Vendôme – JW vs. JW

Eine Einleitung zu einem der berühmtesten Restaurants Deutschlands bin ich meinen Lesern wohl kaum schuldig. Knapp zehn Jahre ist es her, dass ich zuletzt hier war. Das Vendôme war eines meiner allerersten Drei-Sterne-Erlebnisse, damals noch ohne Blog und Erfahrung, dafür aber mit viel Neugier und Offenheit.

Nachhaltig in Bezug aufs Vendôme ist meine Erinnerung an eine aufwändige, sehr akkurate Präsentation und für mich damals völlig neue, eindrucksvolle Geschmackswelten. Nicht sehr beständig war dagegen die Erinnerung an das tatsächlich Verspeiste. Das ist bezeichnend, denn in meiner weiteren Geschmacksausbildung habe ich zunehmend gelernt, dass mich ein paar frische, leuchtend grüne Erbsen viel mehr beeindrucken können als Tellerkunstwerke und kreative Ideen.

Wohl wissend, dass mich in Joachim Wisslers Menüs Letzteres höchstwahrscheinlich, Ersteres jedoch nur möglicherweise erwartet (Erbsen sind dabei natürlich als Platzhalter zu verstehen), blicke ich diesem Abend voller Spannung entgegen und nehme den Kampf gegen meine verblasste Erinnerung auf.

Die Einrichtung des Restaurants ist von moderner, sachlicher Eleganz. Creme- und Erdtöne bei der Farbwahl, eine stilvoll schlichte Tischdekoration, ein erfreulich heiterer Geräuschpegel und warmes Licht setzen schon mal einen angenehmen Rahmen für die nächsten Stunden.

Auch freue ich mich darüber, Marco Franzelin wieder zu treffen, ehemaliger Sommelier im Haerlin und Vertrauensperson erster Hand für vinophile Freuden. Die Flexibilität, die diesbezüglich hier gelebt wird, ist einzigartig – und eigentlich auch die einzig sinnvolle Art, modernen Weinservice zu praktizieren. Ob man nun zu einer klassischen Weinbegleitung tendiert, aus der umfangreichen Karte auswählen möchte oder, wie an meinem Tisch heute Abend, Franzelin nur Tendenzen mitteilt und ihn daraufhin selbst die Flaschen auswählen lässt: geht nicht, gibt’s nicht. Und wenn der Wein nicht gefällt, dann gibt es eben einen anderen. Das funktioniert natürlich nur mit beiderseitigem Vertrauen, was sich am Ende aber für beide Seiten auszahlt. Da ich kein Budget vorgebe, was ja auch schon eine gewisse Vorgabe ist, gibt es im Laufe des Abends fantastische Tropfen, von Krug über Comtes Lafon Meursault-Charmes 1er Cru bis Ridge Monte Bello.

Das Menü „Winter JW“ (neun Gänge € 255, Reduzierungen möglich) beginnt mit einem Hingucker zum Schmunzeln. Am Gaumen bietet „ToffiVee“ mit Gänseleberkaramell, Piemonteser Haselnuss und Riesling-Auslese-Gelee ein um einige Längen besseres (aber interessanterweise gar nicht so unähnliches) Geschmackserlebnis wie das industrielle Original. Der weiche, kühle Schmelz von Gänseleber, die säuerliche Fruchtsüße des Rieslinggelees und die Aromen von gerösteter frischer Haselnuss werfen auf jeden Fall die Frage auf, ob es diese Speise auch als 24er-Pack im Kühlregal gibt. Ein verspielter Gag, der mich konzeptionell zwar nicht anspricht (warum sollte man Industrieprodukte nachahmen?), der aber funktioniert, weil Handwerk und Geschmacksbild auf hohem Niveau sind. (8-9/10)

Liaison in Weiß“ heißt dann der zweite Menüauftakt, in dem unter anderem weiße Petersilienwurzel, weißer Albatrüffel, Moos, Blaubeere, Topinambur, Eigelb und eine Petersilie-Zitrone-Sauce versuchen, eine waldige Verbindung einzugehen. Das funktioniert aber allein der flachen Glasplatte wegen nicht so recht, auf der man die vielen Komponenten erst einmal irgendwie zusammenschieben muss, um etwas von der versprochenen Liaison zu erahnen. Ein einheitliches Geschmacksbild erhalte ich trotz aller Versuche und zweifellos sehr feiner Zutaten nicht. (7/10)

Der erste Gang des Menüs ist Thunfischbauch aus Japan (Toro), ein Produkt, das man hierzulande in vergleichbarer Qualität vermutlich nur noch bei Christian Bau finden kann. Das gehaltvolle, fettreiche Fleisch hat einen fantastischen Eigengeschmack und betörenden Schmelz, ist aber einen Hauch zu weit gegart. Avocadocreme, eine Zitronengras-Minze-Vinaigrette und gebeizter Rettich bringen erfrischende Akzente dazu ins Spiel; es schmeckt nach Pazifik und Fernweh. Ein weiteres Stück des Ausnahmeprodukts, mit Sesam und Sojasauce, lindert das Fernweh nicht. Nur bei der frittierten Komponente (die nur nach Frittiertem schmeckt) dürfte man ruhig noch mal in Japan um Hilfe bitten. (8/10)

Ein Filetstück vom Lechtalsaibling ist qualitativ nicht weniger großartig. Im Gegenteil, ich kann mich für dieses Produkt fast noch ein bisschen mehr begeistern. Schade, dass es so vielen anderen Komponenten umzingelt wird, die mir missfallen. Ein Rotkohl mit Rotkohlschaum schmeckt nach roten Gummibärchen, ein separat servierter „Blini“ ist massig und säuerlich, und ein Salat mit Hanfsamen sorgt für weitere Ablenkung vom Wesentlichen. Definitiv nichts zum Nachbestellen. (6/10)

Wie viel besser man ein Produkt in Szene setzen kann, zeigt der nächste Gang mit Jakobsmuschel, der schon seiner Optik nach kaum aus dieser Küche zu kommen scheint: Ein schlichter tiefer Teller, der alles in seiner Mitte vereint und dazu auch noch duftet (zum ersten Mal heute Abend) sieht nicht nur souveräner und ansprechender aus, sondern schmeckt auch so. Die perfekt gebratene, fleischige Muschel nimmt ihr letztes Bad in einer Kartoffel-Zimtbouillon, der appetitanregende Augen von Aalfett Gehalt verleihen. Dünn gehobelte Tranchen von Williams-Christ-Birne und Blumenkohl ergänzen dieses Gericht harmonisch und überraschend. (8-9/10)

Mit Kaisergranat und Seeigel geht es weiter. Der Kaisergranat ist von exzellenter Qualität, aber einen Hauch zu weit gegart, sodass die Textur des Fleischs von bissfest/glasig auf weich/zerfallend übergeht, aber es ist noch im Rahmen. Sehr gut gefällt mir die anspruchsvolle Kombination mit den bitteren Aromen von Seeigel und in Holunderblütenessig aromatisierten Chicoréeherzen. Ein Saft von Gurke mit Shiso-Kresse hat dann wiederum ein ganz anderes Geschmacksbild und fügt sich nicht so recht in die Komposition ein, vor allem wegen der wässrigen Beschaffenheit. Mehr Spannung als Harmonie, aber durchaus in Richtung eines guten Thrillers. (8/10)

Für das nächste Gericht mit dem Namen „Hase im Pfeffer ‚blutrot‘“ wird zunächst eine Matte aus Kaninchenfell mit einem Flachmann auf dem Tisch platziert. Zeitgleich mit dem Servieren des Tellers wird dann der Inhalt des Fläschchens in ein großes Weinglas entleert, das jetzt so aussieht als enthielte es prachtvollen alten Bordeaux. Tatsächlich handelt es hierbei um eine warme Wildessenz, die mit Sträuchern und dem Saft von Johannisbeere aromatisiert bzw. gefärbt wurde und in dem Glas ganz wunderbar – wie ein eigenständiges Gericht – zur Geltung kommt.

Auf dem Teller selbst findet man vom Hasen ein Stück Rückenfilet sowie geschmorte Schulter, drumherum hauptsächlich rote Komponenten wie rote Bete, Johannisbeeren, Ebereschenkompott und ein „Tupfen-Pudding“ bestehend aus Apfelsaft, Blutwurst, Perlgraupen und Kalbsblut. Eine Rouennaiser Sauce wurde ovalförmig um das Fleisch angegossen. (Doch geht es nur mir so? Ich finde dieses Gericht nicht besonders ansprechend angerichtet. Und gerade weil mir Anrichtweisen nicht besonders wichtig sind, fällt es mir hier besonders auf.)

Zum Wesentlichen: das Gericht ist qualitativ und sensorisch hervorragend. Die vermutlich langsame Garung tut diesem Fleisch gut, das ausgesprochen zart ist und einen authentischen, aber nicht dominanten, Wildgeschmack aufweist. Nach und nach, Bissen für Bissen und Schluck für Schluck aus dem Glas, fügen sich Aromen, Qualität und Handwerk so zusammen wie es mir in vorangegangenen Gerichten fehlte. (9/10)

Wäre in der Essenz im Glas Blut anstatt Johannisbeersaft verwendet worden, hätte ich allein des Mutes wegen 10/10 vergeben. Aber vermutlich bewegt sich das Kaninchenfell schon an der Grenze zu der von einigen Gästen erwarteten Pietät.

Ein zweiter Fleischgang ist die Challans-Ente mit Chinakohl à l’orange, Erdnusscreme (in Erdnussform), „Petersilienmoos“ und Ingwerjus. Der geschmorte Teil von der Keule sieht saftig und herzhaft aus, ist aber recht faserig und trocken. Das Brustteil mit knuspriger, goldbrauner Haut ist einwandfrei gegart, doch wenn „einwandfrei“, zusammen mit einer viel zu extremen Erdnusscreme, einem wässrigen Jus und merkwürdigen grünen Schwämmen die Küche eines Drei-Sterne-Restaurants verlässt, darf einem das schon mal ein Fragezeichen ins Gesicht zaubern. (6/10)

Ein Fondue, das mit frisch gebackenem Trüffelfocaccia serviert wird, dessen Teig während der ersten Gänge am Tisch unter einer Cloche aufging, bereitet dann wieder großes Schlemmervergnügen. Eine lauwarme Käsecreme bestehend aus Vacherin Mont d’Or, Gruyère und etwas Speck ist ein herrlich unverkopfter Dip zum warmen Brot. Eine knusprige, sehr aromatische Stange lyophilisierter grüner Sparger ergänzt diese Runde wohlschmeckender Fingersnacks. (9/10)

Das erste Dessert, „Mispeln im Winter“, erfrischt den Gaumen mit einem süßlich-säuerlichen Zitronen-Thymianeis, Quitte und Preiselbeeren. Die präzisen Aromen der einzelnen Komponenten, zusammen mit der angenehmen Säure sind hervorragend. (8-9/10)

Das zweite Dessert „Süße Fusion ‚Shanghai‘“ ist zweiteilig: ein mit Salzpflaumenpüree gefüllter Bun mit Mohn ist gut, und bei einer Komposition aus asiatisch inspirierten Zutaten (Reismilch, Sancho-Limonenpfeffer, Jasmintee, Yuzu, „eingelegter Funguspilz“ u. v. m.) kann ich mich dem Eindruck nicht verwehren, dass das ganze Dessert ungenießbar nach Knoblauch schmeckt, obwohl vermutlich nicht einmal Knoblauch dabei ist. Vielleicht ist es ja dieser seltsame Fungus. Ich verstehe diese Anstrengungen nicht, Aromen aus Asien in ein ansonsten eher deutsch-französisch dominiertes Menü unterzubringen, wenn man dabei den wesentlichen Genuss-Aspekt, den hier z. B. eine abschließende Süßspeise leisten könnte (und sollte), aus den Augen verliert.

Die Petits-fours sind alle sehr gut (8/10) und beenden schließlich den Abend, der ein großes Fest war. Entspannter Service, eine gemütliche Atmosphäre, hervorragende Weine und freundliche Menschen, die alles zum Besten gaben, trugen Wesentliches dazu bei. Aber darum geht es mir in meinen Berichten nicht. Es geht mir ums Essen. Und bezüglich dieser Momentaufnahme habe ich mehrere Beobachtungen anzustellen. Ich habe, vor allem auf Drei-Sterne-Niveau in Deutschland, noch nie so inkonsistent gespeist: mal Französisch, mal Deutsch, mal Asiatisch, mal mäßig mal exzellent. Das ist zu schwankend. Entsprechend habe ich das vermisst was man als klare Linie, Stil oder Handschrift bezeichnen könnte. So kann ich nichts benennen, was dieses Menü in seiner Gesamtheit ausgemacht hätte. Selbst von einer technischen Präzision, von der in Zusammenhang mit dem Vendôme häufig gesprochen wird, war nichts zu bemerken.

Doch das Fehlen einer Linie wäre nicht einmal ein besonderes Manko, sofern alle Gerichte durch solides Handwerk, bestmögliche Produkte und Wohlgeschmack überzeugen, mehr noch, begeistern können. Gerade das war jedoch ganz überwiegend nicht der Fall. Da serviert man z. B. einen Thunfischbauch aus Japan, tut dies aber ohne Kontext zum restlichen Menü; in anderen Gerichten wiederum wird viel zu häufig vom Produkt abgelenkt, wie es bei dem hervorragenden Saibling der Fall war. Diverse unharmonische Geschmacksbilder runden dann den kantigen Eindruck dieses Menüs ab. Bis zu meinem nächsten Besuch sieht das aber alles bestimmt schon wieder ganz anders aus.

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: Vendôme (→ Website)
Chef de Cuisine: Joachim Wissler
Ort: Bergisch Gladbach, Deutschland
Datum dieses Besuchs: 29.01.2016
Guide Michelin (D 2016): ***
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