Sosein – und nicht anders

Man muss an der Tür läuten. Nicht, weil das cool ist, sondern um die Gäste, von denen es maximal sechzehn pro Abend gibt, so persönlich zu empfangen als wären sie privat bei jemandem eingeladen. So zumindest fühle ich mich, als ich die alten Gemäuer des noch ziemlich neuen Restaurants Sosein in Heroldsberg betrete und überaus herzlich empfangen werde. Heroldsberg, wieder so ein Ort, an dem ich vermutlich nie im Leben gewesen wäre, hätte hier nicht ein Restaurant in letzter Zeit für einigen Wirbel gesorgt.

Das Haus wurde Ende 2015 von Felix Schneider und einigen Partnern eröffnet. Schneider hielt zuvor im Aumers La Vie in Nürnberg (damals ein Michelin-Stern, inzwischen geschlossen) das Küchenzepter in der Hand und hat mit dem Sosein nun eigene Wege eingeschlagen. Solche Geschichten gibt es in der deutschen Gastronomielandschaft viele, aber nur selten stolpert man wenige Monate nach der Eröffnung bereits auf ein so großes Medienecho, besonders dann nicht, wenn man vom Küchenchef – mit Verlaub – noch nie etwas gehört hat. Doch die wenigen Informationen, die bisher zu mir durchgesickert sind, haben mich ausreichend neugierig gemacht, um mich hierhin auf den Weg zu machen.

Tatsächlich könnte das Restaurant mit seinem sehr geschmackvoll gestalteten Ambiente auch in Kopenhagen oder New York heimisch sein. Einen derart kosmopolitischen Eindruck vermittelt in Deutschland kaum ein Restaurant, nicht einmal in Berlin – aber das lebt ja auch von seinem Lokalkolorit.

Bei sehr gutem offenem Chardonnay von Au Bon Climat aus Kalifornien lasse ich die Atmosphäre auf mich einwirken. Es gibt ein festes Menü (€ 115) und eine überschaubare, aber exzellente Weinkarte in einem hölzern eingefassten iPad mit sehr benutzerfreundlichem Bedienkonzept. Mindestens genauso freundlich ist auch das Personal – jung, offen und herzlich, versiert und dabei überaus professionell, so wie man es nur aus wirklichen guten Häusern kennt und es nicht mal dort selbstverständlich ist. Man merkt, dass sich das Team hier wohlfühlt. Das überträgt sich auf die Atmosphäre.

Der „Prolog“ des Menüs beginnt mit kleinen Stückchen mit Rosenessig rehydrierter roter Bete und jeweils einer Blüte eines Rosengewächses. Süße, Säure, Frucht und die ätherischen Rosenaromen passen exzellent zusammen und wirken angenehm „geheimnisvoll“. — 7,5/10

Ein Spinatblatt enthält unterschiedliche Zubereitungen von Johannisbeere sowie Stücke vom Schwefelporling, ein rarer, edler Speisepilz mit einem Geschmack irgendwo zwischen Steinpilz und Fetter Henne. Der Duft der fantastischen Pilze ist betörend und vermengt sich mit den Aromen von Butter und Röststoffen. Man rollt das einfach mit den Fingern zusammen und genießt den vollmundigen Geschmack dieses Ausnahmesnacks. Großartig! — 9/10

Es folgt ein Stück Regenbogenforelle, leicht geräuchert, von exzellenter Qualität und mit frisch geriebenem Meerrettich serviert. Letzterer erinnert an eine kräftige Brise an der Küste und unterstricht das maritime Flair dieses Amuse-Bouche. — 7/10

Inzwischen wurde auch der von mir bestellte Rotwein geöffnet und karaffiert (2011 Corison Cabernet Sauvignon, € 210) und steht neben einem weiteren offenen Glas Weißwein (aus dem Rioja, glaube ich) auf dem Tisch. Ich mag es, nach eigener Laune parallel zu verkosten, daher fällt meine Wahl auch so gut wie nie auf eine Weinbegleitung – die hier jedoch zweifellos recht spannend klingt. Auf einige der exzellenten Säfte und Elixiere der alkoholfreien Getränkebegleitung komme ich im Verlauf des Abends auch noch zurück. Es muss in Restaurants nicht immer „entweder/oder“ heißen. „Und“ macht häufig viel mehr Spaß.

Nächster Snack ist eine Interpretation von Waldorf-Salat, bei der ein Stück Bauchfett vom Mangalica-Schwein als dekadentes Mayonnaise-Surrogat dient, das die weiteren Zutaten Apfel und Walnuss zusammenbringt. Das geschmacklich feine Fett schmilzt am Gaumen wie Butter, die gehobelte Walnuss duftet und ist extrem aromatisch, während der Apfel mit seiner fruchtigen Säure für einen frischen Akzent sorgt. Eindeutig besser als das Original! — 8,5/10

Als „Schlachtschüssel“ wird der nächste Gang annonciert. Hierbei findet man eine begeisternd gute, gekochte Kartoffel der Sorte „Bamberger Hörnchen“ in einem Sud von nach Sauerkrautart vergorenem Rotkohl wieder. Darüber gehobelte und getrocknete Schweinsleber sorgt für fleischigen Schmelz am Gaumen. Originell und köstlich. — 8/10

Am Ende dieses „Prologs“ wird Brot auf einem eigenen Tisch aufgeschnitten. Zur hauseigenen Herstellung des Sauerteigs („Birnenmost“, „sehr spezielle Hefen“) gibt es viel zu erzählen und 17 Wochen alte Butter. Exzellent, alles.

Der erste offizielle Gang des Menüs ist dann eine dicke Tranche grüne Tomate, die mit Kräutern wie Liebstöckel und Kapuzinerkresse bedeckt ist und in einem Sud von eingekochten bayerischen Garnelenköpfen serviert wird. Die Kombination von Tomate und Krustentier erscheint zunächst sehr experimentell, ist aber bei genauer Überlegung regelrecht mediterran. Der Geschmackseindruck ist geprägt von reifer, fleischiger Frische der Tomate und dem würzigen, hervorragend gekochten Fond, dessen Reste man sich genüsslich mit dem Brot zu Gemüte führen kann. — 8/10

Weiter geht’s mit Karpfen, halbroh mariniert und mit einer phänomenal buttrigen Kruste von Sauerteigbrotkrumen bedeckt; dazu gibt es ungewöhnlichen, sehr guten Kartoffelsalat aus hauchdünnen Scheiben, ebenfalls nahezu roh, aber ohne störende Stärke und mit einer ansprechenden Sauce angemacht. Der Protagonist dieses Gerichts war zwar noch nie mein Fall, und der typisch tranige Geschmack von Karpfen lässt mich auch hier nicht ins Schwärmen geraten, dennoch sind alle Produkte von ausgezeichneter Qualität und die Komposition in Summe interessant und handwerklich gelungen. — 7/10

Artischocke mit Sonnenblumenblättern und gerösteter karamellisierter Walnuss ersetzt bei mir eine eigentlich vorgesehene Wildente, die hier halbroh serviert wird und damit für mich kein Thema ist. Gut so, denn die Kreation mit Artischocke ist ein Gedicht. Fleischig, röstig, erdig, wunderbar. — 8/10

Leistlinge, Herbsttrompeten und weitere Pilze wurden für den nächsten Gang goldbraun angebraten, duften herrlich nach Wald und Butter und schmecken auch so. Die Rinderconsommé ist feinstes klassisches Handwerk und mit Douglasienöl beträufelt, was den imaginären Spaziergang im Wald nicht nur aromatisch perfekt komplettiert. Danke, dass das Gericht nicht „Waldspaziergang“ heißt. Wer darauf nicht von selbst kommt, hat diese Bilder auch nicht verdient. Herausragend! — 9/10

Der nächste Gang ist Presa (Nackenkern) vom Rind, geschmort, dazu gibt es den reduzierten Schmorjus, mit Ochsenfett angereichertes Kartoffelpüree, welches besser ist als das von Joël Robuchon, und geschmorten, leicht bitteren Zuckerhut (Fleischkraut). Ein klassischer Genuss, hervorragend umgesetzt. — 8/10

Als erstes Dessert (leider ohne Foto) gibt es Feigenblatteis mit frittierten, knusprigen Feigenblättern und roher Topinambur, was mich aromatisch seltsamerweise an Kokos, Sonnenöl und Pommes Frites erinnert – eine zugegebenermaßen eigenwillige Assoziation, die vermutlich vom Frittierfett herrührt, aber geschmacklich deutlich feiner ausfällt als dieser profane Vergleich. Ohne Bild ist das Ganze nur schwer zu beschreiben. In jedem Fall ein hervorragender Einstieg in den süßen Abschluss. — 8/10

Weiter gibt es Pastinakenporridge (!), Haselnusseis und Preiselbeeren. Das braucht ein paar Löffel, bis ich mich dafür begeistern kann, dann aber gibt es kein Zurück: die Kreation erinnert an das kindliche Vergnügen, rohen Teig zu probieren, dazu kommen die süßen Früchte und ein abermals hervorragendes Eis. Sehr gut! — 7/10

Ein spürbar hochwertig gebackener Donut mit einer grandiosen Zitronencreme schließt das Menü köstlich und mit fettigen Fingern ab. Eine Wonne. — 8/10

Ich bin beeindruckt, satt und glücklich. Das Sosein ist eine große Bereicherung der deutschen Gastronomielandschaft. Das liegt nicht an der Küche allein, die exzellent ist – modern und klassisch zugleich, regional, aber undogmatisch, mit hervorragenden Rohstoffen und wohlschmeckenden Gerichten –, es liegt auch am erstaunlich kosmopolitischen Auftritt, vom Design bis zum entspannten, freundlichen und dennoch höchst professionellen Personal. Wüsste ich nicht, wo ich bin, wähnte ich mich hier wohl am ehesten in einem kreativen Spitzenrestaurant in der belgischen Provinz. Restaurants wie das In de Wulf oder L’Air du Temps sind dem Sosein nicht unähnlich. Dennoch kann von einer Nachahmung nicht die Rede sein. Allein schon die Küche gefällt mir hier besser.

Das Sosein hat einen Schritt in eine Richtung eingeschlagen, die dieses Land kulinarisch und gastronomisch gesehen weit nach vorne bringen wird. Ich sehe hier nicht nur Sterne funkeln, sondern bin mir sicher, dass das Sosein das Potenzial dazu hat, internationale Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Und das ausgerechnet in Mittelfranken, in einem Dorf namens Heroldsberg. Wer hätte das gedacht? Aber so ist das hier eben. Und so sei es gerne weiter.

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: Sosein (→ Website)
Chef de Cuisine: Felix Schneider
Ort: Heroldsberg, Deutschland
Datum dieses Besuchs: 05.11.2016
Guide Michelin: noch nicht bewertet
Meine Bewertung dieses Essens 8 (Was bedeutet das?)
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