Quince ‒ mit magischen Kräften

Als ich an diesem frühen Dienstagmorgen aufstehe, freue ich mich bereits auf den Abend, auch, wenn der noch in sehr weiter Ferne liegt. Ich habe um 19.30 Uhr eine Reservierung im Quince in San Francisco, aber zum jetzigen Zeitpunkt ist das noch knapp zehntausend Kilometer weit entfernt.

Ich habe Appetit auf Neues ‒ die Küche des Quince wurde erst in der letzten Michelin-Ausgabe für San Francisco mit drei Sternen ausgezeichnet und ist mir noch unbekannt ‒, habe Appetit auf italienisch inspiriertes Essen ‒ Küchenchef Michael Tusk hat hierin seine Berufung gefunden ‒, und überhaupt habe ich Appetit auf US-amerikanische Gastronomie. Viele Restaurants bei unseren Freunden überm Teich zählen für mich zu den einladendsten und eindrucksvollsten in der westlichen Welt. Dabei sind es keinesfalls nur die Sterne, die mich locken. Es ist das Gesamtpaket eines modernen Verständnisses von Gastronomie, das mir immer eine Reise wert ist.

Als ich fünfundzwanzig Stunden nach dem Klingeln meines Weckers endlich am Quince ankomme, bin ich zwar spürbar vom Jetlag umnebelt, aber dennoch hungrig und wach. Ein Glas Krug-Champagner, den man hier zur Begrüßung einschenkt, ist genau der richtige Auftakt und bereits ein kleines Detail, das die gesamten Flugstrapazen belohnt. Dabei geht es mir nicht nur um den Champagner an sich, sondern um den eigentlich so naheliegenden Gedanken, dass man in einem Spitzenrestaurant auch einfach mal mit einem Spitzengetränk begrüßt werden kann.

Wer heutzutage noch in einem modernen Restaurant einen Aperitifwagen mit Standardchampagnern an den Tisch karrt, hat einfach den Schuss nicht gehört. Allein schon die Konfrontation mit der ohnehin stets völlig überteuerten Auswahl von Champagnern verschiedener Güte ist oft nichts anderes als ein lästiger Einstieg in einen eigentlich entspannten und sorgenfreien Abend. Eine gute Spitzengastronomie kalkuliert so etwas idealerweise in ihre Preise ein, inklusive Nachschenken.

Während meine kulinarische Entscheidung dann langsam, aber sicher in Richtung des „Quince“-Menüs tendiert (ca. € 211), gelangen die ersten Snacks an den Tisch.

Es gibt eine geschmacklich exzellente Kugel von Wassermelone mit Balsamessig; eine etwas trockene Halbkugel aus einer Masse, die wie Blumenkohl schmeckt, mit frittierter Kürbisblüte; sowie einen sehr fein gearbeiteten Plankton-Kräcker mit Sardelle. Nicht spektakulär, aber ziemlich gut. (7,9/10)

Zu einer Erbsensuppe mit spannenden floralen Aromen gibt es am Tellerrand ein paar einzelne, jeweils frittierte, Erbsen mit unterschiedlichen aromatischen Mitspielern, z. B. Meyer-Zitrone. Das Geschmacksbild der Suppe ist frisch und blumig, die einzelnen kleinen Erbsen am Rand wirken zwar etwas mickrig, aber in Summe gefällt mir auch dieser Auftakt sehr. (7,9/10)

Es folgen Gougères, die von einem etwas dünneren Teig und einer flüssigeren Käsefüllung noch profitieren könnten (6,9/10). Ein weiterer kugelförmiger Snack mit Iberico-Schinken ist ebenfalls kaum der Rede wert (6/10). Beides eher entbehrlich.

Für den ersten Gang des Menüs gibt es junge Kartoffeln in einer geschmacklich sehr ansprechenden Kombination. Zu den goldbraun gerösteten, ideal gesalzenen Kartoffeln gibt es verschiedene Kräuter, u. a. Austernblatt und, als Brücke dazu, das geschmackliche Pendant aus dem Meer: eine tatsächliche Auster. Sie ist pochiert, schmeckt angenehm – und leicht süßlich – nach Meer und lockert diesen puristischen Teller etwas auf. Ungünstig ist die Form des Tellers an sich, bei der es durch viele Mulden und Erhebungen kaum möglich ist, die Zutaten miteinander zu kombinieren. Dennoch handelt es sich um ein spannendes, sehr ansprechendes Gericht mit hochwertigen Zutaten und präzisem Handwerk. (8/10)

Es folgt „Tsar Nicoulai-Kaviar, serviert auf einer Maiscreme; Australische Fingerlimette (finger lime) und Kokos sorgen dazu für äußerst geschmackvolle Akzente. Die Süße vom Mais gibt hier naturgemäß den Ton an, aber durch den Kaviar und die Zitrusfrucht wird diese gekonnt ausbalanciert. Für einen Aufschlag von umgerechnet € 72 hätte es hier noch eine Option mit goldenem Ossietra-Kaviar gegeben. Für wen? (8,9/10)

Summertime in Bolinas“ ist der Titel des nächsten Gerichts, das mit dieser Prosa von den ansonsten nur nach ihrer Hauptzutat benannten Gerichten abweicht. Dieses Gericht präsentiert verschiedene pflanzliche Zutaten aus der Region. Kühle Frische, etwas Säure, viel Sonne und strotzende Aromen findet man in diesem feinsinnigen Teller wieder, der deutlich beeindruckender ist als jeder extra bezahlte Kaviar. (9/10)

Weiter geht das bisher recht unitalienische Menü mit Herzmuschel aus Washington State. Das Muschelfleisch ist in einem kalten Gurkensud angerichtet, man trifft dort noch auf weitere Zitrusaromen und etwas anspruchsvolle, an Gin erinnernde, Bitterkeit. Ein begeisterndes, leichtes Sommergericht. (8,9/10)

Zu einem Stück in Sojasauce mariniertem Lachs gibt es Avocado, Kapuzinerkresse und Pfifferlinge. Dieses Gericht leidet etwas unter einem tranig-fischigen Geschmackseindruck des Lachses und einer allzu homogenen, zimmerwarmen Temperatur. Nicht schlecht, aber in diesem Kontext kein Glanzstück. (6,9/10)

Doch was ist schon ein kleiner Tiefpunkt, wenn ein Gericht wie dieses folgt. Auf einem mit einem Hummer bemalten Teller im 70er-Jahre-Stil gibt es Garganelli, eine Nudelart aus Eierteig, behutsam per Hand hergestellt und perfekt gegart. Dazu gibt es Hummer in Scheiben, einen intensiv aromatischen, aufgeschäumten Krustentierschaum, Schalotten und verschiedene Kräuter und Blüten. Das Gericht duftet nach Zwiebeln und gerösteten Krustentierkarkassen. Er schmeckt herzhaft, salzig und jodig, ist leicht und doch gehaltvoll, sämtliche Anreisestrapazen lösen sich in Luft auf. Das ist nichts weniger als ein perfekter, ganz glücklich machender Teller. (10/10)

Es folgt Abalone mit Spargelsalat (celtuce), grünen Tomaten und brauner Butter. Das klassische, buttrig-röstige Geschmacksbild gefällt, und die Tomaten bringen etwas Frische mit ins Spiel. Dennoch fehlt mir bei diesem Teller, wenn auch auf hohem Niveau, etwas Außergewöhnliches. (7,9/10)

Pasta ist ganz offensichtlich eine der großen Stärken dieser Küche. Tortelli mit schwarzem Trüffel, Steinpilz und Brennnessel in verschiedenen Zubereitungen sind beim folgenden Gang grandios. Etwas kleinere Pasta à part begeistert ebenfalls durch eine unwiderstehliche Kombination von Trüffel, Salz und Parmesan. Unspektakuläre Optik, beachtliches Handwerk und absoluter Wohlgeschmack dominieren diesen ausgewogenen Gang. (9/10)

Wer meinen Blog länger verfolgt wird eine meiner wenigen Abneigungen gegen bestimmte Zutaten kennen, nämlich Taube (oder überhaupt unfertig gegartes Geflügel). Grund hierfür ist in erster Linie, Infektionsgefahren durch Bakterien wie Campylobacter oder Salmonellen aus dem Weg zu gehen, die auch in sehr vielen Tieren allerbester Qualitäten von Natur aus vorkommen. Auch der metallische Geschmack von Taube liegt mir nicht besonders. Da Taube im Menü nicht aufgeführt war, habe ich diese Abneigung nicht erwähnt, und so kommt es nun zu dem kuriosen Zufall, dass mir ein prächtiger Teller mit Taube als Überraschungsgang serviert wird. Diese Geste ist so höflich und der Teller so ansprechend, dass ich das Gericht natürlich nicht ablehnen kann.

Ein großes, sehr rosa gegartes Stück Brustfilet ‒ gefüllt mit Trüffel ‒ liegt in einem Trüffeljus und ist umrandet von kleinen, tournierten Gemüsen wie Mais, Kirschen, Rhabarber und Zucchini. Der halbe, vollständig gegarte Kopf der Taube liegt ebenso auf dem Teller wie ihr Herz. Bis auf den Großteil des Filets probiere ich alles und kann dabei nur feststellen, wie fantastisch dieser Gang ist. Die Gemüse, die mit Mais und Kirschen eine angenehme, zurückhaltende Süße mitbringen, der Trüffel, der das Gericht in eine klassische (französische) Richtung manövriert, und die Taube an sich, deren Qualität ich trotz meiner Abneigung mühelos feststellen kann, sind absolut beeindruckend. Es ist damit wohl das erste Gericht, das ich so hoch bewerte, aber weder von Herzen genieße noch vollständig aufesse. (9/10)

Es geht weiter mit Milchlamm, durchaus eher mein Fall. Das Stück vom Karree ist von überragender Qualität und wird in einem leichten Kontext präsentiert. Favabohnen, unterschiedliche Komponenten mit Frühlingszwiebel sowie einige aromatische Saucen und Pürees, u. a. mit Minze und Olive, bieten viele Kombinationsmöglichkeiten, von denen alle hervorragend sind. (9/10)

Ein Pré-Dessert mit Blaubeere, Kamille, Lambrusco und der Zitrusfrucht Sudachi ist süß, kühl, erfrischend und ein ganz wunderbarer Dessertspaß. (8/10)

Eine Kreation mit Erdbeere, einem Pudding aus „geräuchertem Karamell“, Baiser und Schokoladenkrümeln ist mir zu rauchig (6,9/10); einige Mignardises vom reichlich bestückten Dessertwagen sind auch nicht viel besser (6,9/10).

Von den inzwischen drei Drei-Sterne-Restaurants in San Francisco ist das Quince sicherlich nicht das spektakulärste – allen voran ist hier zweifellos das Saison zu nennen ‒, doch es war ein Essen mit deutlichen Höhen, vor allem, wenn es erkennbar italienisch wurde. Der Sommelier schenkt mir noch ein Glas Fernet-Branca aus den Siebzigerjahren ein, und ob es dessen magischen Kräften oder dem schon fast dreißig Stunden langen Tag zu verdanken ist, dass mir bei meiner Nachtruhe kein Jetlag mehr in die Quere kommt, weiß ich nicht. Buona notte.

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: Quince (→ Website)
Chef de Cuisine: Michael Tusk
Ort: San Francisco, USA
Datum dieses Besuchs: 25.07.2017
Guide Michelin (SFO/Bay Area 2017): ***
Meine Bewertung dieses Essens 8,5 (Was bedeutet das?)
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