Benu – furiose Fusion

Als ich das letzte Mal in San Francisco war, gab es hier noch kein Drei-Sterne-Restaurant. Inzwischen, seit letztem Jahr erst, sind es gleich zwei. Das Benu ist eines davon, und das ist so ziemlich das einzige, das ich über dieses Restaurant weiß.

Artig hatte ich mich exakt 30 Tage vorher, auf die Sekunde genau, um eine Reservierung bemüht, aber der Hype ist hier gar nicht so groß, dass eine derartige Pedanterie erforderlich wäre. Ein späteres Umlegen des Termins über OpenTable war problemlos möglich.

Als ich dann an diesem Donnerstagabend das dunkelgraue, etwas an eine Kunstgalerie erinnernde Restaurant betrete, ist meine Spannung groß. Die Vorfreude wird zunächst etwas getrübt, als ich nicht im eigentlichen Speisesaal platziert werde, sondern in einem separaten Raum, in dem mich zwei Dinge davon überzeugen, entweder sofort umgesetzt zu werden oder das Restaurant ohne einen Happen Nahrung wieder zu verlassen und das nächstgelegene Jack-in-the-Box gegen meinen spürbaren Appetit anzusteuern: Am Tisch hinter mir feiert eine große asiatische Gesellschaft mit ihrem Nachwuchs einen sehr lauten und offenbar recht kostspieligen Kindergeburtstag (eine Kindertüte steht hier nämlich nicht auf der Karte, sondern ausschließlich ein dreihundert Dollar teures tasting menu), und am Tisch neben mir, keine vierzig Zentimeter entfernt, versinkt ein ebenfalls asiatisches Paar mit zweifelhafter Kleidung völlig lustlos in ihrem Essen. Ich bin der größte Verfechter von Lockerheit in der Gastronomie, doch in dieser Atmosphäre ist kein Spaß zu holen. Da komme ich mir mit Anzug und Anstand etwas hintergangen vor, vorsichtig formuliert. Auch habe ich mir abgewöhnt, die Dinge zunächst auf sich beruhen zu lassen, denn wenn man im Begriff ist, fünfhundert Dollar pro Person für ein Essen auf den Tisch zu legen, muss man sich von vornherein wohlfühlen, vor allem, wenn eine Alternative in Sicht ist.

Sie ist in Sicht – und schon wenige Minuten später Realität.

Im eigentlichen Speisesaal fühle ich mich wie in einem anderen Restaurant. Rewind – alles beginnt von vorn. Die heißen Handtücher, die Frage nach dem Wasser (Still or sparkling?), das Reichen des Menüs. Das gleißende Licht von Draußen und der Straßenlärm sind einer gedämpften, kühleren Umgebung gewichen. Ich mag das, atme auf, bin in meinem Element.

Das Menü beginnt mit den small delicacies, ein Euphemismus in Anbetracht der folgenden elf (!) Köstlichkeiten, die nicht etwa die Eröffnung des Menüs darstellen, sondern weit ins Mittelspiel fortschreiten. Die kleinen Meisterwerke sind genug, um ein ganzes Menü zu rechtfertigen. Genug, um den Schluss zuzulassen, in einem der besten Restaurants zu Gast gewesen zu sein. Genug, um fasziniert, verzaubert und glücklich diesen etwas sterilen Laden wieder verlassen zu können.

Das liegt an so feinen und gleichermaßen zugänglichen Kompositionen wie dieser ersten mit Kaviar, „Hühnercreme“, Wassermelone und gerösteter und an Hotdog erinnernde Zwiebel.

Und an einem Teller-Duo mit gebeizter Makrele mit Lotusfrucht, der die Essenz japanischer Küche auf einem Teller vereint, ohne dies von sich zu behaupten; und an einer gelben Tomate mit fermentierter Krebssauce und einem ätherischen Kraut, das die Aromen noch tiefer in Richtung Gehirn zu befördern scheint.

Und es liegt an einer meisterhaft frittierten Okraschote mit Shrimp und Rogen und an deren Wärme und der Knusprigkeit, die durch und durch geht. Und an einer makellosen Jakobsmuschel mit Bambus und beurre noisette.

Man glaubt kaum, dass das Menü noch immer nicht richtig begonnen haben soll, allerdings sagt das auch niemand. Sowohl die Präzision der „kleinen Delikatessen“ als auch deren Geschmackswelt zeigen an, dass wir uns bereits mitten drin befinden.

Mitten drin in einer Welt, die es vorsieht, dass eine aus herzhaftem Fond hergestellte essbare Schale, in der jodige Auster, salzig-süffisanter Schweinbauch und ein herzhaft-säuerliches Kimchi-Gemüse eines der deliziösesten Genusserlebnisse überhaupt auslösen kann.

Weitere Petitessen gelangen auf den Tisch.

Es gibt (erneut) eine kleine Tomate, diesmal hergestellt als eine im Mund aufplatzende Sphäre, die einen süffigen Jus freigibt, der an Sauce Bolognese erinnert. Souveräner kann man mit moderner Küchentechnik nicht umgehen. Ebenfalls auf dem kleinen Teller findet man zwiebelige Croutons, Öl, Butter, Wärme, Salzigkeit, Süße, Umami, exotische Gewürze. Grandios.

Dann gibt es einen kleinen „Überraschungsbeutel“, der sich im Mund zu einem wohlschmeckenden Brei mit schwarzen Trüffeln auflöst. Und es gibt eine Art Fleisch in Aspik, worin florale Aromen eingearbeitet wurden. Ich komme kaum aus dem Staunen heraus, vom Genießen ganz zu schweigen. Alle diese Speisen sind zutiefst glücklich machend, nicht nur bedingt durch die makellose Produktauswahl und ein perfektes Handwerk, sondern durch eine so zugängliche, herzhaft-elegante Aromenwelt, die sogar Gelüste nach Pizza, Fleisch und anderer Hausmannskost befriedigt. Jeder dieser Bissen hier ist einfach nur verflucht köstlich.

Ein rauchig gebratenes Stück Meeresschnecke sowie ein „Aal-Taco“ mit Limone und verführerisch knusprigem Teig markieren das Ende der small delicacies, die ich zu den besten Speisen zähle, die jemals den Auftakt eines Menüs darstellen sollten.

In der Zwischenzeit mache ich mich etwas über den Küchenchef schlau und erfahre Schlüssiges: Corey Lee, einst Küchenchef in der French Laundry, hat seine Wurzeln in Seoul, was den leicht asiatischen Stil aller Speisen sowie möglicherweise auch die vielen asiatischen Gäste hier erklärt. Die Küche Lees ist bisher die für mich vollkommenste Verbindung von östlicher und westlicher Küche, vor allem bedingt durch die vollmundig-herzhafte Aromenwelt (umami), der man in der westlichen Spitzengastronomie in dieser Form kaum über den Weg läuft.

Es geht weiter …

… mit „Tausend Jahre altem Wachtelei“, Potage und Ingwer. Das aufwändig hergestellte Ei besteht aus einer Vielzahl an Komponenten (von denen eine das Wachtelei selbst ist), die ich in der Schnelle, in der sie der Kellner beschreibt, nicht behalte. Angegossen wird dazu eine leicht schaumige Creme (Potage). Das Häppchen braucht nur Sekunden, um verzehrt zu werden, und ich stelle fest, dass die physische Vergänglichkeit dieses Häppchens Teil des Erlebnisses ausmacht. Das Erlebnis am Gaumen – hier ein Kontrast aus anregender Schärfe und beruhigender Cremigkeit – weicht einem minutenlangen Nachklang, wie der Abgang bei großem Wein, und geht schließlich über in die Erinnerung, die noch vielschichtigere Empfindungen zulässt und am längsten anhalten wird. Es sind diese seltenen kulinarischen Momente, die man erlebt haben muss, um zu wissen, wie aufwühlend Essen sein kann. Sie haben nichts mit irgendetwas von dem zu tun, das bei uns zulande mit Sterneküche assoziiert wird. Sie haben nicht einmal etwas mit Gastronomie zu tun. In diesen Momenten gibt es immer nur einen selbst, die Speise und ein Feuerwerk an Emotionen; alles Drumherum ist ausgeblendet und nichtig. Ob der Service gut ist, das Ambiente stimmt oder der Wein schmeckt, ob man an einem viereckigen Tisch sitzt oder an einem geschwungenen Tresen: all das spielt in solchen Momenten keine Rolle. Andersherum funktioniert das nicht. Ein ausgefallenes Gastronomiekonzept, perfekter Service oder ein Wohlfühlambiente sorgen allenfalls für einen schönen Abend, nicht jedoch für das Erlebnis, das eine Speise wie diese in einem auslösen kann.

Wie gedankenanregend doch ein einzelner Happen sein kann.

Das nächste Gericht hört auf Tomate, Sellerie, XO und schmeckt frisch und würzig. Besonders gelungen ist hier die Betonung des der Tomate zugehörigen Umami-Geschmacks durch die pikante XO-Sauce auf Fischbasis, was ein wenig so schmeckt als wäre eine würzige Wurst mitverarbeitet worden. Stark!

Es folgen Xiao Long Bao mit Foie Gras, das heißt gedämpfte Teigtaschen mit einer heißen Füllung und einer säuerlichen Tunke. Diese hier zählen zu den besten, die ich bisher probiert habe. Der Teig ist hauchdünn, die Füllung reizvoll cremig, der Dip nicht so stechend sauer wie ich das bspw. vielerorts in Hongkong erlebt habe, sondern komplexer und dennoch kraftvoll. Sicherlich ist diese Version etwas verwestlicht – gerade durch den Einsatz von Foie Gras –, aber für mich persönlich dadurch verbessert. Authentizität ist kein Garant für Genuss. Nur, wenn man bereit ist, alle Möglichkeiten zu berücksichtigen, die einem zur Verfügung stehen, kann man eine Speise perfektionieren (so man denn möchte). Das ist übrigens auch einer der Gründe, warum die nordic cuisinie mit allen ihren Dogmen für mich nie absolutes Spitzenniveau erreicht.

Weitere Komponenten dieses Gangs sind würzig abgeschmeckte Gurkenwürfel, die angenehm kühl sind, sowie ein gedämpftes Brötchen mit einer ähnlichen Konsistenz wie roher Teig, zu dem eine Creme mit Trüffeln gereicht ist. Das ist etwas eigenartig, aber in seiner ganzen Kuriosität ebenfalls hervorragend.

Zu weiteren Gefühlsregungen sorgt ein Gericht mit Abalone, Kartoffel, Kräutern und Totentrompeten. Abalone ist für mich eine Meisterin der Textur: mit ihrem leichten Geschmack nach Ozean und einer sonderbar faszinierenden Konsistenz zwischen Shiitake-Pilz und Radiergummi habe ich das auch als Seeohr bezeichnete Schneckentier längst lieben gelernt. Brät man es leicht an, komplementieren Röstaromen den feinen Kaugenuss. Und kombiniert man das Ganze dann noch so wie hier mit Trompetenpilzen, welche die von mir beschriebene Textur der Abalone kongenial unterstreichen, erhält man einen weiteren vollkommenen Teller.

Der nächste Gang ist ein Stück Rinderhochrippe, das mit eingekochten Tomaten und einem Jus mit gerösteten Schalotten serviert wird. Nach dem ersten Bissen – nein, eigentlich schon beim Anschnitt mit dem Laguiole-Messer – ist klar, dass dieses Stück Fleisch zu den besten zählt, die ich je gegessen habe. Wenn ich mich in diesem Moment wirklich festlegen müsste (und könnte), ist es das beste: zartrosa, am Gaumen fast zerfallend, aber dennoch mit ausreichendem Biss, das Fett und der damit verbundene Wohlgeschmack im Fleisch integriert und längst nicht so extrem wie bei japanischem Wagyu. Die ganz dunkel eingekochten, kompottartigen Schalotten steuern dazu ein unwiderstehliches Spiel von Säure, Süße und Röstaromen bei. Einfach sensationell!

Das spektakuläre Menü fährt fort mit Porridge, „Haifischflosse“, Taschenkrebs und Jinhua-Schinken. Die Anführungszeichen bei der Aufsehen erregenden Zutat signalisieren, dass es sich dabei um ein Substitut handelt. Tatsächlich weist eine Haifischflosse – so erklärt es der Kellner – eine sonderbare, fadenartige Textur auf, ganz ähnlich wie die hier aus einem herzhaften Fond hergestellten Fäden, die an etwas festere Glasnudeln erinnern. Darunter findet man dann eine vollmundige Geschmackswelt aus herzhaften Aromen, fantastischer Produktqualität und makellosem Küchenhandwerk. Atemberaubend gut.

Als Einstimmung zum Dessert gibt es ein erstaunliches Gebilde namens „gehobelte Milch“ (shaved milk), das man mithilfe von Stäbchen in Honig taucht …

… und dann, wenn gar nichts Großartiges mehr folgen müsste, um dieses Essen für immer in Erinnerung zu behalten, folgt ein Dessert mit Erdbeere, Mandel und Kokos, das beim „Anstechen“ ein so verführerisches, Freude spendendes, dumpf-hohles Geräusch von sich gibt wie das Durchstechen der Folie eines Nutella-Glases. Die Belohnung folgt auf dem Fuße: Intensiv schmeckende gelierte Erdbeeren vermengen sich mit einer sahnigen Kokos-Mandel-Creme und irgendetwas Knusprigem zu einem der köstlichsten Desserts, die man vermutlich zubereiten kann. Hiermit erkläre ich allen Desserts den Krieg, die mir künftig als Straße von zig Komponenten, von denen mindestens eine ein Gemüse ist, begegnen. Her mit Genüssen, in die man eintauchen will, weg mit allem Rest! Cornetto Erdbeer und Ed von Schleck haben einem damals nicht umsonst so gut geschmeckt.

Ich verlasse das Restaurant aufgewühlt, angenehm gesättigt und angespornt zu weiteren kulinarischen Abenteuern. Es gibt sie noch, die ganz großen Überraschungen. Ich habe niemals daran gezweifelt.

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: Benu (→ Website)
Chef de Cuisine: Corey Lee
Ort: San Francisco, USA
Datum dieses Besuchs: 06.08.2015
Guide Michelin (SF 2015): ***
Meine Bewertung dieses Essens 10 (Was bedeutet das?)