Manresa ‒ in bester Gesellschaft

Eine Autostunde südlich von San Francisco fährt man vorbei an den Heimatorten der Tech-Giganten in Mountain View, Menlo Park und Cupertino, vorbei an der berühmten Stanford-Universität, und kann dann, wenn man will, in dem überschaubaren Städtchen Los Gatos ankommen.

In Los Gatos („die Katzen“) verbringt man einen sicheren, geordneten und unaufgeregten Lebensabend, mit Friseursalons für Hunde, Geschäften mit mittelamerikanischem Folklorekitsch und allem, was man sonst noch so benötigt, um seinen Wohnort idyllisch, ruhig und gepflegt zu nennen.

Das Restaurant Manresa wurde 2002 vom Inhaber und Küchenchef David Kinch eröffnet. 2014 zerstörte ein Feuer die gesamte Küche des damaligen Zwei-Sterne-Hauses. In einer Situation, in der ein Gastronom eigentlich nur an den Ruin denken kann, kocht sich Kinch aus der brenzligen Situation heraus, tut dies „mit mehr Tiefe, Eleganz und Kreativität“ als zuvor, so Michelin-Chef Michael Ellis damals, und erkocht für das Haus einen dritten Stern, den das Haus seitdem dekoriert.

Als ich mir vor dem Platznehmen noch schnell die Hände waschen gehe, entdecke ich an der Wand im Waschraum eingerahmte Speisekarten aus den weltbesten Restaurants: L’Ambroisie, Troisgros, El Bulli, Kitcho Arashiyama … Es wirkt fast so als zählte sich Kinch nicht zu dieser Liga, dabei gehört er offiziell selbst dazu. Die Bescheidenheit, die von diesem Gedanken ausgeht, und der Respekt vor den vielen großartigen Kollegen aus aller Welt finde ich bemerkenswert.

Im Interieur des Restaurants herrscht diese unverwechselbare, durchaus austauschbare, aber angenehme amerikanische Fine-Dining-Atmosphäre. Welche Parameter es genau sind, die das Ambiente so typisch amerikanisch machen, kann ich gar nicht so genau ausmachen. Bauteile aus Kirschholz gehören in diesem Fall genauso dazu wie große Blumengestecke und der angenehm klimatisierte Raum.

Wie auch schon gestern im Quince gibt es auch hier genau einen Champagner zur Auswahl, auch hier ist es Krug. Das Glas steht später mit fünfzig Dollar auf der Rechnung (ca. € 43), aber man kann ja auch ablehnen. Mir war nach einer Zusage.

Das Chef’s Menu, für das ich mich entscheide (ca. € 217), beginnt mit einem süßlich-weihnachtlichen Cracker mit gerösteten Nüssen und Müsli, sowie einer Madeleine mit schwarzer Olive, und einem Paprikagelee-Würfel. Alles ist ausgezeichnet, und obwohl die leichte Süße, die allen Kreationen innewohnt, zunächst einen Hauch irritiert, schärft sie bei genauerer Betrachtung die Sinne, weil man Süße zum Aperitif nicht erwartet und hier erst einmal „aufhorcht“. (8/10)

Es folgt ein warmes, halbes Artischockenherz, welches man in Romesco tunkt, eine leicht pikante Sauce auf der Basis von Tomate und Paprika, die an Gazpacho erinnert und außergewöhnlich gut abgeschmeckt ist. Der kühle Schmelz ist ein perfekter Mitspieler zur Artischocke und macht diese kleine Speise zu einer ganz großen Freude. (9/10)

Für das nächste Amuse-Bouche wurde eine Stück Wittling frittiert – japanisch präzise ‒, das mit einer Erdbeer-Puttanesca serviert wird. Wie auch immer Küchenchef Kinch zu dieser Eingebung gelangt ist (Fisch mit Erdbeer-Tomatensauce), ist diese nicht nur dramaturgisch absolut stimmig zu den vorherigen Geschmacksbildern, sondern in erster Linie ein gustatorisches Fest allererster Güte. (9/10)

Als weiteres Amuse-Bouche folgt ein mit warmem Eigelb gefülltes Ei mit einer intensiv geräucherten Creme sowie Öl aus Löwenzahn. Exzellent, aber, auf hohem Niveau, etwas zu rauchig und zu bitter. (7,5/10)

Der erste Gang des Menüs ist ein Meerbrassen-Sashimi in einer Kombination mit Olivenöl, Schnittlauch und Radieschen. Hier trifft das Mittelmeer auf Japan, ein für die kalifornische Küche typisches Potpourri von Einflüssen. Der hier absichtlich lauwarm servierte Fisch hätte mir etwas kühler vermutlich noch eine Nuance besser gefallen, doch das Gericht ist umwerfend gut. Ich genieße es in solchen Momenten in vollen Zügen, eine so weite Reise unternommen zu haben. (9/10)

Der folgende Gang bekräftigt diese Empfindung nur. Es gibt Seeigel aus Hokkaido mit kühlem Bouillabaisse-Gelee und Shishito-Paprika-Rouille. Noch mal: Seeigel, Bouillabaisse, Rouille. Auch hier treffen Mittelmeer und Pazifikküsten aufeinander, das Gericht duftet „medizinisch jodig“, was in diesem Kontext ungemein appetitanregend ist, und schmeckt nach Frische und Brandung. Wohlgeschmack flutet den Gaumen, ich atme tief durch, schließe die Augen und löffle alles aus, Gramm für Gramm. (10/10)

Ein Gartensalat wird als nächster Gang aufgetischt. Die Parallele eines solchen Tellers an Michel Bras’ Gargouillou ist offenkundig, aber hier fernab von einer Imitation. Eine Pimientos-de-Padrón-Schote wird vom Kellner mit dem Hinweis versehen, dass der Legende nach eine von zehn Schoten scharf sei. Ich kontere, dass das nie so sei ‒ und werde eines Besseren belehrt als ich in die Schote beiße. Eine prononcierte Schärfe macht sich breit, und ich wage zu bezweifeln, dass das Zufall ist. Eine separat servierte kühlende Kräutermilch sowie etwas Ziegenkäse stehen bei dem Gericht bereit wie die Feuerwehr. Hat sich das Feuer gelegt, was nicht lange dauert, kommen florale Noten zum Vorschein sowie Frische und Chlorophyll. Ein großartiges Gericht zwischen Kraft und Leichtigkeit. (9/10)

Ein Stück vom Wolfsbarsch folgt als nächster Streich. Der Fisch ist von phänomenaler Qualität, behutsam pochiert und saftig. Er liegt in einer Sauce mit Mais, deren prinzipiell kritische Süße mittels Champagneressig und Kaviar genial ausbalanciert wird. Zucchini und Mais passen zu diesem weiteren exzellenten Gericht perfekt. (9/10)

Die behagliche Atmosphäre und das großartige Essen brennen sich ein, je länger ich hier sitze. Ich bin tausende Kilometer weit entfernt von „Straßentellern“ und Anricht-Irrsinn, so nah an großartigen Zutaten und Genuss. Dafür reise ich, dafür teile ich hier diese Erlebnisse!

Der Weinservice ist nicht ganz so flüssig. Ich hatte jeweils eine halbe Flasche 2014 Kistler Chardonnay „Vine Hill“ (ca. € 77) sowie einen 2011 Kosta Browne Pinot Noir (ca. € 105) bestellt, musste beim Weißwein von einem unpassend schlanken Schott-Zwiesel-Glas auf ein breiteres von Riedel umsteigen sowie beim Rotwein um Kühlung bitten. Alles kein Beinbruch, aber seltsam, wenn ein Sommelier diese wesentlichen Standardaufgaben nicht gemeistert bekommt.

Es geht weiter mit Abalone aus der Monterey Bay, überglänzt und umhüllt mit einer Sauce („Gumbo“) ihrer Leber. Gumbo bezeichnet eine Sauce aus der US-Südstaatenküche, bei der eine dunkle Mehlschwitze (Roux) die Grundlage für Bindung und nussigen Geschmack bildet. Die Abalone selbst ist von einer bemerkenswerten Qualität; ich ziehe die Exemplare in Nordamerika oft denen aus Japan vor. Die Abalone bildet eine grandiose Grundlage für die herzhafte, dickliche Sauce, der durch viel frisches Gemüse wie Gurke und Schnittlauch jegliche Schwere genommen wird. Auf japanischem Sushi-Großmeister-Niveau gekochter Klebereis ist schon ganz pur genossen ein Erlebnis, mit den Resten der Sauce jedoch das Tüpfelchen auf dem I dieses außergewöhnlichen Gerichts. (10/10)

Umami, Sonne, Frische, Wohlgeschmack, Kühle, Regionalität, Qualität, Handwerk und technische Präzision: all assoziiere ich mit dem nächsten Gang, der mit Ingwer „parfümierte“ gelbe Tomate mit einer Bouillon aus Schwein und Sardellen kombiniert. Etwas Rosmarin dazu rüttelt wach und macht auch diesen Teller zu einem kleinen Meisterwerk. (10/10)

Ich tue mich ja wirklich schwer mit rosa gegartem Geflügel, aber die gegrillte Ente, von der auf dem nächsten Teller einfach nur zwei Scheiben mit einem fantastischen Jus mit etwas Kardamom und herrlich aromatischem Pfeffer serviert werden, ist die beste Ente, die ich je probiert habe. Das gilt sogar, obwohl es sich etwas kurios anfühlt, von dem Jeff-Koons-Teller zu essen, der Michael Jackson mit seinem Affen zeigt. Zusätzlich zu dieser hervorragenden aromatischen Ente mit Röstnoten und zartem Fleisch gibt es Mitspieler wie Pflaume („Andy’s Plums“) ganz fein geschnittene Scheiben säuerlich frischer Birne sowie Zwiebeln mit einer Art Minz-Pesto. Diese Minze ist traumhaft, für sich allein, und noch viel mehr in der Kombination mit dem Geflügel. Wohlschmeckend, skurril, grandios. (10/10)

Geflügel kann man hier. Ein Stück Perlhuhnbrust ist beim folgenden Gang wunderbar aromatisch und sehr saftig. Die hauchdünne knusprige Kruste kommt mit ansprechend viel Salz und etwas Fett. Kleine Rübchen, Oliventapenade und weitere kleine, aber auffällig stimmige Akzente machen auch diesen Gang zu einem der besten Gerichte, die ich je gegessen habe. Die Authentizität aller Komponenten begeistert mich besonders. Großartige Küche braucht nicht viel, außer viel Verzicht. (10/10)

Nach diesem starken Auftritt, der mich auch emotional aufgeheizt hat, sorgt eine Eisspeise mit Joghurt, Honig und Sauerampfer für einen kühlen Kopf. Knusprig geröstetes, karamellisiertes Getreide, sowie Nüsse, sind „laut“ beim Draufbeißen und machen wach. Sehr gut, aber auch sehr kalt und von geradezu „nordischer Bitterkeit“. (8/10)

Kandierte Aprikose, Nussbutterkrumen, Vanille und Bayerische Creme mit Thymian und Zitrone bilden die süßen Grundlagen eines glücklich machenden Desserts, das erheblich unspektakulärer aussieht als es schmeckt. Heiß und kalt, Vanille und Honig, und über allem diese wundervoll aromatische Aprikose: besser kann ein Dessert nicht sein, nur anders. (10/10)

Ein handwerklich etwas komplexeres Arrangement mit Schokoladensorbet, Kirsche und Karamell ist in jeder Hinsicht extrem. Extrem süß, extrem kirschig, extrem gut. Etwas zu extrem, vielleicht, aber bei all der Finesse des Menüs darf man auch mal einen solchen Akzent setzen. (8,9/10)

Die Mignardises schließen den Kreis zu den Aperitifsnacks, nun aber deutlich süßer, u. a. mit einem abermals hervorragenden Geleewürfel mit Erdbeere. Die anderen Pralinen sind sehr gut, aber nicht überragend. Im Schnitt 8/10.

Mit phänomenalem Geflügel, beispiellos frischen Produkten und großartigen, authentischen Aromen brennt sich dieses Essen tief in mein Gedächtnis ein. Die höchste Bewertung, die ich diesem Essen in Summe nur attestieren kann, „flackerte“ manchmal etwas, aber allein die Häufigkeit der vielen unvergesslich großartigen Gerichte lässt mir gar keine Wahl.

Es gibt keinen Grund für Bescheidenheit. Man sollte David Kinchs Speisekarte einrahmen und zu den anderen hängen. Sie hingen dort weiterhin in bester Gesellschaft.

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: Manresa (→ Website)
Chef de Cuisine: David Kinch
Ort: Los Gatos, USA
Datum dieses Besuchs: 26.07.2017
Guide Michelin (SFO/Bay Area 2017): ***
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