Essigbrätlein – Nürnberger Spezialität

Für viele kulinarisch Interessierte steht Nürnberg weniger für die Exportschlager Lebkuchen und Rostbratwürstchen als für das Restaurant Essigbrätlein. Das Traditionshaus mit großen, leuchtenden, fast ritterlichen Lettern in Frakturschrift an der Fassade ist mit zwei Michelin-Sternen ausgezeichnet und steht für eine gemüsebetonte regionale Küche aus den Händen von Restaurantinhaber Andrée Köthe und Küchenchef Yves Ollech.

Die ritterliche Schrift passt: immerhin stammt das Haus aus dem 17. Jahrhundert, was auch das gedrungene Interieur erklärt. Hier zu kochen ist vermutlich auch eine räumliche Herausforderung.

Es gibt ein Menü (7 Gänge € 149), das optional reduziert werden kann. Ich brauche nicht lange, um mich für das gesamte Menü zu entscheiden. Die Weinkarte verdient besondere Erwähnung. Viele große Tropfen sind hier zu äußerst fair kalkulierten Preisen zu haben, z. B. ein 2010 Pommard „Les Vaumuriens“ von der Domaine Coche-Dury für € 189, was nah am aktuellen Verbrauchermarktpreis ist.

Das Menü beginnt dann recht zügig mit den Amuse-Bouches.

Ein Saft von roter Spitzpaprika ist u. a. mit Holunderblüten abgeschmeckt und beeindruckt durch einen intensiven Paprikageschmack und ein Bouquet voller angedeuteter, nicht leicht auszumachender Aromen – wie ein gutes Parfum. Sehr elegant. (8/10)

Eine Löffeldegustation mit Meerrettichmolke und Radieschen(-samen) ist frisch, leicht pikant und spielt dazu angenehm mit dem Kontrast von Süße und Säure (8/10); und gebratene, lauwarme Blätter von Rosenkohl mit Rahm schmecken völlig überraschend nach der karamellisierten Kruste eines guten, marmorierten Stücks Fleisch – und damit vermutlich besser als 99,9 Prozent aller Steaks hierzulande (9/10).

Auch fermentierter Rettich mit Preiselbeeren positioniert sich geschmacklich in die herzhafte Umami-Ecke (vermutlich durch die Fermentation) und überrascht durch diese kräftigen Aromen. (8/10)

Alles in allem ein intelligenter Einstieg, reduziert und doch aromenstark; vegetarisch, aber ohne Abstriche. Gerade Letzteres kann man nicht oft genug demonstrieren.

Erster Gang des Menüs heißt schlicht „Gurke mit Tomate“. Die Gurke wurde hierfür „geschlagen“, eine Methode, die mir wissentlich gerade erst im Sommer bei einem Italiener in Vancouver begegnet ist. Der Vorteil dieser Methode ist eine sehr heterogene Struktur der Gurke, die am Gaumen erstaunlich mehr Genuss bietet als geschnittene Stücke. Die Gurke wird von getrockneten Tomaten und Schnittlauchsaft begleitet. Der Duft dieser Kombination ist frisch, sommerlich, tiefgründig. Am Gaumen bestätigt sich das alles, und auch hier findet man einen alten Bekannten wieder: eine süffige Herzhaftigkeit, die vom Umami-Geschmack der Tomaten sowie dem Schnittlauch herrührt und entfernt an Zwiebeln und Hotdog erinnert. Exzellent. (8/10)

Saibling mit Blumenkohl ist der nächste Gang, und auch hier geschieht Erstaunliches. Die schon regelrecht provokant rückschrittliche Optik des Gerichts (gedünsteter Blumenkohl!) spielt einem einen Streich allererster Güte. Allein die Aromen, die dem Teller entströmen, erinnern weder an Kohl noch an den Fisch, sondern sind ätherisch, minzig und „grün“. Verantwortlich dafür ist Kerbel (in Form von gehackten Blättern und gegartem Stil), der mit seinem absinthähnlichen Aroma hier den Ton angibt. Majoran ist ein weiterer Mitspieler, und so genießt man hier maßgeblich eine Inszenierung von Kräutern. Saibling und Blumenkohl halten sich trotz ihrer scheinbaren Protagonistenrolle eher im Hintergrund dieser eindrucksvollen Aufführung. (8/10)

Aromatisch sehr schlüssig folgt ein weiteres Gericht mit minzigen Noten, diesmal tatsächlich einem Minzsud entspringend, in dem sich hauchdünn geschnittene, nach Wald duftende Champignons befinden. Doch das Gericht heißt nicht etwa „Champignons und Minze“, sondern Steckrübe und Lindenlaub – zusammen mit Topinambur weitere Zutaten dieses Tellers. Am Gaumen ist das eine Nuance weniger spannend als in der Nase, man schmeckt Minze und auch etwas Kaffeeähnliches, aber es verschwimmt alles ein bisschen. Dennoch sehr gut. (7/10)

Auffällig ist ein bei mir inzwischen deutlich spürbarer Überdruss an kalten, eher säurebetonten Speisen. Denn obwohl die Gerichte alle exzellent sind, möchte man die kohlehydratarmen, lauwarmen Teller besonders dann hinter sich lassen, wenn man ziemlich hungrig hier eingekehrt ist. Gedanklich spurte ich daher schon zum Hauptgang in der Hoffnung auf etwas mehr Hitze und Biss.

Zunächst geht es aber weiter mit frischem Grünkohl und Meerrettich, dazu gibt es Topinambur und rote Bete. Auch dies ist eine hervorragende Kombination, die vor allem durch den frischen Kohl begeistert, der ein völlig anderes, eher nussiges Aroma aufweist als der Grünkohl, den man in Norddeutschland gerne mit „Pinkel“ verarbeitet. Das kenne ich so eigentlich nur aus dem angelsächsischen Raum, wo sich kale ja schon lange als unverzichtbare Zutat in diversen Küchen etabliert hat. Hervorragend! Aber auch nicht warm. Das ist zwar keine Kritik an diesem Gericht, aber ein wenig an der Dramaturgie. (8/10)

Garnelen mit Kraut sehen nach Wärme und Proteinen aus, doch an den Garnelen (aus einer Zucht in Erdingen) finde ich überhaupt keine Freude, weil sie nach abgestandenem Hafenbeckenwasser schmecken. Pardon. Und dennoch: der Salat mit einer Krustentiermayonnaise und Zitronenkraut ist sehr gut und wirft ein gutes Licht auf eine Kreation, die mit einem qualitativ vorteilhafteren Krustentier sicherlich sehr gut gewesen wäre. (6/10)

Der Hauptgang ist Lamm von einer wahrhaftig sensationellen Qualität – zart, aromatisch, saftig, gut marmoriert – mit gegarten Brokkolistängeln, frischen Haselnüssen, Pistaziencreme und Estragon. Das harmoniert alles wunderbar, aber schon das Lamm allein ist ein Hochgenuss, den man bei Fleisch seltener erleben kann. Hier gibt es jetzt allerdings einen Malus für einen abermals eher handwarmen Teller. (7,9/10)

Das Dessert, Schmandeis mit Apfel und Creme von fermentiertem Mais, folgt ohne unnötige Umschweife. Das ist, kurzum, ein etwas merkwürdiges Dessert – mit einem fast nur „nach Textur schmeckenden“ Eis und etwas viel gebackenem Apfel. Mäßig. (6/10)

Insgesamt überzeugte mich das Menü im Essigbrätlein besonders durch einen sehr intelligenten Einsatz des Aromenspektrums von Kräutern und Gemüsen und der hervorragenden Qualität des Lamms. Durch den Verzicht von Hitze entsteht jedoch der Eindruck eines nicht ganz vollständigen Mahls, was in Anbetracht der zahlreichen Gänge etwas zu kritisieren ist.

Durch die Kombination mit einer etwas gewöhnungsbedürftigen Atmosphäre, die vor allem der sehr hellen Beleuchtung und dem engen Interieur geschuldet ist, entsteht auch eine Diskrepanz zwischen der objektiv sehr guten Küche und dem Verlangen, dieses Erlebnis schnell zu wiederholen. Dennoch: wer in kulinarischer Hinsicht an Nürnberg denkt, sollte zuerst ans Essigbrätlein denken. Die Würstchen sind überschätzt.

Obwohl ein paar davon jetzt ganz nett wären.

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: Essigbrätlein (→ Website)
Chef de Cuisine: Yves Ollech
Ort: Nürnberg, Deutschland
Datum dieses Besuchs: 04.11.2016
Guide Michelin (D 2016): **
Meine Bewertung dieses Essens 7,5 (Was bedeutet das?)
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