Atelier – Schweinebauch zum Frühstück

Jan Hartwig ist erst seit etwas über zwei Jahren Küchenchef im Restaurant Atelier im Hotel Bayerischer Hof in München und hat das Restaurant bereits zu einer Auszeichnung mit zwei Michelin-Sternen bugsiert. Das ist rasant. Manch einer äugte daher bei der vor kurzem erschienenen neuen Ausgabe des Guide Michelin besonders auf die bayerische Landeshauptstadt. Doch es bleibt zunächst bei zwei Sternen. Das ist eine hohe Auszeichnung. Kein Grund, Trübsal zu blasen.

Zu Hartwigs vorherigen Stationen zählen u. a. das GästeHaus Klaus Erfort in Saarbrücken und das Aqua in Wolfsburg, wo der junge Koch als Souschef tätig war. Diese Kombination finde ich besonders reizvoll, denn in den Restaurants wird – auf höchstem Niveau – ganz unterschiedlich gekocht. Eher klassisch Französisch und produktbezogen bei Klaus Erfort, und etwas technischer und kreativer bei Sven Elverfeld. Hartwig profitiert dadurch von einem Wissensfundus aus beiden Welten.

Da ich das Atelier bisher noch nicht besucht habe, kehre ich an diesem Freitagabend besonders gespannt hier ein. Es ist Dezember, Vorweihnachtszeit, der Laden brummt.

Die Speisekarte liest sich angenehm produktbetont. Klassische Zutaten wie Jakobsmuschel, weißer Trüffel, Rinderfilet und Rehrücken zieren zwei Menüs, aus denen man flexibel kombinieren kann (vier bis sieben Gänge, € 135 bis € 190). Weißwein trinke ich zunächst glasweise – man ist hier sehr flexibel bei der Auswahl (z. B. 2012 Sauvignon Blanc „500“, von Winning für € 13,50 und 2009 „Hyde Vineyard“ Chardonnay für € 28) –, dazu bestelle ich eine Flasche 1998 Château Montrose, die mit € 235 ungefähr dem Dreifachen des aktuellen Marktpreises entspricht. Alles nicht unübliche, aber doch sehr saftige Aufschläge.

Es geht los mit Amuse-Bouches. Ein Limonenbaiser ist mit Bergamottenschale und Parmesan hervorragend abgeschmeckt und bringt mit einer salzigen Sardelle (Don Bocarte Anchovi) ein angenehmes Aperitif-Flair mit (8,9/10). Das Pilzküchlein daneben bietet konzentrierten Geschmack nach „Pilz“ – welchem genau, bleibt unklar, dennoch ist das sehr gut umgesetzt (7/10). Lange, dünne Gebäckstangen aus Frühlingsrollenteig sind mit Hummus und Gewürzjoghurt gefüllt und bieten ebenfalls erfreulichen Aperitifspaß (7/10).

Mit einem „Strandspaziergang“ geht es weiter. Das ist zwar ein recht verbrauchter Name für eine solche Komposition, dennoch ist er passend. Büsumer Krabben und Herzmuscheln sind von makelloser Frische, hinzu kommen verschiedene Cremes und Gels, u. a. mit Yuzu, Auster und Avocado. Cremige Texturen erleben in Deutschland ja gerade so etwas wie ihren zweiten Frühling. Sehr häufig geht das schief – hier funktioniert das allerdings sehr gut, besonders, weil das Gericht recht „kompakt“ in einer Glasschale mit hohem Rand serviert wird, was ein müheloses Vermengen aller Zutaten ermöglicht. Das Geschmacksbild ist frisch, maritim, leicht rauchig und erinnert mich an einen Teller von Sergio Herman aus dem Jahr 2011. Der Niederländer wählte für seine Komposition damals ein etwas stimmigeres Verhältnis von authentischen und verarbeiteten Zutaten und brachte mit einer aufgeschäumten Sauce und knusprigen Komponenten noch etwas mehr Abwechslung ins Spiel. In Summe ist das ein sehr ansprechender Teller, die Cremes tragen jedoch an dieser frühen Stelle des Menüs auch zu viel Sättigung bei. (8/10)

Ein weiteres Amuse-Bouche ist eine Zubereitung mit „Kalbskopfgraupen“, Wachtelei und Schnittlauch: nicht weniger als eine perfekte Speise! Die lauwarme, in einem Ei zum Auslöffeln angerichtete Komposition, ist hervorragend abgeschmeckt. Cremiges Eigelb, herzhaftes Kalbfleisch in winzigen Würfeln und die Frische vom Lauch ergeben ein süffiges, allein auf Wohlgeschmack getrimmtes Genusserlebnis, von dem ich nur deshalb ein Foto habe, weil ich es nachbestellt habe. (10/10)

Der erste Gang des Menüs ist gebeizte Makrele, und sie kommt in phänomenaler Qualität. Ein Produkt dieser Güte braucht eigentlich nicht viel, um optimal zur Geltung gebracht zu werden. Hier bedecken Scheiben des rohen Fischs ein Röllchen aus Wurzelgemüse, das mit einer fermentierten Weißkohlzubereitung auf koreanische Art (Kimchi) gefüllt ist. Dazu gibt es einen Cevichesud, der ruhig noch etwas mehr von der dafür typischen Säure vertragen könnte, sowie weitere Komponenten, von denen man sich fragt, ob diese Augenweide von Makrele nicht auch ohne sie auskommen könnte. Dieser Eindruck bestätigt sich am Gaumen. Die zurückgekehrten Cremes überlagern die Feinheit des Fischs auf eine Art, wie es auch Mayonnaise in kalifornischem Pseudo-Sushi tut. Dieser Teller ist zwar weit entfernt von den Miseren schlechten Sushis, aber man stelle sich nur einmal die eindringliche Schönheit der Komposition vor, wenn das Makrelenröllchen in der Tellermitte läge und der Ballst rechts einfach nicht vorhanden oder in stark reduzierter Form in die Komponenten des Röllchens eingearbeitet wäre. Das wäre ein starkes Gericht! Ich habe den Eindruck, dass sehr vielen deutschen Köchen der Mut zu einer solchen Reduktion fehlt, weil das Gästemantra „Wenn mehr auf dem Teller liegt, bekommt man auch mehr für sein Geld“ wie ein Damoklesschwert über den Restaurantküchen zu schweben scheint. Traut euch doch einfach, werte Küchenchefs, ihr wollt es doch auch. (7/10)

Es geht weiter mit Jakobsmuschel, ein Produkt, an dem ich wirklich nur in allerbesten Qualitäten Freude finden kann. Diese Voraussetzung ist hier erneut erfüllt. Die weiteren Zutaten dieses Tellers sind, unter anderem, grüne Spitzpaprika, Erdnuss, Jalapeño und Kaffernlimette (Combava), die ein überraschendes Geschmacksbild aus der thailändischen Küche ergeben. Hierdurch – und durch die Produktqualität – ist das ein unstrittig exzellentes Gericht, das in einem tieferen Teller, mit etwas mehr von diesem exzellenten Sud und mit abermals weniger Cremetupfern nur dazugewinnen könnte. (8/10)

Wie gut Hartwig sich tatsächlich auch auf „die Tellermitte“ konzentrieren kann, zeigen erfreulicherweise die nächsten Gerichte.

In eine Komposition mit weißem Trüffel, Ei, Spinat und in diesem Fall noch Kochschinken und „Reisallerlei“ müsste man fast schon mehr Wissen als Unwissen investieren, um diese Zutaten in etwas Mittelmäßiges zu verwandeln. Mit anderen Worten: viel schiefgehen kann hier nicht, tut es auch nicht, aber trivial ist das dennoch nicht. Hier ist alles richtig: die Qualität des Trüffels, der so ähnlich frisch und biegsam ist wie dünner Iberico-Schinken (man kann die Frische weißen Trüffels schon daran erkennen, wie die gehobelten Scheiben auf den Teller fallen), der Salzgehalt ist auf den Punkt, die cremige Sauce ist angenehm schaumig, und ich entdecke zum wiederholten Mal Hartwigs Vorliebe für Schnittlauch, die immer einen interessanten „Frische-Kick“ mit ins Spiel bringt. Ein makelloser, klassischer Gaumenschmaus. (9/10)

Ein Stück Schweinebauch, dessen saftige Schichten in Abstufungen von Pastellrosa das Auge erfreuen und dessen zarte Textur am Gaumen an den fettigen Teil von Thunfischbauch (Otoro) erinnert, wird auf einer geräucherten Hollandaise serviert. Obenauf findet man knackiges, fleischiges Eiskraut – eine großartige Zutat –, dazu Sesam, eine dünne Scheibe Winterrettich und noch ein paar knusprige Komponenten. Alles sehr leicht. Die ganze Portion schwimmt wiederum wie eine Insel in einer „Umamibouillon“, die, so erklärt man, in einem vier Tage dauernden Prozess hergestellt wurde. Taubenknochen spielen unter anderem eine Rolle bei der Erzeugung dieses Elixirs, das ich zu einer der hervorragendsten Saucen zähle, die ich seit langem probiert habe: tief aromatisch, enorm reduziert, dennoch fein und unglaublich komplex. Das ist ganz sicher einer der besten Teller, die man derzeit in Deutschland essen kann, ganz ohne Cremetupfer. (10/10)

Als wäre nicht schon längst alles in Butter – Appetit und Glückseligkeit –, denkt das Menü noch gar nicht daran, aufzuhören.

Es geht weiter mit Bayerischem Landhendl. Hier sind verschiedene Teile des Huhns (das ist nicht so leicht erkennbar, weil sie in Form gebracht wurden – ich glaube jedoch, sowohl Brust als auch Keule), mit einer grünen, kräuterigen Farce gefüllt. Weitere Komponenten – geschmacklich alles sehr passend – sind Pastinaken, Buchenpilze und ein abermals hervorragender Jus. Das Huhn ist saftig und sehr aromatisch, wirkt aber aufgrund seiner sehr homogenen Textur (vermutlich durch Sous-vide-Garung) etwas artifiziell. Das zweifellos auch so exzellente Gericht würde durch den Kontrast, den eine krosse Kruste beisteuern könnte, an Authentizität und Spannung gewinnen. (8/10)

Vor dem Hauptgang geht es noch weiter mit einem Radler mit Yuzu, Vanille und Ingwer – eine angenehme flüssige Erfrischung, dann folgt ein weiterer Fleischgang.

Ein Stück Rehrücken („vom Gutshof Polting“) schmückt die Mitte des Tellers, umrahmt von einigen Cremes und Pürees, die hier in Relation zur Hauptzutat mit Bedacht dosiert sind. Als die Sauce angegossen wird – eine erneut verführerisch aussehende Flüssigkeit – erwische ich mich bei einem fordernden Blick in Richtung des Kellners, dass das Saucentöpfchen auch ja am Tisch bleibt. Aber es bleibt, auch ganz ohne Forderung.

Das Stück Reh ist perfekt, seine mürbe Zartheit ist außergewöhnlich. Auch wenn hier vermutlich im Vakuumbeutel gegart wurde, tut es diesem Stück Fleisch gut. Das nachträgliche Anbraten hat ansprechende Röststoffe zum Vorschein gebracht, deren Geschmackstiefe von knusprigen, leicht rauchigen Pistaziensplittern unterstrichen wird.

Die Sauce – dicht aromatisch und klebrig durch die Reduktion – schmeckt ganz leicht pikant (vielleicht ein Pfeffer?), hat ein weihnachtliches Geschmacksbild und angedeutete Aromen von Himbeere. Mit jedem Stück Fleisch, das man über die Pürees am Rand immer noch mit einem fruchtigen Akzent kombinieren kann, nehme ich mehr von dieser grandiosen Sauce auf, und selbst als der Teller schon lange aufgegessen ist, leere ich in Ruhe noch das ganze Kännchen aus, Löffel für Löffel. Ein fantastisches Gericht. Handwerk, Geschmack und Qualität auf jeweils höchstem Niveau. Und wer auf diesem Teller nicht für etwas Chaos sorgt, macht etwas falsch. (10/10)

Nach dieser geradezu klassisch-puristischen Darbietung wird es wieder kreativer. Der Küche gelingt ein solcher Schwenk scheinbar spielerisch. Fourme d’Ambert, der cremige Edelschimmelkäse aus der Auvergne, wird hier, neben verschiedenen Eissorten, Vanille und Haselnuss, mit einer fruchtig-süßen Pflaumensauce serviert. Alles sehr harmonisch und trotz der vielen Komponenten ein wahrhaftiger Käsegang. (8/10)

Als Pré-Dessert gibt es Eis von rotem Shiso, Yuzucreme und Jasminreis. Letzterer verleiht der kleinen Erfrischung ein unverwechselbares Aroma von (industriellem) Puffreis. Das schmeckt daher etwas artifiziell, aber nicht in schlechtestem Sinn. Sehr gut – und keinesfalls entbehrlich! (7,5/10)

Den Abschluss des Menüs bildet ein Dessert-Konstrukt, das mich aufgrund der Cremetupfer-Optik zunächst skeptisch stimmt, doch dann, mit jedem Bissen, nicht nur überzeugt, sondern vollkommen begeistert. Das Thema dieser Kreation ist Griechischer Joghurt & Honig, und wer das schon mal in Griechenland gegessen hat – das ist bei mir über 30 Jahre her –, weiß, welch großen Genuss dieses einfache, aber köstliche Geschmacksbild bieten kann, dem man viel zu selten begegnet. Hier ist das ganze Erlebnis in verschiedene Texturen und Zubereitungen untergebracht, dazu liefert Estragon eine ätherische Frische, Pekannuss sorgt für etwas Knusprigkeit und Granatapfel für ein paar wohldosierte säuerliche Kontraste. Lediglich die Tatsache, dass mir hinsichtlich der Umsetzung dieses Desserts Spritztülle, Thermomix, Pacojet und Texturgeber in den Sinn kommen, hält mich hier von einer Höchstnote ab. Großartig im Geschmack, astronautennahrungsähnlich in der Ausführung. (7,5/10)

Pralinen und Kaffee: nach fünf Stunden essen muss ich jetzt passen. Man besteht aber darauf, mir eine kleine Auswahl an Petit-Fours mitzugeben. Mein Frühstück ist damit gerettet.

Das Menü war eines der besten in Deutschland, die ich dieses Jahr gegessen habe. Aqua-esque Einflüsse sind hier nicht von der Hand zu weisen, aber dieses Menü war dennoch vollkommen eigenständig. Hier ist ein ganz großer, junger deutscher Küchenchef noch lange nicht am Ende seines Weges. Es fehlt aus meiner Sicht an nichts Nennenswertem, um in die Drei-Sterne-Liga aufzusteigen, außer vielleicht an einer Entscheidung, zu welcher Seite der Medaille sich Hartwigs Küche endgültig bekennen möchte. Sind es Quetschflaschen, Thermomix und Vakuumbeutel? Oder sind es phänomenale Saucen mit Taubenknochen, glänzende Makrelenfilets und saftige Schweinebäuche? Die Küche tendiert erfreulicherweise schon jetzt zu letzterer Variante. Und apropos Schweinebauch: gibt es den vielleicht auch noch eingepackt fürs Frühstück? Ist ja gut, ich gehe ja schon. Ihr könnt jetzt das Licht ausmachen.

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: Atelier (→ Website)
Chef de Cuisine: Jan Hartwig
Ort: München, Deutschland
Datum dieses Besuchs: 02.12.2016
Guide Michelin (D 2017): **
Meine Bewertung dieses Essens 8,5 (Was bedeutet das?)
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