Régis et Jacques Marcon – das Terroir der Auvergne

Fährt man von Lyon aus hundert Kilometer in südsüdwestlicher Richtung, entlang so berühmter Weindörfer wie Ampuis und Condrieu, gelangt man, wenn man möchte, irgendwann im 250-Seelen-Dorf Saint-Bonnet-le-Froid an. Die hügelige, saftige Landschaft der Auvergne prägt hier die Kulisse. Überall blickt man auf Grün. Täler und Berge schmiegen sich an jede Straße.

Mein Ziel vor Ort ist das Relais & Châteaux Régis et Jacques Marcon … noch nicht ganz, denn das Hotel war bereits Wochen zuvor bei meiner Reservierungsanfrage ausgebucht. Stattdessen habe ich eine Buchung im Clos des Cîmes, dem dazugehörigen Schwesterhotel ein paar Hundert Meter weiter unten im Ort. Einfach, aber sympathisch, so war der Eindruck schon im Internet, und auch von außen sieht das Gebäude mit alter Steinfassade einladend aus.

Zwar ist hier eine Nacht mit 170 Euro kein Vergleich zum eigentlichen Relais & Châteaux, ist aber auch nicht gerade hinterhergeschmissen. Das goldene Logo der prestigeträchtigen Hotelvereinigung prangt immerhin auch hier an der Tür – ein perfider Bluff. Als ich einchecke, traue ich meinen Augen kaum. Der Gang zum Zimmer führt ein Stockwerk tiefer in einen Flur, dessen Krankenhausambiente noch durch ein benutztes Kinderbett verstärkt wird, das direkt vor meiner Zimmertür steht. Das Zimmer selbst – muffig und dunkel – ist an gestalterischen Greueltaten und Unbehaglichkeit kaum zu überbieten. Ein großer Röhrenfernseher, billiges Mobiliar und ein durchgesessenes Sofa lassen mich fühlen wie Tim Raue in Kitchen Impossible, als dieser in einem tatarischen Dorf an der weißrussischen Grenze in einer sehr traditionellen Hütte nächtigen soll. Tim, du hast mein Mitgefühl.

Eine gute Stunde später – nach einigen Komplikationen – habe ich schließlich in einer anderen Herberge eingecheckt, direkt nebenan in einer ebenfalls rustikalen, aber sehr angenehmen Unterkunft bei André et Viviane Chatelard. Dies ist daher meine uneingeschränkte und einzige Empfehlung in diesem Ort, falls das „echte“ Relais & Châteaux ausgebucht ist. Viel mehr gibt es hier auch nicht.

Es brauchte eine Weile, von dem Hotelschock herunterzukommen.

Das gelingt wenig später im Vorraum des Restaurants auch noch nicht besonders gut, denn die Bedienung ist zunächst recht lange mit Ignorieren statt mit Bedienen beschäftigt. Irgendwann klappt es aber, und es gibt endlich ein Glas Champagner, die Speisekarte und die ersten Amuse-Bouches. Nach so viel Aufregung ist das jetzt endlich mein erster Kontakt mit Essen aus diesem Haus, das insbesondere wegen der Zubereitung von Pilzen aus der Umgebung berühmt ist.

Doch der Auftakt ist schwach. Es gibt ein paar wenig aussagekräftige Kleinigkeiten mit Steinpilz, sehr rustikale charcuterie, etwas Lachs und eine befremdlich trocken aussehende Auster. (Warum ist die Schale der Auster so blitzblank? Verwendet man die etwa wieder?)

Im Grunde gibt es zwei Arten von Drei-Sterne-Restaurants: die eine, bei der man bereits beim ersten Gramm Nahrungsaufnahme weiß, dass sich alle Anreise-Strapazen gelohnt haben – und solche, bei denen man hofft, dass es eigentlich nur noch besser werden kann. Dieses Restaurant ist in der letzteren Kategorie beheimatet. Keine Frage: das kann gleich alles noch ganz fulminant werden. Aber dennoch: es gibt ein oberes und ein unteres hohes Niveau.

Als ich dann im Speisesaal Platz nehme, fühle ich mich zum ersten Mal wohl an diesem Ort. Die breite Glasfassade mit Blick auf die bergige Landschaft macht die Esser zu Zuschauern und die Natur zur Bühne.

Und genau in diesem Moment macht ein Tiefdruckgebiet einem Hoch Platz. Der Himmel öffnet sich zum ersten Mal seit Stunden, und der graue Nebel verzieht sich. Das letzte Hellblau vor der blauen Stunde strahlt hell auf das satte Grün der Wiesen, und die Reflexionen in den Fensterscheiben vermischen die Innen- mit der Außenwelt als säße man draußen in der Natur.

Eine stimmungsvollere Einleitung in die Küche von Vater und Sohn Marcon könnte es kaum geben.

Das Menü (Le Menu entre Velay et Vivarais, € 198) beginnt dann mit einem weiteren Amuse-Bouche, einem heißen Süppchen mit Kresse und Froschschenkel. Das Niveau zieht deutlich an, die Speise ist ein wohltuender Genuss.

Es folgt Gang eins, Felchen aus dem Léman (Féra du Léman), angerichtet auf einer wiesengrünen Komposition mit Tannenzapfen, Rainfarn und grünem Spargel. Die kräuterige Emulsion mit ihrem leichten Tannenzapfenaroma ist eindringlich gut, und der Fisch – perfekt gegart mit glasig-fester Textur – schmilzt am Gaumen. Ein ganz wunderbares Gericht.

Als zweiter Gang folgt Kaisergranat mit März-Schneckling (Langoustine et hygrophore de Mars), dazu eine einzelne Stange weißen Spargels aus dem Lubéron sowie eine Sabayon mit Pilz- und Röstaromen. Das Gericht ist in seinem Wesen eigentlich gar nicht zu kritisieren, doch ich wäre nicht objektiv, wenn ich verschwiege, dass der Kaisergranat eine Nuance zu weich gegart ist. Auch finde ich weißen Spargel zu dem Krustentier nicht ganz so passend wie bspw. grünen. Doch unterm Strich ist dies ein erhabenes Gericht mit begeisternden Produktqualitäten, die man nur auf wenigen Tellern der Welt so finden kann.

Sympathisch übrigens: der „alte“ Marcon spaziert den Abend über von Tisch zu Tisch, um jedes Gericht, das gerade serviert wird, vorzustellen. Er tut dies kurz und bündig, mit gerade so vielen Informationen wie nötig. Strapazierende Monologe, an denen sich so mancher Restaurantgast hierzulande erfreut, bleiben selbstverständlich aus. Hier geht es um Feinheiten, die sich selbst dem warenkundigsten Esser nicht erschließen können.

Denn denjenigen möchte ich sehen, der erkennt, dass zu den Morcheln und jungen Erbsen (Morilles, petits pois et silène enflé) ein Schaum von Klatschnelke serviert wird. Die Morcheln selbst sehen riesig aus, was daran liegt, dass sie gefüllt sind – wie es scheint, mit einer Morchelfarce. Das ist leider etwas ärgerlich, denn es lässt die zwei wohlgeratenen Exemplare recht trocken und massig erscheinen. Die ätherische Frische der jungen Erbsen begeistert jedoch wieder und attestiert auch diesem Teller ein hohes Niveau.

Das Menü fährt fort mit einem in Sauerampfer gedünsteten Filet vom Petersfisch mit säuerlichen Gemüsen (Saint-pierre et aigrelette de nos champs). Säure, Jod und Salzigkeit sind hier das Thema: ein eindrucksvoll umgesetzter Schwenk vom Land ins Meer. Doch geschmacklich verliert mich dieser Teller. Es gibt zwar – wie bei einem Spaziergang am Strand – viel zu entdecken und aufzusammeln, aber die Komponenten wirken etwas zusammengewürfelt, vor allem eine frittierte Stange, die auf dem Fisch liegt. Nicht so ganz mein Fall.

Vor dem Hauptgang gibt es dann eine Consommé mit Trüffeln (comsommé et truffes), Letztere zu finden einem à part servierten Raviolo. Das als „Tee mit Champignons“ untertitelte Süppchen ist mit Minze parfümiert und besonders durch diesen Akzent hervorragend.

Weiter geht es mit einem hervorragenden Protagonisten in Form von 40 Tage gereiftem Rind (Bœuf « sélection Pâques »), doch eine dazu servierte Bärlauchcreme ist viel zu penetrant, genauso wie das in Blättern eingewickelte Schmorfleisch, bei dem mich ein starkes Aroma von etwas Ähnlichem wie Orangenblüte befremdet. Geschmackssache, ganz klar, aber in diesem Fall nicht meine.

Ein Granité mit Zitrone und Thymian neutralisiert das wohltuend, und eine kühle Kreation mit ganz viel Erdbeere rundet das Menü dann ab.

Wer jetzt noch kann, bedient sich noch an den sehr gelungenen Mignardises.

Ein langer Tag mit vielen Wirrungen und ein umfangreiches Menü gehen damit zu Ende. Es war ein Menü, an das ich mich lange erinnern werde, trotz verschiedener Kritikpunkte. Nur selten habe ich eine Küche erlebt, die so von ihrem Terroir geprägt ist wie diese. Jede Zutat prahlt mit ihrer Herkunft, ganz zu Recht und regionaler als es jedes urbane Restaurant mit „regionalem Konzept“ jemals könnte. Hier ist Regionalität kein Trend, sondern Tradition: alltäglich, unumgänglich, unnachahmbar … und so eindrucksvoll, dass sie ganz wesentlich in meine Bewertung einfließt. Gute Nacht, Auvergne!

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: Régis et Jacques Marcon (→ Website)
Chef de Cuisine: Régis & Jacques Marcon
Ort: Saint-Bonnet-le-Froid, Frankreich
Datum dieses Besuchs: 01.05.2015
Guide Michelin (F/MC 2015): ***
Meine Bewertung dieses Essens 8,9 (Was bedeutet das?)