Shanghai – acht Restaurants, 14 Michelin-Sterne, 92 Stunden

Man kann etwas Zahlenspielerei betreiben, um die Rahmenbedingungen, die ich mir für mein erstes kulinarisches Abenteuer in diesem Jahr gesetzt habe, zu beschreiben. Als ich an einem Freitag im Januar pünktlich gegen Mittag in Shanghai lande, bleiben mir bis zur Abreise genau 92 Stunden.

Zieht man Abreisetag, Schlafenszeit und Restaurantschließungszeiten ab, bleiben unterm Strich nur ungefähr 25 Stunden, in denen ich insgesamt acht Restaurantbesuche unterbringen möchte. Das sind drei pro Tag, am Anreisetag eines weniger. In die Karten spielt mir der Zufall, dass sehr viele Restaurants in Shanghai bereits gegen 11 Uhr öffnen, sodass ich die ersten beiden Restaurants am Tag als spätes Frühstück und spätes Mittagessen sehe; abends folgt dann Nummer drei.

Wozu der Stress? Und warum überhaupt Shanghai? Weil es dort seit kurzem erstmalig Restaurants gibt, die der Guide Michelin mit Sternen ausgezeichnet hat, sogar eines mit dreien. Besonders Letzteres heißt für mich: nichts wie hin! Mein Blog heißt ja nicht grundlos „Drei Sterne“. Und wenn ich so ein Vorhaben in einem (stark verlängerten) Wochenende unterbringen kann, umso besser.

Freitag

Ich habe keine Zeit zu verlieren. 120 Minuten nach der Landung ist meine erste Reservierung geplant. Mein Hotel-Concierge-Team hatte diesem ambitionierten Vorhaben eigentlich einen Unmachbarkeitsstempel aufgedrückt, doch dank schneller Einreiseprozedur, Gepäckauslieferung und Abholung am Flughafen schaffe ich es mühelos, zuerst in meinem Hotel einzuchecken und dann weiter in ein anderes Hotel zu fahren, dem Mandarin Oriental. In dessen Restaurant Yong Yi Ting (ein Michelin-Stern) sitze ich kurz vor 14 Uhr überpünktlich am Tisch. Der erste Plan klappte also schon mal.

Im Yong Yi Ting wird Jiangnan-Küche serviert, einer von Chinas diversen kulinarischen Dialekten. Dieser Stil zeichnet sich dadurch aus, aromatisch subtiler und leichter zu sein als das z. B. bei der von Knoblauch und Chili dominierten Sichuan-Küche oder der auch außerhalb Chinas so populären kantonesischen Küche der Fall ist, die man meist serviert bekommt, wenn man „zum Chinesen“ geht.

Mein Mittagessen im Yong Yi Ting ist ein gelungener Einstieg in eine zweifellos vielfältige kulinarische Welt. Besonders ein Gericht mit Tofu hat mich hier beeindruckt. Tofu wird bei uns ja überwiegend von ovo-lacto-sonstwie-vegetarisch veranlagten Gutmenschen im Biomarkt gekauft und als Gewissensreiniger eingesetzt. Hier gelingt mit dieser Zutat, ganz ohne politische Konnotation, ein sehr spannendes Gericht. Auch die weiteren Speisen waren gut bis sehr gut, der aromatisch eher zurückhaltende Küchenstil war deutlich wahrnehmbar. (Alle Details im separaten Bericht.)

Am Abend habe ich eine Reservierung im Yi Long Court im Peninsula Hotel. Ein Wunder, dass ich dort überhaupt lebend ankomme, denn die Taxifahrten in Shanghai sind, milde formuliert, tollkühne Unterfangen. Spurwechsel erfolgen offenbar ordnungsgemäß ohne zu blinken, anschnallen kann man sich auch nicht, gefahren wird ein Affenzahn. Es gibt zwar immer einen Gurt, aber so gut wie nie einen entsprechenden Stecker. Die fehlende Sicherheit schlägt sich allerdings positiv auf den Preis nieder. Für umgerechnet 3 Euro kann man hier schon zwanzig Minuten in Adrenalin baden.

Unversehrt komme ich irgendwann im Peninsula Hotel an und finde mich im Restaurant ein. Im Yi Long Court serviert man kantonesische Küche, die mit zwei Michelin-Sternen ausgezeichnet ist. In kantonesischen Restaurants gibt es immer mehrere Speisekarten und häufig weit über hundert Gerichte. Inhaltliche Überschneidungen sind nicht nur zwischen den Restaurants groß, sondern sogar zwischen den Speisekarten desselben Restaurants. In letzterem Fall ist das dann meist ein Hinweis auf die Größe der Portionen, da sehr viele Gerichte zum Teilen gedacht sind.

Mit einiger Hilfe vom geduldigen Kellner gelingt mir irgendwann eine Auswahl. Hier lerne ich beachtliches Küchenwerk kennen und spannende Kombinationen von Zutaten und Aromen. Wer die hohe Bewertung der Küche nachvollziehen möchte, was mir bei einigen Gerichten gelingt, muss wichtigen Details Aufmerksamkeit schenken. (Alle Details im Bericht.)


Samstag

Der Effizienz wegen besuche ich an diesem Mittag zwei Restaurants, die sich direkt übereinander befinden. Ganz recht: übereinander, nämlich im vierten bzw. dritten Obergeschoss der IFC Mall, einem Luxus-Einkaufszentrum mit Boutiquen von Armani bis Zegna. Beide Restaurants sind mit einem Michelin-Stern ausgezeichnet.

Das erste Restaurant, Lei Garden, erschließt sich hinter einen Empfangstresen, an dem schon diverse Leute auf Einlass warten, in sehr große Räumlichkeiten. Im Eingangsbereich sind Plastikattrappen einiger besonders ausgefallener Speisen wie Fischblase ausgestellt. Man bekommt recht unwirsch mehrere Speisekarten auf den Tisch gelegt, diesmal eine in einem Klemmbrett mit Kästchen zum Ankreuzen, eine andere als großformatiges Buch mit seitenfüllenden Fotografien aufwändiger Gerichte.

Ich bestelle einige Dim Sum (die immer auch auf Englisch beschrieben sind), die man vom Wesen her auch bei uns bestellen kann, hier aber in der Ausführung erheblich besser sind. Das Erlebnis ist allerdings lange nicht so eine Offenbarung wie das beim ersten Happen Sushi der Fall ist, den man in Japan probiert. Ich spiele kurz mit dem Gedanken, Gerichte mit Schwalbennest oder Haifischflosse zu probieren, finde beide Vorstellungen jedoch aus unterschiedlichen Gründen abartig. Wer also an dieser Stelle Berichte über möglichst exotische Zutaten erwartet, den muss ich enttäuschen und auf die Sendungen von Anthony Bourdain verweisen; der isst solche Dinge am laufenden Band. (Hier die Details.)

Dass es gar nicht besonders schlau war, in dieser Gegend zwei Restaurants in unmittelbarer Nähe zu reservieren, merke ich dann beim Spaziergang durchs Viertel, das außer extrem hohen Bürotürmen mit spiegelnden Fassaden nicht viel zu bieten hat. Um den späteren Nachmittag dann noch sinnvoller nutzen zu können, kehre ich bereits nach kurzer Pause ins zweite Restaurant ein, dem Jade Mansion.

Dieses Restaurant ist deutlich gehobener. Meterlange Glasregale mit berühmten Bordeaux-Weinen zeigen einem den Weg zu den Speisesälen. Hier geht er also hin, der ganze gute Bordeaux …

Wegen des kurzen zeitlichen Abstands zum vorherigen Mahl habe ich kaum Appetit, möchte aber zumindest eine Speise probieren. Meine Wahl fällt auf ein Gericht mit Morcheln und Garnelen, bei dem mir besonders die kontrastreichen Aromen von Knoblauch und Chili gefallen. (Weitere Details im Bericht.)

Am Abend steht dann meine Reservierung im T’ang Court an, dem Restaurant, ohne dessen Auszeichnung mit drei Michelin-Sternen ich heute nicht in Shanghai wäre. Das Erlebnis hier ist äußerst skurril. Gegen 20 Uhr bin ich bereits fast der letzte Gast, um 20:30 Uhr beginnt man, um mich herum die Tischdecken abzuziehen, während ein mehrgängiges Degustationsmenü an mir abgespult wird. Der freundliche Kellner, der vorhin noch mein Ansprechpartner war, hat sich derweil auch schon in Luft aufgelöst.

Das Essen betreffend entdecke ich – trotz dieser unwirtlichen Atmosphäre – an vielen Stellen exzellentes Handwerk und präzise Geschmacksbilder. Ob ich die drei Sterne hier nachvollziehen kann, erzähle ich im separaten Bericht.

Eine abermals suizidale Taxifahrt später bin ich zurück im Hotel. Die Lichter der Stadt funkeln, aber der Zauber, der einen in New York oder Tokio einlullt und verführt, fehlt.


Sonntag

Um 11.30 Uhr habe ich eine Reservierung im Imperial Treasure, einem äußerst beliebten Restaurant mit kantonesischer Küche, die der Michelin mit zwei Sternen ausgezeichnet hat.

Der gigantische, fensterlose Speisesaal ist in milchig-grelles Licht getaucht, erneut gibt es mehrere Speisekarten, und auch hier dekorieren teure Bordeaux-Flaschen, die niemand trinkt, den Eingangsbereich. Ich bestelle drei Gerichte, von denen eines ganz gut ist, danach gehe ich spazieren. (Weitere Details im Bericht.)

Eigentlich hatte ich mit dem Gedanken gespielt, jetzt noch ins Canton 8 zu fahren, einem Restaurant, das seine Berühmtheit außerhalb Shanghais kürzlich dadurch erlangte, das günstigste Zwei-Sterne-Restaurant der Welt zu sein, weil dort einige Speisen im Bereich von ein bis zwei Euro angeboten werden. Doch solche Preise sind in den meisten Restaurants hier an der Tagesordnung. Im Imperial Treasure war das vorhin genauso. Doch auf eine Wiederholung des kantonesischen Programms ist mir nun auch die Lust vergangen.

Es ist daher wie eine Fügung, dass ich zufällig an dem italienischen Restaurant 8 ½ Otto e Mezzo Bombana vorbeilaufe, der dritten Filiale des besonders in Asien umtriebigen italienischen Gastronoms Umberto Bombana. Seine mit drei Michelin-Sternen ausgezeichnete Niederlassung in Hongkong hatte mich damals rigoros enttäuscht, was mich gerade nur noch mehr dazu animiert, hier spontan einzukehren.

Ich bekomme einen Tisch, und was eigentlich nur ein schneller Besuch werden sollte, wird ein ausgiebiger, kurzweiliger und absolut köstlicher Nachmittag. (Alle Details im Bericht.)

Früher als erwartet hat sich das kulinarische Thema des Tages damit in Richtung Europa verschoben. Am Abend habe ich eine Reservierung im L’Atelier de Joël Robuchon, worauf ich mich bereits seit Beginn der Reise freue. Wer schon mal in einem der Ateliers essen war, wird diese Begeisterung verstehen.

Als ich am Tresen sitze, den ersten Schluck Chassagne-Montrachet genieße und die Gastfreundschaft und Tischkultur so aufsauge wie ein trockener Schwamm, bin ich glücklich. Glücklich darüber, genau jetzt, genau hier an diesem Ort zu sein. Draußen auf dem Huangpu-Fluss fahren lautlos große Schiffe vorbei, die Skyline von Shanghai-Pudong leuchtet in allen Farben. Ich habe Gänsehaut. Für diese Momente, in denen einfach alles stimmt, lohnt sich jede Reise.