Martín Berasategui – gegen den Strom

Ich kann mich vor Begeisterung kaum einkriegen, als ich die Speisekarte lese. Natürlich weiß ich in diesem Moment noch nicht, ob meine Euphorie angebracht ist, aber allein die Tatsache, dass hier einzelne Speisen mit lauter wohlschmeckenden Zutaten aufgelistet sind, die man nach Lust und Laune bestellen kann, lässt mein Herz höherschlagen.

Warum mich eine scheinbar normale Speisekarte so begeistert, liegt darin begründet, dass man in Spaniens Spitzenrestaurants so gut wie nie die Wahl hat, was man isst, weil man dort überwiegend kreative Überraschungsmenüs aufgetischt bekommt. Das ist an sich nichts Negatives. Viele der besten Essen rund um den Globus sind Degustationsmenüs, ob das nun tasting menu, carte blanche oder omakase heißt. Aber der Zirkus, den die spanische Avantgardeküche darum regelmäßig veranstaltet, ist bekanntlich einfach nicht mein Fall.

Zum Glück ist das Restaurant Martín Berasategui – das einzige der aktuellen spanischen Drei-Sterne-Restaurants, das ich noch nicht besucht habe – kein Avantgarde-Restaurant. Das wusste ich vorher nicht, und umso entspannter fühlt es sich gerade an. Anstatt oktroyierter Getränke, Speisen und Spaziergänge fragt man den Gast hier, was er möchte. Auch das ist natürlich eigentlich völlig normal in einem Restaurant, aber der Kontrast zum gestrigen Theater im Azurmendi sitzt mir noch in den Knochen. Hier ist der Gast noch König, nicht das Konzept.

Zum Aperitif lasse ich mir ein Glas Weißwein empfehlen (Erzeuger nicht notiert, aus einem Anbaugebiet bei Madrid, € 15) und auch schon eine Flasche Rotwein aus der attraktiven, spanisch-französisch dominierten Weinkarte öffnen (2004 Vega Sicilia Valbuena, € 250).

Die Atmosphäre im Speisesaal ist angenehm. Runde, schlicht eingedeckte Tische, gedeckte Farben, warmes Licht, klare Linien und eine Fensterfront mit Blick aufs Grüne schaffen eine entspannte Kulisse.

Eine kleine Auswahl an frischgebackenen Sauerteigbroten wird gereicht, dazu verschiedene Sorten Butter (gesalzen, rote Bete, Spinat, Steinpilz) – alles exzellent –, dann folgen ein paar Amuse-Bouches.

In einer fruchtig-süßen Kumquathälfte befindet sich ein minutiöses, aber geschmacklich starkes Ensemble aus potato firewater (Vodka?), Olive und Anchovis (9/10); und eine kleine frittierte Kugel entpuppt sich als handwerklich sehr gelungenes Kabeljautempura mit Txakoli-Wein-Mayonnaise und Citrusgel, der Fisch heiß, die frittierte Hülle hauchdünn und ohne Fettgeschmack, nah dran an japanischer Frittier-Perfektion (9/10). Starke Aromen, spannende Texturen, und erfrischend wenig Konnotation: ein hervorragender Einstieg!

Als nächstes folgt ein Millefeuille mit geräuchertem Aal, Foie Gras und karamellisiertem grünen Apfel. Diese klassische, wunderbar harmonierende Palette an Aromen ist hier noch gekrönt von einer Frühlingszwiebelcreme, die in der Komposition für zusätzliche Frische sorgt. Vor allem begeistert das Zusammenspiel der verschiedenen Texturen. Die hauchzarte Knusprigkeit der Karamellschicht, der cremige Schmelz der Foie Gras und der etwas festere, fettige Aal fügen dem Amuse eine weitere Genussdimension hinzu. Phänomenal. Und so ungeniert französisch noch dazu. (10/10)

Ein letztes Amuse-Bouche folgt: red shrimp royale mit Linsen, Dill und Olivenöl „Venta del Baron“. Das Gericht zum Auslöffeln ist so leicht und frisch wie Gischt, dabei gleichzeitig so kraftvoll wie eine Brandung. Perfektes Kopfkino durch exzellente Produkte, Wohlgeschmack und makelloses Handwerk. (9/10)

Die Speisekarte ist so aufgebaut, dass die erste Gruppe von Gerichten als kleinere Vorspeisen zu verstehen sind. Sie alle kosten einheitlich € 44. Darunter folgen als Hauptgänge zu verstehende Gerichte, gruppiert in Fisch und Fleisch, zu einheitlichen € 71. Also auch hier: eine ganz normale Speisekarte. Ein Menü, zusammengesetzt aus kleineren Portionen aus dem A-la-carte-Teil, ist auch zu haben (€ 210), doch ich bleibe bei einer individuellen Auswahl.

Die Wahl meiner ersten Speise fiel auf so etwas Profanes wie einen Schinkenteller. Die Strategie, in einem Drei-Sterne-Restaurant etwas so Schlichtes zu bestellen, erweist sich so gut wie immer als richtig. Nicht nur ist Schlichtheit prinzipiell begrüßenswert; kommt dann aber noch Exzellenz hinsichtlich der Produktqualität hinzu, sind unvergessliche Erlebnisse garantiert.

Und in der Tat: Der „Capa Negra“-Schinken (hier als Portion für zwei) leuchtet einen schon vom Teller aus an: leicht glänzend vom Fett, davon aber auch nicht übertrieben viel, das Aroma typisch nussig und bei perfekter (zimmerwarmer) Temperatur serviert, sodass sich der Geschmack am besten entfaltet. Zusätzlich – und jetzt kommt ein weiteres Highlight – werden flache Stückchen von geröstetem, baguetteähnlichem Weißbrot serviert, das eine luftig-knusprige Textur aufweist und mit hervorragendem Olivenöl und sehr aromatischen Tomaten eingerieben ist. Der Kellner nennt es crystal bread, vermutlich wegen der Filigranität.

Nimmt man dann eine großzügige Portion Schinken auf so ein Stück, hat meinen einen ziemlich genialen Fingersnack. Zum Glück nicht nur einen! Ich könnte den ganzen Abend lang nur diese Häppchen verspeisen (dann vielleicht mit verschiedenen Schinkensorten, um etwas Varianz hineinzubringen) und wäre danach glücklich und satt. Das hier ist nicht einfach nur ein Schinkenteller mit Brot. Das hier ist Einfachheit in Perfektion, vom verwendeten Mehl des Brots über dessen Backstufe bis hin zur Qualität der Tomaten, des Öls und des Schinkens. Ich bin geneigt, 10/10 zu geben, doch aus demselben Grund, aus dem man auch einem Steinbutt im Elkano keine kulinarische Höchstnote attestieren sollte, endet meine Bewertungsskala für Produkte, die keine Küche benötigen, um zubereitet zu werden, auch hier bei 8/10. Dennoch: einen besseren Schinkenteller habe ich noch nicht gegessen.

Leichter und frischer geht es weiter mit vegetable hearts salad, einem farbenfrohen Arrangement aus Blättern, Kräutern und einigen Stückchen Hummer und Taschenkrebs. Eine Salatcreme und „jodierter Jus“ halten die überfrischen Komponenten zusammen, sorgen aber auch dafür, dass etwas Uniformität hinsichtlich der Texturen und Aromen eintritt. In Summe dennoch ein hervorragendes, sehr natürliches Gericht voller Frische und Leichtigkeit. (8/10)

Als Hauptgang wählte ich gegrilltes Rindfleisch, und auch das erlebt man mich eher selten bestellen. Außerhalb von Orten, an denen man sich wirklich damit auskennt (z. B. Japan, Argentinien und das New Yorker Restaurant Peter Luger) traue ich nur den allerbesten Restaurants zu, ein Stück Rindfleisch so gut zuzubereiten, dass man sich danach nicht für den Tod eines Tieres schämen muss. Die Spitzengastronomie ist überaus hilfreich dabei, dass man insgesamt viel weniger, dafür aber viel besseres Fleisch konsumiert.

Für das Fleisch, das jetzt vor mir liegt – geliefert vom galizischen Schlachterbetrieb Luismi –, hätte ich das Tier allerdings auch selbst getötet. Ob ich es dann auch so gut hätte zubereiten können, ist eine andere Frage. Wie überragend jedoch die Qualität dieses Sirloins ist, sieht man dem Fleisch schon an. Der funkelnde Glanz, der von dem zwischen jeder Fleischfaser integriertem, schmelzendem Fett herrührt, begeistert das Auge und garantiert buttrige Zartheit. Dann die Farbe: eher Altrosa als Blau, Rot oder Grau, eingerahmt von einer dünnen, homogen kastanienbraunen Kruste. Beim Prüfen der Konsistenz durch das Auflegen meines Messers tritt nicht ein Milliliter Flüssigkeit aus dem Fleisch, und die Perfektion des Gargrades wird offenkundig. Ich hatte das früher schon einmal betont: wie man sein Fleisch gebraten haben möchte, fragt man bei Spitzenqualitäten nicht. „Genau richtig“ ist die einzige Option.

Der Gaumen bestätigt dann eigentlich nur noch, was man vorher schon festgestellt hat. Man schmeckt den Glanz, das buttrige, nussige Fett, man schmeckt die Reife, das Altrosa und den Respekt, der diesem Tier entgegengebracht wurde.

Umzingelt wird das erhabene Fleisch von vorzüglichen Begleitern in Form von Mangold, jungen, ganz süßen Erbsen, kleinen Pilzen und Tupfern einer Käsecreme. Ein großartiges, qualitäts- und produktbezogenes Gericht. (10/10)

Mein Dessert besteht dann aus zwei kleinen Stücken Apfelkuchen aus Blätterteig und einer Menge Zauber, denn anders kann ich mir diesen Genuss nicht erklären, der in Bildern und Worten schlecht einzufangen ist. Der buttrige Blätterteig ist knusprig und tausendfach geschichtet, allein das Geräusch, das dieser Teig von sich gibt, ist unvergesslich. Eine Armagnac-Creme dazu bringt etwas Kühle und Weichheit mit ins Spiel. Scheinbar einfach und einfallslos, aber geschmacklich und handwerklich grandios. (10/10)

Wüsste ich nicht, dass ich in Spanien bin, wähnte ich mich mit diesem Essen eindeutig in Frankreich. Saucen, Handwerk, Stilistik und vor allem die Möglichkeit, Genuss ohne die Notwendigkeit einer Meta-Ebene erfahren zu können: dafür steht die spanische Spitzenküche normalerweise nicht. Die Produkte aber stammen überwiegend von hier, aus dem Baskenland, und mit dieser französisch-spanischen Kombination schwimmt Berasategui gegen den Strom seiner meisten Mitstreiter. Man könnte der recht klassischen, geradlinigen Küche etwas fehlenden Einfallsreichtum attestieren, aber wenn ich jemandem in diesem Strom folgen müsste: ich wüsste schon, wem.

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: Martín Berasategui (→ Website)
Chef de Cuisine: Martín Berasategui
Ort: Lasarte-Oria, Spanien
Datum dieses Besuchs: 14.05.2016
Guide Michelin (E/P 2016): ***
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