Azurmendi – Augen auf!

Man kann mir ja nicht vorhalten, der spanischen Avantgarde-Küche keine Chance zu geben. Arzak, Akelarre, DiverXO, El Bulli, El Celler de Can Roca, Quique Dacosta und weitere: ich war überall. Begeistert hat mich keines dieser Restaurants (mild ausgedrückt), und das unbestreitbare Œuvre Ferran Adriàs steht auf einem ganz anderen Blatt.

Die aktuellen spanischen Avantgarde-Restaurants vereint etwas Theatralisches, Aufgesetztes, Artifizielles, und zwar sowohl kulinarisch als auch gastronomisch. Ich verstehe beide Entwicklungen. Bezüglich der kulinarischen Seite ist es schlicht die Evolution des Kochens, die dorthin geführt hat; und hinsichtlich der gastronomischen Seite gibt es einfach sehr viele Gäste, denen ein Abend in einem Restaurant gar nicht aufwändig genug inszeniert sein kann. Warum beides auffallend häufig in den kreativen spanischen Restaurants zusammenfällt, ist mir allerdings ein ähnliches Rätsel wie die hohen Bewertungen des Guide Michelin. Bei der ebenso avantgardistischen nordischen Küche hat sich der Restaurantführer (zurecht) sehr lange zurückgehalten, um Höchstnoten zu vergeben, bei den Spaniern konnte es gar nicht schnell genug gehen.

Meine Neugier, ob sich zwischen all den Sphären, Schäumchen, Schwämmen, Gels und Garnelen doch noch irgendwann Großartiges auftut, überstimmte aber bisher jede Skepsis. Daher stehe ich heute Abend erneut vor einem Glasgebäude in der Nähe von Bilbao und trete gegen halb neun ins Azurmendi ein.

In einer Eingangshalle, die wie ein Gewächshaus aussieht, wird man zunächst auf Holzbänken platziert. Bei einem Aperitif (Weißwein aus Txakoli, einer regionalen, sehr säurebetonten Rebsorte) wird einem kurz die Dramaturgie der kommenden halben Stunde erklärt, denn so lange wird es noch dauern, bis man am Tisch Platz nimmt.

Ein Picknickkorb wird gebracht. In diesem findet man drei Snacks: Brioche mit Sardellencreme (das Brot etwas zu hart, die Creme sehr gut, 7/10), ein Gel aus Tomatenessenz (erfrischend und aromatisch, 7/10) und eine analog zum Aperitif auch mit Txakoli flüssig gefüllte Kugel mit einer süßlichen Hülle, die ein unerwartet angenehmes Geschmackserlebnis freisetzt, mit blumigen Aromen und einem kontrastierenden Spiel mit Süße und Säure (8-9/10).

Ein Bäumchen, in dem sich ein weiteres Amuse-bouche versteckt, ist ja in einigen Restaurants schon gängiger als ein weißer Teller. Die fingierte Frucht dieses Baums ist eine „Haselnuss“ aus Haselnuss und Foie Gras (herzhaft-nussig, exzellente Qualität aller Zutaten, 8/10).

In der Küche, in die man im Anschluss geführt wird, begrüßen Dutzende Köche lautstark jeden Gast, während man ein erfrischendes Getränk aus Hibiskusblüte zu sich nimmt. Jeder hier ist äußert freundlich, keine Frage, dennoch komme ich mir bei diesem Theater immer etwas albern vor und schäme mich fremd. Ich bin einfach keiner der Gäste, die eine solche Show mögen.

Dann wird man weiter in eine Art Wintergarten geführt. Ein Mann mit Kochmütze und Schürze, vielleicht ein Koch, gießt heißes Wasser auf Trockeneis. Milchiger Nebel kriecht durch ein Blumenbeet. Warum er das tut, erfährt man nicht.

Um die weitläufige Fensterfront herum befinden sich kleine Stationen, an denen man jeweils ein Amuse-bouche erläutert bekommt (es gibt viel zu erklären) und dies dann probiert. Es gibt einen Mais-Malz-Cocktail (hervorragend stimmig, 8/10); einen Keks in Macaronform mit Kräutern und einer Füllung mit flüssigem, lauwarmem Blauschimmelkäse (intensiv aromatisch, 8-9/10); danach eine Art herzhafte Zuckerwatte, die sich am Gaumen wie eine Wolke in intensiven Geschmack von weißemSpargel auflöst (9/10).

Die aufwändige Inszenierung in diesem Raum endet dann mit einem hauchdünnen „Blatt“ aus Steinpilz mit authentischem Geschmack, aber mit einer störend klebrigen Textur wie Esspapier (6/10).

Wenngleich ich wirklich Mühe habe, mich für eine derartige Verfremdung von Produkten und deren Inszenierung zu begeistern, sind die exzellente Qualität der verwendeten Zutaten und ein präzises Handwerk hier offensichtlich. Und viele der Snacks waren geschmacklich hervorragend. Recht optimistisch nehme ich wenig später am Tisch Platz.

Ich entscheide mich dort für das Menü „Adarrak“ (€ 175), welches überwiegend die aktuellen Kreationen des Restaurants repräsentiert. Die Weinkarte mit Fokus auf Spanien ist, wie in Spanien gängig, überaus preiswert, daher lasse ich gleich zwei Flaschen öffnen, einen weißen 2002er Viña Tondonia (€ 47) sowie einen roten 1987er Torre Muga (€ 75). Ich mag es, parallel zu verkosten: rot, weiß, zu Fisch, Fleisch oder Schäumchen, ganz egal. Nur bei sehr markanten Speisen (z. B. Käse, Schinken, Schokolade, Wild) finde ich ein sorgfältiges Abwägen des Weins wirklich wichtig. Für alles andere habe ich gern entweder verschiedene Weine auf dem Tisch oder lasse für die zwei Minuten, in denen man bei einem Degustationsmenü meist ohnehin nur mit einem Gang beschäftigt ist, den Wein einfach Mal im Glas.

Das Menü beginnt mit „gefrorener Olive“ mit „Olivenstaub“ und einem luftleichten (etwas zu süßen) Stab von gefriergetrockneter schwarzer Olive (7/10) sowie einen erfrischenden Aperitif mit Wermut.

Weiter geht es mit einem Eigelb mit Trüffeln, das dieses klassische Geschmacksbild überaus eindrucksvoll wiedergibt, hier in einer Form, die am Gaumen gleichzeitig heiß und kalt ist (9/10).

Der folgende Gang sieht dann eher aus wie eine gekochte menschliche Zunge als eine Auster. Da das Auge mitisst, scheitern schon hier sämtliche Versuche, das Gericht zu mögen. Die hellgraue, wie auch immer bearbeitete, Auster liegt hier auf einem Austertatar, umgeben ist das Ganze unter anderem mit Tupfern einer bitteren Sauce aus Algen. Die Auster selbst ist sehr massig und hat eine eher feste Textur (vielleicht wurde sie pochiert), das Tatar ist mir dann ebenfalls zu viel des jodigen Geschmacks. Dabei bin ich inzwischen ein großer Austernfreund: frisch aus ihrer Schale, höchstens mit ein weiteren paar Zutaten, die ihre Frische betonen, lässt sich nicht über ihren Genuss streiten. Entfremdet man jedoch die Auster, indem man sie aus ihrer Schale und damit ihrem Kontext holt, kann das nichts werden. (5/10)

Eine Komposition mit Seeigel und Eiern von fliegendem Fisch folgt, ist markant jodig und nah am Produkt. Grüne, pappige „Waffeln“ stören allerdings das Mundgefühl. Dazu gießt man eine tiefrote, ebenfalls meerig-jodige Infusion von Königskrabbe und Seeigel an. Markant. (7/10)

Noch produktnäher sind dann junge Erbsen mit Heringsrogen. Die Fischeier bieten einen gelungenen Kontrast zu den zuckersüßen Erbsen, eine nicht näher benannte Creme sorgt für einen Zusammenhalt der Komponenten, lediglich die erneut schwammartigen Gebilde finde ich überflüssig – als könne man es einfach nicht lassen. (7/10)

Ein prächtiges, perfekt gebratenes Stück ausgelöster Hummer ist der Star des folgenden Gerichts, den ein intensiv nach Paprika schmeckender Jus hervorragend ergänzt. Ein auch aus Hummer hergestellter (an den Zähnen klebender) Stab und mehrere Tupfer einer intensiv schmeckenden (und ebenfalls klebrigen) mit Blüten dekorierten Krustentiermasse probiere ich dazu, entscheide mich aber schnell, meine Aufmerksamkeit nur auf den exzellenten Hummer und den Jus zu richten. Definitiv eines der besten Stücke Hummer, die ich je gegessen habe. („nur“ 8/10, weil ich erneut Überflüssiges auf dem Teller lasse.)

Wie stark man von guten Produkten noch ablenken kann, zeigt das Gericht mit Ferkel und drei baskischen Käsesorten „in drei Texturen“. Das eigentliche Stück Schwein ist von ausgezeichneter Qualität – herausragend zart, von authentischem Geschmack und heiß –, versteckt sich jedoch in einer frittierten Hülle, die aber nicht als Ersatz für knusprig gebratene Haut dienen kann. Das wäre zwar noch zu verschmerzen, wären da nicht die Unmengen an mit Käse hergestellten Gels und Pasten, die mit ihrem kräftigen Geschmack wie ein Knüppel auf das feine Fleisch einprügeln. Alles ist klebrig und käsig. Wenn man vorsichtig vorgeht und behutsam dosiert, ist man aber in der Lage, ein paar ziemlich gute Gabeln zusammenzubasteln (diese dann 8/10, in Summe dann leider weniger).

Kutteln von Kabeljau mit Kichererbsen, Kartoffeln und Kräutern ergeben ein sehr süffiges, intensives Geschmacksbild, dem ausnahmsweise nicht einmal weitere grüne Cremes, die die Komposition von zwei Seiten des Tellers aus angreifen, etwas anhaben können. Mit diesen Cremes und Gels ist es letzten Endes ja auch so, dass sie unglaublich sättigend sind, und zwar auf eine unangenehme, fast-food-ähnliche Art. Ich zumindest träume nicht erst bei diesem Gang von leichten Bouillons und aromatischen Saucen. Dennoch: die hervorragend süffigen, in Kalbsjus und Kräutern reduzierten Hauptzutaten gefallen, wenngleich auch hier am Gaumen ein äußerst klebriges Gefühl zurückbleibt. (8/10)

Die Spritztülle mit dem grünen Klebstoff macht auch vor dem nächsten Teller keinen Halt. In der grünen Masse stecken ein paar ungesalzene und neutral schmeckende Artischocken; auf einem Stück genauso nichtssagend gegarter Foie Gras sind weitere grüne Kleckse platziert. Ich klammere mich einfach an das qualitativ makellose, mit Speck bardierte Stück Seeteufel, um das es hier eigentlich gehen soll. (6/10)

Die Taube, die an unserem Tisch auch serviert wird und fast roh ist, hatte ich bereits in weiser Voraussicht gegen das Lamm getauscht. Hier stört ein blutigerer Gargrad nicht, ganz im Gegensatz zu einem strengen Knoblauchgeschmack, der sich in dem gesamten Gericht manifestiert hat. Das vogelnestartige Gebilde daneben kann ich nicht identifizieren, versuche das aber auch nicht allzu lange. Auch dieses Gericht folgt damit dem Duktus: gute Produktqualität, aber mangelhafte Ausführung durch Ablenkung oder Verfremdung. (6/10)

Die Desserts – Ananas, Karadamom, Sellerie; Joghurt, Honig und Five-Spices; sowie Schokolade, Erdnuss, Lakritz (alle 5/10: schaumig, säuerlich, befremdlich) – beenden das kulinarische Theater. Der Service verdient einen großen Applaus, besonders der unseren Tisch umsorgende kolumbianisch-amerikanische Kellner war herausragend: mit seiner freundlichen, professionellen Art (und seiner großen Sorge beim Anblick von nicht leergegessenen Tellern) hätte man ihn am liebsten zu einer Flasche Wein mit am Tisch haben wollen.

Und keine Frage: es gab viele objektiv exzellente Gerichte und Komponenten, denen man im Rahmen dieser kreativen Küche hohe Noten attestieren muss. Aber im Kern der Sache geht es auch in diesem Restaurant, wie überall in der spanischen Avantgardeküche, um starke Abstraktion um jeden Preis: weg vom Produkt, hin zum Effekt, zum „Oh!“, zum „Ah!“. Man reißt die Augen auf und staunt, dabei muss man bei großer Küche die Augen schließen, wie beim Niesen, man kann gar nicht anders. Mit dem Azurmendi habe ich das Kapitel der spanischen Drei-Sterne-Avantgarde-Restaurants vorerst abgeschlossen. Ich habe dabei zwar immer die Augen auf gehabt, aber nichts bereut, viel gelernt und noch mehr erlebt. Also. Adios!

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: Azurmendi (→ Website)
Chef de Cuisine: Eneko Atxa
Ort: Larrabetzu, Spanien
Datum dieses Besuchs: 13.05.2016
Guide Michelin (E/PT 2016): ***
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