Osteria Francescana – Oops!

Spätestens wer die erste Episode der exzellenten Netflix-Serie Chef’s Table gesehen hat, konnte Zeuge davon werden, dass einer der kreativsten und intellektuellsten Köpfe, die derzeit in einer Restaurantküche stehen, in Modena zu finden ist. Massimo Bottura, der charismatische, schlanke Querdenker mit Brille und Turnschuhen, steht für eine Küche, in der Emotion, Wissen, Kultur, Ästhetik und Philosophie zusammenlaufen. Das sind keine Phrasen. Man kann das sehen, in allem wofür Bottura brennt, wie er lebt und was er tut.

Bottura wird derzeit mit Preisen und Aufmerksamkeit überhäuft wie niemand sonst. Seine Osteria Francescana ist, nach längst überwundenen Misserfolgen, inzwischen mit drei Michelin-Sternen ausgezeichnet und belegt Platz 1 der zweifelhaften World’s 50 Best Restaurants-Liste. Aus dessen Jury war ich kürzlich ausgetreten, nicht zuletzt, weil ich nie wirklich hinter der Idee stand, dass es tatsächlich ein weltbestes Restaurant geben kann.

Dass auch die Osteria Francescana nicht dieses Restaurant ist, werde ich an diesem Abend herausfinden.

Den ersten Kontakt mit Gerichten aus Botturas Küche hatte ich bereits im Jahr 2010 im Restaurant Aqua im Rahmen eines Auftritts von ihm als Gastkoch. Wirklich begeistert hatte mich damals kaum eines seiner Gerichte, doch ich führte das auf die üblichen Unregelmäßigkeiten zurück, die man erleben kann, wenn Köche nicht am heimischen Herd kochen. Außerdem sind inzwischen sechs Jahre vergangen. Da passiert viel: ein gewachsener Erfahrungshorizont auf meiner Seite sowie eine Weiterentwicklung von Botturas Küche.

Als ich heute Abend zum ersten Mal in der OsteriaFrancescana Platz nehme, wundere ich mich zuerst über die sterile Atmosphäre des Restaurants. Gleißend helles Licht, das auf eine Inneneinrichtung in Graustufen strahlt, fensterlose Räume und ein förmliches Personal, das nicht einmal einen Ansatz von Gastfreundschaft vermittelt: ungemütlicher habe ich selten an einem Tisch gesessen. Richtig beklemmend finde ich es hier, vor allem in diesem kleinen Raum, in dem sich manchmal mehr Kellner als Gäste befinden. Vielleicht ist es in einem der größeren Zimmern etwas besser. In jedem Fall bin ich darüber verwundert, dass Bottura eine solche Atmosphäre als geeigneten Rahmen für eine Küche hält, die höchstwahrscheinlich andere Emotionen vermitteln soll als das Gefühl, beim Zahnarzt als nächster aufgerufen zu werden.

Etwas Wein soll’s richten. Während ich in der Speisekarte stöbere, lasse ich mir ein offenes Glas Weißwein empfehlen und bestelle dazu eine Flasche 2000 Castello di Ama „L’Apparita“ (€ 230), die zunächst zimmerwarm serviert wird und damit grundsätzliche Fragen über die Weinlagerung hier aufwirft. Das Thema Rotwein ist damit erst einmal auf Eis gelegt, im wahrsten Sinn.

Die Speisekarte bietet drei Menüs und einen A-la-carte-Teil. Da ich zum ersten Mal hier bin, wähle ich das Menü mit den Klassikern (€ 250). Brot wird serviert, dessen Kruste plompenziehend hart ist, und zum Olivenöl vermisse ich, wie fast überall in Italien, etwas Salz.

Die Kellner spulen weiter ihr mimikloses Programm ab und tischen Amuse-Bouches auf. Das erste davon ist ein Tempura von river fish. Das schmeckt etwas wie Kartoffelpuffer, ist aber trotz dieser bodenständigen Assoziation sehr elegant, und ein Eis mit Balsamessig sorgt für einen spannenden Kontrast, der an Gänseleber erinnert. (8/10)

Ein kissenförmiges Gebäck mit Kabeljau, Tomate und Kapern ist ziemlich trocken (6/10), ein Paprika-Baiser klebrig, aber aromatisch auf den Punkt (7/10), und ein knuspriges Gebäck mit Parmesan (ohne Foto) ist würzig und umami (7/10).

Den Auftakt des Menüs macht dann eine Kreation mit Auster („Tribute to Normandy“), deren Hauptzutat ein grob geschnittenes Lammtartar ist. Dazu gibt es eine – etwas überportionierte – Austerncreme, die das frische, kühle Lammfleisch fast wie Thunfisch schmecken lässt, sowie ein Granny-Smith-Granité, das etwas Säure beisteuert. Ein gelungenes Surf ‘n‘ Turf. (8/10)

Weiter gibt es Linsen („Lentils are better than caviar“), die u. a. in Aalfond und Weißwein gekocht wurden, was ihnen einen etwas in die Fischwelt verschobenen Geschmack verleiht. Unter der Schicht perfekt gekochter Linsen findet man in dem Kaviardöschen noch Crême fraîche, rote Bete und etwas Knuspriges, das für ein angenehmes Texturspiel am Gaumen sorgt. Keinesfalls „besser“ als Kaviar, sondern einfach nur anders gut. (7/10)

Nach diversen Probeschlucken des Merlots, die der Kellner ständig nachschenkt, als sei es meine Aufgabe, mich um die korrekte Temperierung des Weins zu kümmern, ist der Wein immer noch zu warm, fast schon zur Hälfte leer und hat inzwischen sogar reichlich Depot im Glas. Kurz bevor ich den Versuch des Restaurants, mir Rotwein zu servieren, nun auch vor dem Personal als gescheitert erklären möchte, hat ein offenbar ranghöherer Kellner das ganze Thema mitbekommen, streicht den Wein von der Rechnung und spendiert Champagner als Entschuldigung. Das ist ein souveräner Umgang mit einer Situation, die von vornherein gar nicht erst hätte passieren dürfen.

Mit Champagner im Glas geht es also weiter. „Riso Levante“ ist der Titel des nächsten Gangs, ein Risotto mit Orange und Bergamotte, das auf Tranchen eines lachsartigen Fischs („lavarello“) angerichtet ist. Zwischen den Teller und meine Nase sprüht der Kellner zwei Hübe Zitrusaroma aus einem Zerstäuber, die in meiner Vorstellung in Form eines großen, nebligen Fragezeichens über dem Teller zusammenfallen. Die Antwort zu der Frage finde ich nicht, aber davon abgesehen ist das Gericht recht gut. Der Reis ist zu einer exzellenten, cremig-körnigen Konsistenz gekocht (in Parmesanwasser), die Zitrusaromen der Sauce passen mit ihrer feinen Säure gut dazu, und der Fisch ist vor allem als weitere Texturkomponente spannend. (7,5/10)

„Mediterranean Sole“ beschreibt ein Gericht mit Seezunge, das an die französisch-mediterrane Zubereitungsart erinnern soll, bei der man Fisch en papillotte gart. Hierbei wird der Fisch zusammen mit einigen Aromaten, z. B. Oliven und Tomaten, in einer Papierhülle gegart, sodass er saftig bleibt und sich die Aromen miteinander vermengen. Als Anspielung an diese Papierhülle wurden bei diesem Gericht papierähnliche Fetzen aus Wasser, Salz und irgendeinem klebrigen Texturgeber hergestellt. Darunter, sowie unter einer dickflüssigen Sauce mit Zitronengeschmack, versteckt sich schließlich ein Stück Seezunge von – soweit ich das bei aller Ablenkung vom Produkt ausmachen kann – anstandsloser Qualität. Ein schwarzes Pulver steuert den Geschmack schwarzer Oliven bei. Es ist wohl überflüssig zu sagen, wie sehr ich mich in diesem Moment nach einer authentischen Seezunge en papillotte sehne. (6,5/10)

Es geht weiter mit „An autumn ceviche in Modena“. Kastanie und Steinpilz wurde hierfür „wie ein Ceviche“ eingelegt, was man jedoch nicht herausschmecken kann. Stattdessen ist das ein wohltuend heißer Eintopf mit bissfest gegarten Kastanien, Steinpilzen und einem mit Trüffeln aromatisierten Schaum. Tadellos, aber auch schnell wieder vergessen. (7/10)

Nächster Gang ist „Five Ages of Parmigiano Reggiano in different textures and temperatures“, ein Sammelsurium verschiedener Zubereitungsarten von unterschiedlich gereiftem Parmesan. Es ist durchaus spannend, die Vielseitig dieses Produkts zu entdecken, das eng mit dieser Region verwurzelt ist, doch am Ende hat man hierbei auch nur den intensiven Umami-Geschmack von Parmesan im Mund. Das ist interessant, aber auch etwas zu viel des Guten. (6,9/10)

Als nächstes folgt erneut ein „Emulationsgericht“, mein Terminus für ein Gericht, das eine andere (in der Regel köstliche) Speise nachahmen soll, ohne jedoch diese Speise zu sein. „The crunchy part of the lasagna“ soll an den knusprigen, wohlschmeckenden, leicht angebrannten Teil am Rand einer Lasagne erinnern, der durch die Röstaromen und die knusprige Textur üblicherweise der schmackhafteste ist. Doch auf diesem Teller schmeckt nichts nach köstlicher Lasagne. Stattdessen gibt es einen Chip in Nationalfarben mit lasagneähnlichem Geschmack, ein äußerst fades ragú und einen Béchamel-Schaum. Das ist nichts anderes als ein schlechter Scherz. (5/10)

Die Situation ist absurd. Ich sitze hier unter heißen Deckenstrahlern mit kalter Farbtemperatur, während das Personal in einstudierten Abläufen Teller auf- und abdeckt, Zutatenlisten herunterrasselt und sich nicht einmal dafür interessiert, wenn man ein Gericht nur zur Hälfte aufgegessen hat. Zu Essen gibt es Gedanken an schmackhafte Gerichte und Hübe aus einem Zerstäuber. Ich fühle mich wie der Protagonist einer Parodie eines modernen Spitzenrestaurants. Fast wie in Spanien.

Es geht weiter mit „At the dinner of Trimalchione: fowl in the ancient Roman sytle [sic]“, auf dem Teller übersetzt zu trockenem Huhn und kaltem Chicoree. Bevor mir das alles im Hals steckenbleibt lasse ich den Rest lieber stehen, das ist mir zu gefährlich. (5/10)

Botturas berühmter Foie-Gras-Lolli mit Haselnusskrokant und Tradizionale-Balsamessig („Croccantino of foie gras“) ist gut, die Kombination spricht für sich. Die Terrine ist handwerklich sehr gut gearbeitet, das dickflüssige, süßlich-milde Essigelixier passt dazu perfekt, und die Haselnusssplitter sorgen für zusätzlichen Texturspaß. Eine klassische, gute Kombination in origineller Umsetzung. Aber man sollte sich auch hier von der Präsentation nicht täuschen lassen: hier hat niemand etwas Geniales erfunden, außer vielleicht die Lebensmittelindustrie mit „Magnum“. (7/10)

Caesar salad in bloom“ ist der Titel des nächsten Gangs; an dem alles anders ist. In dem Moment, in dem der Teller vor mir platziert wird, strömt ein minziges Chlorophyll-Aroma in meine Atemwege, vermischt mit dem Duft von Kräutern, Blumen, Frühling … ganz ohne Zerstäuber. Das ist gerade deshalb so faszinierend, weil die Speise kalt ist und man ein so intensives Aroma gar nicht erwartet. Gleichzeitig ist die Assoziation an Kaugummi oder Zahnpasta zumindest einen Hauch befremdlich. Am Gaumen löst sich dieser Konflikt nicht ganz auf, das süßlich-minzige Aroma (woher auch immer es stammt) dominiert, wird dabei aber kraftvoll von Dutzenden weiteren Zutaten ergänzt. Zusammen mit der knackigen Textur der frischen Salatblätter ergibt das ein harmonisches, atemberaubendes Ensemble, das irgendwo zwischen Desserts und Hauptgängen einzuordnen ist. Das ist definitiv die beste Verbindung dieser zwei Welten, die ich je probiert habe. (Mit der Geschmackswelt eines Caesar Salad hat das allerdings nichts zu tun.) (9/10)

Das erste Dessert hört auf den Titel „Oops! I dropped the lemon tart“, eine Art Pop-Ikone des Desserthandwerks, deren Präsentationsart auf einen Vorfall zurückzuführen ist, bei dem jemand im Restaurant einen Zitronenkuchen fallengelassen hatte. Bottura war daraufhin von der „Poesie des Alltäglichen“ fasziniert und führt dazu an anderer Stelle aus: „Unsere Leben sind voll von Verpflichtungen, aber was wäre es für ein Leben, behielte man dabei nicht seinen Humor?“.

Recht hat er, doch seine Feststellung macht dieses Dessert auch nicht besser als das, was es ist, nämlich ein ziemlich wässriges Zitronen-Wassereis und staubige Mürbeteigstücke. Mäßig! (6,5/10)

Das folgende Dessert ist noch viel schlimmer. Die dahingepfefferten Zutaten beinhalten gefriergetrocknete Himbeeren, Schokolade und dieses Knisterzeug, das man aus der Schulzeit kennt und das im Mund explodiert. Kaum essbar. (5/10)

Die Petit Fours schmecken nach Trüffelöl und Leberwurst. (5/10)

Es ist am Ende ganz einfach. Das hier hat für mich mit Spitzenküche nichts zu tun. Denn Spitzenküche ist Handwerk – und keine Kunst. Doch Botturas Gerichte sind verkopft und egozentrisch wie die Bilder eines möglicherweise genialen Künstlers. Tatsächlich sagt Bottura: „Was wir hier machen, hat mit unseren Leidenschaften zu tun. Mit dem Knattern des Auspuffs eines Motorrads. Mit der Melodie des Gesangs von Billie Holiday. Mit der Schnelligkeit von Damien Hirst während eines Speed-Paintings. Mit der Provokation eines Maurizio Cattelan. Wir versuchen, diese Emotionen häppchenweise an den Gaumen der Gäste zu bringen.“

Wenn man das so hört, kann man sich eigentlich nichts sehnlicher wünschen als mit Bottura an einem Tisch zu sitzen und über Essen, Kunst und Emotionen zu philosophieren: kontrovers, passioniert und versöhnlich. Und bei richtig gutem Essen.

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: Osteria Francescana (→ Website)
Chef de Cuisine: Massimo Bottura
Ort: Modena, Italien
Datum dieses Besuchs: 19.10.2016
Guide Michelin (I 2016): ***
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