Alain Ducasse at The Dorchester – Lunch statt déjeuner

Für den heutigen Tag hatte ich ursprünglich eine Reservierung zum Mittagessen im Le Meurice Alain Ducasse getätigt. Als der neue Guide Michelin für Frankreich dann Anfang Februar erschien, hatten die Inspektoren der roten Gastro-Bibel den dritten Stern vom Le Meurice jedoch kurzerhand rüber ins Plaza Athénée verschoben, dem zweiten der großen Ducasse-Restaurants in Paris. In der Folge stand ich auf einmal ohne Drei-Sterne-Reservierung da – und das an meinem Geburtstag. Pas possible!

Da ich meinen Geburtstag aber unbedingt in einem dreifach besternten Haus von Ducasse verbringen wollte und das Plaza Athénée dienstags kein déjeuner anbietet, änderte ich den Morgens-hin-Abends-zurück-Trip kurzerhand in London um, wo der Großmeister im Hotel The Dorchester ebenfalls über ein Drei-Sterne-Haus wacht. Doch auch an dieser Front gab es Bewegungen: Jocelyn Herland, der bisherige Küchenchef dort, hat gerade das Dorchester verlassen um den in die Selbstständigkeit („Papillon“) entlassenen Christophe Saintagne im Le Meurice in Paris zu ersetzen. Neuer Küchenchef in London ist jetzt Jean-Philippe Blondet, vorher Sous-Chef dort. Folgen Sie noch?

Wie dem Michelin der Schachzug in London gefällt, erfährt man erst Ende dieses Jahres. Wie mir das alles gefällt, finde ich gleich selber zum Lunch hier heraus.

Im Vergleich zu den anderen Tempeln von Ducasse ist das Interieur hier in London überraschend schlicht und der Speisesaal nicht besonders groß. Durch die dennoch recht hohe Tischanzahl wirkt der Raum etwas gedrungen, aber fernab von unangenehm.

Die ebenfalls schlichte, aber stilsichere, Tischdekoration passt zum Leitmotiv von Ducasse‘ klarer, mediterraner Küche. Diese verehre ich, seitdem ich bei meinem ersten Besuch im Le Louis XV in Monaco an einem kleinen Nizzasalat mit leuchtenden, knackig frischen Zutaten knabberte und ihn nie wieder vergaß. Die warme Luft des Mittelmeers wehte leicht über die Terrasse, später gab es noch einen Wolfsbarsch in der Salzkruste … Wann ist wieder Sommer?

Zurück in England überrascht die Speisekarte zunächst durch eine attraktive Preisgestaltung, die mindestens fünfzig Prozent unterhalb derer aus den französischen Pendants liegt. Ebenfalls eine gute Idee: Preise gibt es nicht für jedes Gericht, sondern nur für verschiedene „Szenarien“. So kostet das Szenario „Vorspeise / Fisch oder Fleisch / Dessert“ umgerechnet ca. € 125. Wählt man Fisch und Fleisch, sind es ca. € 150. Dennoch sind die Szenarien keine Vorschrift. Man kann bestellen, was man möchte und hat mit den genannten Preisen einen völlig ausreichenden Näherungswert. Ich finde solche Konzepte sinnvoll. Sie animieren zudem, sich intensiver mit den Gerichten anstatt mit den Preisen auseinanderzusetzen.

Ich halte mich an keines der Szenarien und wähle aus der Karte verschiedene Gänge aus, die mich besonders ansprechen. Alles Weitere überlasse ich dem Personal. Herrlich, wenn man so flexibel agieren kann.

Über die kleinen Aperitifsnacks knabbert nur ein Unwissender hinweg. Die kulinarischen Höhenflüge, zu denen man mit Knabbergebäck antreten kann, haben zwar eine Grenze, doch gerade die kleinen, leicht knusprigen Mini-Gebäcke mit aromatischer Spinatfüllung und zarter Knusprigkeit sind vorzüglich. (8/10)

Das Essen beginnt mit Jakobsmuscheln, Chicorée und schwarzem Trüffel. Das Gericht spielt auf eine höchst elegante Weise mit dem Grundgeschmack bitter, den Chicorée und Trüffel gemeinsam haben. Die Muschel – makellos gegart und von hervorragender Qualität – puffert die Bitterkeit ab, die im Fall des gegarten Chicorées ohnehin nur mild ausfällt. Der Trüffel – geraspelt und in dicken Scheiben – sorgt für zusätzliche Freude mit seinen ätherischen, erdigen Aromen. Brillant! (9/10)

Bei Wurzelgemüse mit Trüffeln (es ist Saison …) ist man dann ganz bei Ducasse angekommen. Weiße Rübchen, leuchtend grüne Salatblätter, Chicorée, dünne Scheiben Blumenkohl, jeweils roh oder lediglich einen Hauch gegart: allein dieses Texturspiel ist hinreißend. Die Zutaten knacken am Gaumen vor Frische wie in einem Werbespot. Als Bestandteil einer Vinaigrette sowie in üppigen Tranchen obenauf verfeinert der schwarze Edelpilz aus dem Périgord den Salat zusätzlich. Ob es ein Universum gibt, indem solche Zutaten irgendwen nicht begeistern? (10/10)

Es folgt Kaisergranat mit Mangold und Zitrusfrüchten. Gerade erst genoss ich phänomenale Referenzexemplare im Waldhotel Sonnora, und diese hier – man sieht es bereits – stehen ihnen in nichts nach. Ein erster Test am Gaumen bestätigt diese Vermutung und offenbart noch viel mehr: Die ungewöhnliche Kombination mit Kumquat und weiteren Zitrusfrüchten ist ein aromatischer Volltreffer, dem ich beim Schreiben dieser Zeilen noch immer hinterhertrauere. Ein großartiges Gericht mit fantastischen Produkten, voller Klarheit, Spannung und Harmonie. (10/10)

Der nächste Gang ist gebratene Foie Gras, hier serviert mit (unter schwarzem Trüffel versteckten) Weintrauben. Die Trüffeln – gerade in ihrer Wiederholung – sind fantastisch, weil sie mit jeder neuen Zutat jedes neuen Ganges in einen anderen Dialog treten. Die Foie Gras selbst ist so perfekt wie sie in dieser Form nur sein könnte. Der Schmelz löst sich am Gaumen in pure Glückseligkeit auf, eine Würzung mit gutem Pfeffer und etwas Meersalz verhindert zudem Überdruss, der bei diesem Produkt schnell entstehen kann, wenn man zu viel davon isst. Sagte ich gerade „zu viel“? Wo ist der Rest? (10/10)

Ganz in Rot präsentiert sich der Wolfsbarsch mit verschiedenen Beten, Rübchen und Radieschen. Was zunächst aussieht wie eine alles unter sich begrabende Saucenschicht offenbart sich als ganz subtiler Rote-Bete-Jus als Ergänzung zum eigentlichen Hauptdarsteller, dem schneeweißen Stück Wolfsbarsch. Dies so saftig ist als hätte man das küchenfertige Filet direkt so aus dem Wasser gezogen. Es ist eine der besten Qualitäten, die ich bisher von diesem Fisch probiert habe. Die bissfesten Gemüse dazu spielen erneut mit erheiternder Bitterkeit. Faszinierend ist auch hier die – für die Küche von Alain Ducasse so charakteristische – präzise Herausarbeitung des authentischen Geschmacks aller Zutaten. Der „Wolfsbarsch rot-weiß“ ist ein Hochgenuss! (10/10)

Originell ist dann der Käsewagen, der durch den Saal geschoben wird, denn er präsentiert nur eine einzige Sorte Käse: einen Stilton. (Von weitem sieht der hohe Laib mit seiner braunweißen Rinde und bröckeligen Struktur so aus wie eine Tüte Popcorn.) Diese Besonderheit lasse ich mir nicht entgehen. Glücklicherweise, denn der Käse, auf dem Teller leicht bröckelig, am Gaumen cremig und mit intensiven Reifenoten, ist eine der besten Sorten Blauschimmelkäse, die ich je probiert habe. Ein fruchtig süßes Zwiebelkompott passt dazu exzellent.

Beim Dessert zögere ich nicht lange und bestelle den Klassiker Baba „comme à Monte-Carlo“, für den zunächst eine Auswahl hochwertiger Rums an den Tisch gebracht wird. Mithilfe des Kellners entscheide ich mich für den 12-jährigen Diplomatico Reserva Exclusiva aus Venzuela, der wenig später aus einem Silberkännchen über den bereits in einem Zuckersirup mit Orange und Vanille getränkten Napfkuchen gegossen wird.

Ein Klecks cremiger Vanille-Sahne vollendet schließlich eines der wahrhaftigsten Desserts, die man sich vorstellen kann: süß, buttrig, sahnig, teigig, fluffig. Man möchte aus diesem Süßspeisentraum nie wieder aufwachen. Kein Grund übrigens, Schokolade zu vermissen: eine kleine Kugel Eis liegt auch schon parat. Wer solche Desserts kennt, versteht, warum ich die komplizierten Nachspeisen der meisten deutschen Spitzenrestaurants für einen toten Seitenarm der Patisserie halte. Gebt mir Zucker, Vanille, Schokolade, Kuchen, Torten und Obst! Großmutter wusste noch, wie man das macht. (10/10)

Was für ein Festmahl! Die Küche von Alain Ducasse ist auch in London klassisch und modern zugleich, brilliert mit fantastischen Zutaten, ist leicht, wenn Leichtigkeit gefragt ist und zuckersüß zum Abschluss. Wenn dieses Essen die kulinarische Richtung meines neuen Lebensjahrs vorgibt, kann man sich nur freuen, älter zu werden. Santé!

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: Alain Ducasse at The Dorchester (→ Website)
Chef de Cuisine: Jean-Philippe Blondet
Ort: London, Großbritannien
Datum dieses Besuchs: 09.02.2016
Guide Michelin (GB/IRL 2016): ***
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