Santé!

Danke, L’Ambroisie, für diese wahrhaftigen Götterspeisen. Dieses Restaurant ist ein Sanatorium für die Geschmacksnerven, ein Institut für persönliche Eichung auf Produktqualität – und ein Fels in der Brandung. Das Essen hier ist unglaublich teuer, aber jeden Cent wert; die Küche ist allerhöchster Güte, aber sehr zugänglich; das Ambiente förmlich, aber nicht distanziert. Man lässt einen hier diskret genießen. Einfach nur genießen.

Ich werde weiterhin in die Welt hinausziehen und meine Botschaft verbreiten. Und es tut mir leid, dass ich so lange nicht durch die beiden Bäumchen hindurchgegangen bin. Es tut mir wirklich leid.

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: L’Ambroisie (→ Website)
Chef de Cuisine: Bernard & Mathieu Pacaud
Ort: Paris, Frankreich
Datum dieses Besuchs: 27.12.2014
Guide Michelin (F 2014): ***
Meine Bewertung dieses Essens 10 (Was bedeutet das?)