Saison – ja, ich will

„Take my breath away/ To some secret place inside …“ tönt der entspannte Achtzigerjahre-Soundtrack im Saison, und als ich kurz mal vom Tisch verschwinde, ertappe ich mich dabei, euphorisiert mitzusingen. Nicht etwa, weil ich mir die kitschige Filmszene aus dem Film Top Gun in Erinnerung rufe, sondern weil dieser Laden hier einfach nur der absolute Obermegahammer ist und ich mir dann erst die kitschige Szene aus Top Gun in Erinnerung rufe. Wenn man den Film zum ersten Mal sieht, ein paar Jahre vor der Altersfreigabe, ist das wie zum ersten Mal im Saison zu sein: aufregend, neu, erregend.

Der bereits fortgeschrittene Abend stand von Beginn an unter einem guten Stern, viele essbegeisterte Freunde von Los Angeles bis Hongkong sind heute hier angereist, um gemeinsam ein großes kulinarisches Fest zu feiern. Und es ist fantastisch. Große Gewächse fließen in Strömen, man weiß gar nicht genau, wer gerade den Krug Rosé kredenzt, der einem gerade in ein neues Glas eingeschenkt wird und wessen Bonnes Mares Grand Cru da gerade auf dem Tisch steht. Die Gespräche sind lebhaft, jeder lacht und genießt. Und inmitten dieses rauschenden Fests versuche ich, das Essen, das mich nach ein paar Gängen schon so dermaßen von den Socken gehauen hat, objektiv zu beurteilen und nehme mir immer wieder Zeit für Reflektionen und eine Notiz.

Und dieses Ambiente! Dieses einzigartige Ambiente.

Den bestimmt zehn Meter hohen und noch viel längeren Saal prägt eine Kulisse im Industrieschick. Stahlträger, Sichtbeton, Lüftungsrohre und Klinker sind die stilprägenden Elemente des vorderen, mit schlichten dunklen Tischen ausgestatteten Speisebereichs, die weiter hinten dann einer Szenerie mit weißen Fliesen, Edelstahlarmaturen und von der Decke hängenden Kupfertöpfen weichen. Als Verbindungselemente zwischen diesen Welten dienen die Köche, die immer mal wieder einen Gang oder eine Sauce direkt am Tisch servieren. Mal ist es aber auch ein Kellner mit Anzug, Weste und Krawatte, aber ohne Stock im Allerwertesten. Pardon. Ganz egal, wer etwas serviert oder erläutert, geschieht dies immer charmant, ungezwungen und hochprofessionell. Es ist eine neue Art der Bewirtung, und sie gefällt mir in diesem einmaligen Rahmen außerordentlich gut.

Der Gang, den ich gerade hatte, bevor ich kurz den Tisch verließ, war Seeigel aus Fort Bragg, einem Küstenort nördlich von San Francisco, der auf einem Stück dunklen Brot serviert wurde, dieses wiederum durchtränkt mit einer süßsäuerlichen Sauce, deren Herstellung allein zwei Monate Zeit in Anspruch nimmt. Dazu wird die Sauce in einem iterativen Prozess immer wieder in Brot getunkt, welches dann getrocknet, pulverisiert und wieder zu einer Sauce verarbeitet wird, die dann erneut von einem Stück Brot aufgesaugt wird, welches wieder getrocknet und pulverisiert wird usw. Das Ergebnis ist ein süßsäuerliches weiches Stück Brot, auf dem eine – vom Volumen dem Brot in nichts nachstehende – Portion Seeigel thront, die von atemberaubender Qualität ist. Der Seeigel ist sogar besser als alle Exemplare, die ich aus Japan kenne. Am Gaumen findet eine Geschmacksexplosion statt, die Milliarden von Neuronen feuern lässt: die scheinbare Ambivalenz von fischig/jodig und erdig/süßlich ist eine Harmonie ohne Vergleich.

Beim Genießen des Häppchens schweifen meine Gedanken ab, und mir wird etwas bewusster denn je: Die meisten unserer Sinne sind im Laufe des Lebens recht schnell gesättigt. Das gesamte Farbspektrum ist spätestens beim Anblick des ersten Regenbogens abgefrühstückt; ertastet hat man auch schon das meiste, von heiß über kalt bis zu rau und flüssig; und die für das menschliche Ohr wahrnehmbaren Tonfrequenzen kennt man irgendwann auch alle. Wirklich „überraschen“ kann einen ein neuer Ton oder eine neue Farbe nicht. Selbst die Grundgeschmacksqualitäten süß, sauer, bitter, salzig und umami kennen wir schnell. Doch beim Geruchssinn, der für unsere Gesamtgeschmackswahrnehmung der maßgebliche ist, verhält sich das völlig anders. Er ist nicht nur der sensibelste aller Sinne (aktuelle Forschungsergebnisse legen nahe, dass der Mensch über eine Billion (sic!) Geruchswahrnehmungen unterscheiden kann), sondern auch der am wenigsten von uns mit neuen Eindrücken konfrontierte. (Wer riecht schon an allem?) Ernährt sich jemand dann auch noch routiniert und monoton, gelangt er oder sie irgendwann nicht mehr über die Urteile „schmeckt“ und „schmeckt nicht“ hinaus, und die gustatorische Wahrnehmung verkümmert.

Sättigen wir also nicht nur uns, sondern auch unseren Geschmackssinn! Das Saison ist bisher ein grandioser Ort dafür.

Das Gericht, das es vor dem Seeigel gab, war eine himmlisch gute Lachsforelle, die ihr letztes Bad in einem Jus mit Minze und Thai-Aromen einnahm. Das war umwerfend gut – und in dieser Kombination ebenfalls aufregend und neu für mich. Dazu servierte der Sommelier – und zwar nicht im Rahmen einer Weinbegleitung – einen reifen Scharzhofberger Riesling Kabinett von Egon Müller, der mit seinen kräuterigen, ätherischen Noten so kongenial zu diesem Gang passt, dass der Wein als Bestandteil des Gerichts gezählt werden muss.

Davor gab es ein Sashimi vom Steinbutt, das man, zusammen mit dessen Leber und frischem Wasabi, genau so auch in einem japanischen Drei-Sterne-Restaurant finden könnte (obwohl dort eher kein Steinbutt zum Einsatz käme). Grandios frisch und außerhalb Japans in dieser Qualität und Machart kaum zu finden.

Der zweite Gang des Menüs begeisterte mich mit einem Rübchen mit Jakobsmuschel. Letztere war in das Gemüse integriert und versorgte das runde Gemüse somit von innen mit jodiger Salzigkeit, während von außen eine aromatische Brühe die beiden Protagonisten umrahmt. Ein makelloses, leichtes Gericht auf einem Niveau, auf dem keine wesentlichen Steigerungen denkbar sind.

Begonnen hatte das ganze Menü (das, nebenbei erwähnt, mit einem im Voraus zu entrichtenden, nicht erstattbaren „Ticketpreis“ von $398 zzgl. 20 % Service eines der teuersten ist, die ich kenne), mit einem Kräutertee mit „einigen Kräutern aus unserem Garten“, zu dem ein erfrischend kühles Gelee mit Tomaten und jeder Menge Kaviar serviert wurde, eine der wenigen klassischen Luxuszutaten, die mir so gut wie immer Freude bereitet. Die jodige Salzigkeit der Fischeier kontrastierte die verschiedenen Texturen und den Umami-Geschmack der reifen Tomaten ganz wunderbar.

Als ich nach dem Seeigel wieder zurück am Platz bin, läuft gerade der Song Head over Heels von Tears for Fears. Es gibt dazu ein Gericht mit Abalone, und zwar eines der besten, die ich zu diesem Thema je gegessen habe. Hier wurde das Schneckentier über Holzkohle gegrillt und in einem Arrangement mit Artischocke, Kapern und Reis zu einem fabelhaften Fusionsgericht verarbeitet. Ich schmecke Japan, Frankreich und Italien. Dieses Potpourri an Einflüssen und makellosen Spitzenprodukten ist einer der Gründe, warum die moderne amerikanische Küche für mich immer wieder zu einer der reizvollsten überhaupt zählt. Mehr davon!

Es folgt dann ein schlicht Pickles titulierter Gang, in dem eingelegte Gurke, Meerretticheis, Minze und Estragon einen pikant-frischen Eindruck am Gaumen hinterlassen. Ebenfalls äußerst gelungen.

Dann gibt es Yamswurzel mit Karasumi und einem aus den Schalen der Wurzeln hergestellten Sud. Die Wurzel schmeckt mild, aber dennoch würzig, das an Bottarga erinnernde Karasumi liefert pikante Akzente dazu, und der Sud – eher eine Boullion – verbindet diese ungewöhnlichen Welten miteinander. Was für eine phänomenale Produktpräsentation! Dazu wird ein pikanter Cocktail serviert, ich glaube auf Vodka-Basis, bin mir aber nicht sicher. Die charmant ungewöhnliche Darreichung des Getränks in einer Schale und mit einem großen kugelförmigen Eiswürfel in der Mitte lenkt mich von den Erläuterungen des Kellners ab.

Ein Gericht mit verschiedenen Kohlsorten in mannigfaltigen Texturen und Zubereitungsarten folgt. Es ist … räucherig, knusprig, warm, wundervoll.

Bei der dann folgenden Ratatouille notiere ich mir 11 von 10 Punkten, ein stiller Gefühlsausbruch, den ich nur ungern zugebe. Doch eine bessere Ratatouille, hier serviert mit einer Sauce von gegrillten Oliven, ist einfach unvorstellbar. Tomate, Zucchini, Aubergine und Paprika – karamellisiert und lauwarm – rauben mir mit ihren intensiven, mediterranen Eigenaromen und einem Geschmacksspiel zwischen Süße, Säure und Salzigkeit fast die Sinne. Ich entfliehe kurz ans Mittelmeer, sehe dieses unvergleichliche Funkeln des azurblauen Wassers, rieche Pinienduft und die Luft lauer Nächte. Es ist der Wahnsinn. Wenn es darum geht, ein Gericht in seinem ganzen Wesen einzufangen, ist dieses eines der gelungensten Beispiele, die mir jemals begegnet sind. Ein Meisterwerk, das ich in meinen Gedanken nie wieder von einer Ratatouille werde trennen können, ob ich will oder nicht. Aber ich will. Ja, verdammt, ich will.

Wer kocht hier eigentlich, um Himmels willen? Joshua Skenes heißt der Gott in Weiß, und er kocht weiter …

… und zwar ein Stück rote Bete, gegrillt über Holzkohle. Das Wort Knochenmark fällt auch bei der Beschreibung, aber ich finde es nicht. Vielleicht ist es auf dem warmen Gemüse langsam geschmolzen und sorgt jetzt in Verbindung mit dem Röstaroma des Grillens für diesen vollmundigen Geschmack, der vermutlich den ein oder anderen Freund zweifelhafter Fleischerzeugnisse bekehren würde. Nicht zum Vegetarier, sondern zum Qualitätssuchenden.

Der soeben Bekehrte würde dann auch gleich fündig, nämlich beim Zicklein, das, ganz lässig, mit einer „Hot Sauce“ serviert wird. Das Fleisch ist der Inbegriff von Zartheit, und selbst die scharfe Sauce, in die man die Stücke vergnüglich hineintunkt, kann dem feinen Eigengeschmack des Tiers nichts anhaben. Im Gegenteil. Sie lockert auf und reizt die Sinne. Ein weiterer grandioser Gang aus diesem Hause.

Und so langsam, aber sicher, dämmert es mir: mit Schwankungen – oder gar Enttäuschungen – ist hier nicht mehr zu rechnen.

Es folgt ein Stück Ente und dazu eine Art Kohl oder Lauch. Das kleine Gericht bietet größeren Genuss als jede ganze Ente zur Weihnachtszeit. Und, ach ja, es gibt dazu ein bayerisches Bier. Mitten in San Francisco. Bier und Autos, das können wir.

Im Anschluss gibt es noch eine Bouillon, die aus gerösteten Entenknochen gekocht wurde: schaumig, süffig, heiß und herzhaft. Mit irgendeinem wässrigen Granité „als Übergang zu den Desserts“ gibt man sich hier nicht ab (mag soewtas überhaupt irgendjemand?).

Die Desserts beginnen mit Eiscreme und Karamell, „im Feuer gegart“. Das Eis, cremig wie Softeis und vor Vanillearomen strotzend, ist überglänzt von einer intensiv nach Rauch duftenden Karamellsauce, so, als säße man am Lagerfeuer und röstete ein Marshmallow. Wow. Zwar fast schon zu rauchig, aber was soll’s?

Mit einem Passionsfruchteis und einigen gigantisch guten Walderdbeeren zum Wegknabbern endet das Menü, das vor fünf Stunden hier seinen Anfang nahm.

Was soll ich noch sagen? Meine Worte sind erschöpft, meine Sinne saturiert, und die Party klingt langsam ab. Manch einer muss heute noch zum Flughafen, zurück nach Hongkong oder New York. Ich werde auch gleich gehen, aber ich bin nicht traurig. Denn der Weg, den ich einschlage, führt am Ende wieder vor diese Tür, ganz sicher.

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: Saison (→ Website)
Chef de Cuisine: Joshua Skenes
Ort: San Francisco, USA
Datum dieses Besuchs: 08.08.2015
Guide Michelin (SFO 2015): ***
Meine Bewertung dieses Essens 10 (Was bedeutet das?)