Forsthaus Strelitz – brutaler lokal

Etwas mehr als hundert Kilometer nördlich von Berlin steht ein Gasthof, von dem man derzeit immer häufiger hört, vor allem seitdem sich dort vor zwei Jahren ein Generationswechsel vollzogen hat.

Sohn Wenzel Pankratz, der in hochdekorierten Restaurants wie dem Facil und Schloss Schauenstein gelernt hat, hat hier inzwischen die Kochplatte übernommen, unter der Holz glimmt und keine Induktionsspule; seine Schwester kümmert sich um den Service und, zusammen mit Mutter und Bruder, um vieles weitere auf dem Gut.

Es gibt viel zu tun: hier wird beackert, angepflanzt, geerntet, geschlachtet, Holz gehackt, es werden Eier gesammelt, Schweine gefüttert und Gästezimmer hergerichtet. Letztere sind geschmackvoll, aber karg eingerichtet, sodass ich zunächst auch das Fehlen von Heizung und Seife als Teil des Konzepts begreife. Doch ich irre mich: hinter einem Wandspiegel finde ich sehr viel später einen Regler für die Fußbodenheizung. Seife gibt es trotzdem nicht.

Wer vor 18 Uhr hier auftaucht, kann einen Spaziergang in einem nahegelegenen Waldstück unternehmen und ein wenig das Gut erkunden. Hierfür sollte man sich aber eine Stulle eingepackt haben: Snacks gibt es auch auf Nachfrage nicht, dafür aber einen recht guten Crémant von der Domaine Pignier, der in einem kleinen Raum zusammen mit ein paar sauer eingelegten Sellerieknollen bereitsteht. Als Überbrückung bis zum Abendessen reicht das knapp.

Gegen 18:30 Uhr sitze ich dann inmitten eines quirligen Gewusels von Familien, die ihre Kinder nicht im Griff haben und mich davon abhalten, in der kleinen Weinkarte schon mal einen guten Tropfen auszuwählen. Doch auch ohne Ablenkung gelingt mir das nicht. Es gibt ausschließlich (sehr günstige) Naturweine. Ich bin der Verzweiflung nahe, bestelle eine Flasche Pinot Noir aus dem Elsass, die bei Cellartracker immerhin recht gut bewertet, aber im Glas dann eben doch nur eine trübe, saure Plörre ist. Die 30 Euro sind zu verkraften, ich bitte um eine Alternative, irgendetwas Vollmundiges, „Unnatürliches“, das zum Wetter und nicht zum Konzept passt. Es findet sich ein Amphorenwein aus Spanien als kleinster gemeinsamer Nenner. Da das Topfschlagen um mich herum immer noch nicht beendet ist, schnappe ich mir die Flasche und flüchte zurück aufs inzwischen schon etwas wärmere Zimmer. Zwei weitere Stunden halte ich jetzt auch noch aus.

Man hätte mir natürlich auch vorher schon mitteilen können, dass das Essen für Erwachsene erst gegen 20 Uhr und ohnehin in einem anderen Raum und an dem einladenden Hochtisch stattfindet.

Dann kann es losgehen. Das Menü führt sechs Gerichte auf, die mit neunundvierzig Euro für alles, was da eventuell kommen mag, günstig erscheinen.

Es gibt Leinsamenchips mit einer Steinpilzcreme und dem sauer eingelegten Sellerie, den ich schon von heute Nachmittag kenne. Chips und Creme sind handwerklich gut gemacht, geschmacklich dominieren bei dem Snack Säure und Bitterkeit – eine grundsätzliche Eigenschaft vieler nordischer Regionalküchen, von Kopenhagen bis Neustrelitz. — 6/10

Der nächste Gang sind ein paar Bärlauchblätter, die intensiv, aber nicht zu lauchig schmecken; Kaviar vom Hecht kommt mit einer leichten Süße und hält das Ganze im Zaum. Ganz in Ordnung. — 6/10

In Hinblick auf die Tatsache, dass vermutlich alle Gänge dem Konzept einer derartigen Schlichtheit folgen, stürze ich mich dankend auf die jetzt gereichte Scheibe selbstgebackenen Brots mit selbstgeschlagener Butter. Beides sehr gut.

Der nächsten Gang findet sich nicht im Menü: in Rapsessig marinierter Kohlrabi, der sich wie ein Bandwurm über den Teller windet. Das ist mir eindeutig zu karg und auch von einer puristischen Produktküche weit entfernt. — 5/10

Den nächsten Teller ziert eine einzelne Karotte, die ein Jahr konserviert und nun gegart wurde. Das Aroma ist kräftig und authentisch, leicht süßlich und sehr angenehm, die Textur weich, aber nicht zerkocht. Die Buttermilchcreme dazu ist kritisch, weil sie ein pelziges, adstringierendes Gefühl am Gaumen hinterlässt und das Geschmacksvermögen am Gaumen reduziert. Eine weitere karge Speise, die dennoch mit einem guten Produkt glänzt. — 6/10

Weiter geht’s mit einem kleinen Stück Hecht, dazu gibt es Kartoffelpüree und eine schaumige Buttersauce mit Rosmarin. Das klingt ansprechend, ist aber handwerklich misslungen, weil das Kartoffelpüree so klebrig ist wie Tapetenkleister – vermutlich hat man die Kartoffeln mit einem Pürierstab verarbeitet. Vom Hecht schmeckt man leider auch nicht viel. Das sind einfach zu viele Missgeschicke für einen akzeptablen Teller. — 5/10

Die Taube ersetze ich durch Kalbsherz, das hier dünn aufgeschnitten mit verschiedenen Teilen von Rosenkohl serviert wird. Auch dies ist in seinem Purismus kaum zu überbieten. Mir fehlt Salz und ein flüssiger oder cremiger Mitspieler. — 6/10

Ein Stück sehr saftiges, zartes Sattelschwein befriedigt dann ein bisschen das Bedürfnis nach einem süffigen Hauptgang, bitterer Grünkohl und ein bitteres Pulver weisen einen jedoch wieder in die Schranken. — 6,5/10

Ein Dessert mit Schafsmilch, Vogelbeere und Sonnenblumenwurzel ist süßlich genug, um es als Dessert wahrzunehmen, die (ungiftige) Vogelbeere steuert etwas Säure bei – für den, der die jetzt noch vermisst. — 6/10

Hungrig gehe ich ins Bett. Das Frühstück am nächsten Morgen ist exzellent und üppig, mit Wurst, Käse, Honig, alles selbstgemacht, alles sehr schmackhaft.

Man findet derzeit sehr viel Lob in Bezug auf dieses Restaurant. Zu Recht. Zur Ermutigung. Aber eben nicht, weil es sich hier um Deutschlands neues Fäviken Magasinet oder In de Wulf handelt. So etwas könnte es vielleicht einmal werden, wenn man denn wollte, und das ist die gute Nachricht, die man in diesem Zusammenhang nach außen tragen sollte. Wer hier schon wieder alles über den grünen Klee lobt, übt sich in der typisch deutschen Genügsamkeit, die dazu führt, dass man hierzulande überall mit Mittelmaß zufrieden ist.

Hier ist eine junge Generation gerade dabei, etwas Bemerkenswertes aufzubauen, das schon jetzt unverkennbare Parallelen zu ähnlich abgelegenen, mikroregionalen Restaurants mit Logis wie den eben genannten Vorreitern in Skandinavien oder Belgien aufzeigt. Doch bis man hier so weit ist, dass der erste Stern über dem Haus leuchtet und bis asiatische World’s-50-Best-Foodies das Reservierungssystem überlasten, muss noch einiges passieren. Vielleicht möchte man das alles gar nicht, könnte man erwidern, doch das wäre unglaubwürdig. Man ist ja schon mitten dabei. Ich glaube, man hat hier das Zeug dazu. Es bleibt spannend in Neustrelitz.

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: Forsthaus Strelitz (→ Website)
Chef de Cuisine: Wenzel Pankratz
Ort: Neustrelitz, Deutschland
Datum dieses Besuchs: 14.04.2017
Guide Michelin (D 2017):
Meine Bewertung dieses Essens 6 (Was bedeutet das?)
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