Dinner by Heston Blumenthal – alles hat seinen Preis

Wie ist denn den Plural von Ananas? Na ja, auf jeden Fall schmoren einige davon an Spießen vor einem offenen Feuer in der ebenfalls offenen Küche. Wie Döner, nur schöner. Was es mit diesem exotischen Braten auf sich hat, werde ich später erfahren.

Seit ein paar Jahren schon führt Heston Blumenthal im Londoner Hotel Mandarin Oriental am Hyde Park dieses Restaurant, welches sich eine moderne Interpretation englischer Gerichte der vergangenen Jahrhunderte zum Thema gemacht hat.

In Zeiten, in denen manche Restaurants um den halben Erdball „umziehen“ und rohe Shrimps mit Ameisen würzen, um auf sich aufmerksam zu machen, finde ich eine derart authentische Philosophie sehr reizvoll. Back to the roots – sofern man welche hat. Und dass die Esskultur der Engländer auf sehr soliden Beinen steht, sollte jedem klar werden, der heutzutage mal in England essen geht. „Ja, aber“, höre ich schon Stimmen laut werden, „man sehe sich mal auf den Tellern einer Familie in der englischen Provinz um“. Ja, das tue man tatsächlich mal, und vergleiche dann mit einem Teller der Deutschen: baked beans aus Dosen versus Schlemmerfilets von Iglo? Also immer schön den Ball flach halten.

Und was Heston Blumenthal betrifft: seine Küche hatte mich schon im The Fat Duck begeistert, und das trotz solcher Spielereien wie Meeresrauschen aus Kopfhörern und Stickstoffnebel.

Es gibt also an diesem Samstagmittag genug Gründe zur Vorfreude auf dieses Essen, für das ich optimistische drei Stunden Zeit mitgebracht habe.

Die Karte enthält, ganz klassisch, Vorspeisen, Hauptgänge und Desserts. Üblicherweise, so der Kellner, wählen Gäste aus jeder Rubrik einen Gang, aber wenn ich zwei Vorspeisen wünsche, wäre das auch noch zu schaffen. Gut, denn Frühstück habe ich heute ausgelassen.

Eine Entscheidung fällt mir zunächst gar nicht so leicht; alles sieht herrlich süffig und produktfokussiert aus. Nach einer Weile – und mit einigen unterstützenden Ratschlägen des netten Personals (lediglich der Sommelier ist ungefähr so gut gelaunt wie „Beißer“ aus dem James-Bond-Film Der Spion, der mich liebte) – steht meine vorläufige Wahl. Wenig später geht es dann los mit dem ersten Gang. Chichi-Grüße gibt es hier nicht.

Als mir dann das Savoury Porridge serviert wird und ich meinen Kopf leicht über den Teller neige, wärmt der aufsteigende Dampf mein Gesicht und transportiert dabei schmackhaft duftende Aromen direkt in meine Nase. Aromen von Kräutern und nassem Wald … Wie wohltuend!

Das Gericht ist auch geschmacklich fabelhaft. Es handelt sich um perfekt gekochtes Porridge, bedeckt mit einer grasgrünen Kräutersauce und Kräutern (Fenchel, etwas Knoblauch und Petersilie sind hier die Hauptkomponenten), dazu gibt es Pfifferlinge und obenauf von knusprigem Teig umhüllte Froschschenkel.

Eine ähnliche Kreation (mit Schnecken) wird auch im Fat Duck serviert, und so ist es kein Wunder, dass dieser Teller allerhöchste Weihen verdient. Köstlich. Eigentlich zum Tellerablecken gut.

Mit angenehmer Pause geht es weiter. Es folgt Frumenty nach einem Rezept von 1390 (!). Der Begriff bezeichnet eine altertümliche Getreidezubereitung, ähnlich wie Porridge, doch im Fokus des Gerichts steht gegrillter Oktopus, der geradezu unglaublich zart gekocht ist. Das habe ich bisher nur in Japan so erlebt. Dazu gibt es smoked sea broth – ein Sud, der angenehm nach Meer schmeckt und duftet – sowie die selten verwendeten Pflanzen Lappentang und Liebstöckel (auch als Mayonnaise). Ein Stück Zitronatzitrone (buddha’s hand) wurde auch noch mit verarbeitet. Die Kombination aus „Meeresbrise“, Grillaromen und den säuerlichen Komponenten ist außergewöhnlich gut.

Spätestens jetzt wird klar: eine weitere Vorspeise muss her, obwohl mir hinsichtlich der Portionsgrößen klar wird, dass das kein einfaches Spiel wird …

Während viele der Gäste jetzt schon mit dem Hauptgang fertig sind, schlage ich noch mal die Karte auf.

Mein dritter starter sind die Roast Scallops, die in einem Arrangement mit Gurkenketchup (!), gebratener Gurke (exzellent!), Bergamotte und Borretsch (Gurkenkraut) an den Tisch gelangen. Die Jakobsmuscheln – eine von mir nicht übermäßig favorisierte Zutat – ist hier auf den allergenauesten Punkt gegart und weist in Verbindung mit der goldenen Kruste einen leicht nussigen Geschmack auf. Allein das ist schon eine hervorragende Darbietung. Die Kombination mit den „gurkigen“ Zutaten ist leicht und frisch und sehr delikat. Und auch bei diesem Gericht fehlt nicht die bisher durchgängige Süffigkeit. Das schmeckt alles zum Reinlegen und Nachbestellen gut.

Die Wahl des Hauptgangs war wirklich nicht leicht. Lange habe ich mit einem der Rindfleisch-Gerichte geliebäugelt, doch meine Wahl fiel schließlich aufs Geflügel (Chicken cooked with Luttuces) – und das, obwohl ich von Geflügel sonst meist Abstand nehme. Ein gutes Steak ist zwar auch selten, aber saftiges, aromatisches Geflügel fast seltener. Hier wittere ich es.

Meine Neugier zahlt sich aus. Das prachtvolle Bruststück (!) ist unglaublich saftig, zart und aromatisch. Es ist eines der besten Stücke Huhn, die ich je probiert habe. Allein Form und Farbe sprechen Bände. Gebettet ist das feiste Stück auf einer Creme von gegrillten Zwiebeln, dazu gibt es geschmorte Salatblätter, knusprige Hühnerhautchips, Austernpflanze und einen Sellerie-Jus.

Zugegeben, das Geschmacksbild des Gerichts ist vergleichsweise simpel, aber ist es nicht genau das, was man sich häufig wünscht und so selten „in gut“ bekommt? Ist es nicht genau das, was die Esser hierzulande an der „Sterneküche“ vermissen und sie deshalb völlig falsch verstehen? Es gibt sie, eure saftigen Hühner und süffigen Speisen! In bester Qualität. Zum Beispiel genau hier, unter dem Licht von zwei hellen Sternen.

Und mal ganz am Rande: fällt das noch jemandem auf? Die Gerichte haben alle dieselbe Farbkomposition: grün/gelb/beige/braun. Beim zweiten Gang dachte ich noch an Zufall, beim dritten weniger, aber nach diesem Gang besteht gar kein Zweifel mehr. Und in der Tat, selbst andere Gerichte an Nachbartischen muten so an. Darauf angesprochen reagieren die Kellner unwissend, fast irritiert … sehr mysteriös. Ich bin mir ziemlich sicher, dass das Blumenthals eigener roter Faden durch die Speisekarte ist, so wie die Geschichte von Alice im Wunderland im Fat Duck. Es wirkt, als hätte er es sonst „zu einfach“. Ein kleiner, sympathischer Tick eines Genies.

Mittlerweile kämpfe ich wie nach einem Sechs-Stunden-Essen in 20 Gängen. Aber es ist ein lohnenswerter Kampf, und auf das schon zu Beginn bestellte Dessert (45 Minuten Zubereitungszeit) bin ich sehr gespannt.

Der Tipsy Cake (nach einem Rezept von 1810), ist ein von Butter, Sauternes und Brandy durchtränkter Kuchen, heiß serviert in einer Staub-Cocotte. Dazu kommen die Stücke der zu Beginn beschriebenen Ananas, die durch ihre milde Säure etwas Frische beisteuert. Diese Süßspeise ist so dermaßen gut, dass jedes Gramm davon für mich unverzichtbar ist. Das ist ein gewaltiges Dessert, in jeder Hinsicht. Ohne Zweifel eines der besten, die ich je gegessen habe. Heiß, süß, fettig und nach Bäckerei und Brandy duftend. Es ist kaum auszuhalten, so gut ist das.

Aber ich halte es aus und aktiviere letzte Reserven. Irgendwann ist das Töpfchen leergekratzt und die Ananas nur noch eine Erinnerung. Nur eines kann ich nicht mehr: mich rühren. So hat eben alles seinen Preis.

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: Dinner by Heston Blumenthal (→ Website)
Chef de Cuisine: Ashley Palmer-Watts
Ort: London, Großbritannien
Datum dieses Besuchs: 24.01.2015
Guide Michelin (GB/IRL 2015): **
Meine Bewertung dieses Essens 8,5 (Was bedeutet das?)