Bois Giroult ‒ im Gemüsegarten von Alain Passard

Alain Passard ist ein verträumter, charismatischer Küchengott in Weiß, den man irgendwie nicht greifen kann. Wenn man mit ihm spricht, wirkt es immer so, als holte man ihn aus einer anderen Welt zurück. So, als würde er an etwas ganz anderes denken und etwas anderes sehen als wir alle.

„Tu te régales?“ („Lässt du’s dir schmecken?“) fragt mich Passard, als ich kurz aufstehe, um ihm beim Kochen zuzusehen, aber als ich Sekunden später die Antwort zusammenhabe, ist er schon wieder woanders. Sein Arm ist noch auf meiner Schulter, aber seine Gedanken und sein Blick sind bei ein paar Tomaten, die auf einem riesigen gusseisernen Herd auf kleiner Flamme neben Thymianzweigen dahinschmelzen.

Ich bin auf Alain Passards Anwesen „Bois Giroult“ in Buis-sur-Damville in der Haute-Normandie. Das Gut umfasst mehrere Gebäude und einige Hektar Land. 450 Gemüsesorten lässt Passard hier anbauen, zwei bis drei pro Gattung. Der Geschmack der Karotten sei hier ein ganz anderer als der von den Karotten seines anderen Gartens „Gros-Chesnay“, sechzig Kilometer weiter westlich von hier, erklärt sein Gärtner. Das gilt natürlich nicht nur für die Karotten, sondern für alle Gemüse, die Alain Passard hier kultiviert und in seinem Pariser Drei-Sterne-Restaurant auftischt.

Als richtiger Stammgast im Arpège darf sich daher vermutlich erst derjenige bezeichnen, der die Herkunft der Zwiebeln des Zwiebelgratins einwandfrei identifizieren kann. Ich war erst zwei Mal in seinem Restaurant, fand als Produktliebhaber beide Essen zwangsweise hervorragend, aber einige Fragezeichen blieben. Es könnte, etwas überspitzt, hinter Fragen stehen wie: Das war es jetzt? Deswegen ist er so berühmt? Drei Sterne und 400 Euro für ein paar Gemüse?

Abschließende Antworten auf diese Fragen suche ich sprichwörtlich bis heute, an diesem etwas regnerischen Tag im August. Essbegeisterte Freunde, die Passard nahestehen, haben dieses außergewöhnliche Ereignis ins Leben gerufen. Knapp über zwanzig Gäste sind angereist. Alain macht das nicht zum ersten Mal, das Haus ist optimal auf den Ansturm von Essverrückten aus aller Welt vorbereitet. Jeder ist nur deshalb hier. Ich treffe Genussmenschen aus New York, Kopenhagen, London, Dubai, Tokio, einige davon wieder; mit vielen tausche ich mich regelmäßig im Internet aus. Der Kreis an „Foodies“ ist klein, man trifft sich in den Metropolen der Welt, begeistert sich für dieselben Dinge. Getupfte Teller mit zig Mikrokomponenten zählen übrigens nicht dazu. Jeder hier am Tisch ist Produktfanatiker bis ins Mark.

So begeistert man sich hier zum Beispiel für die Kisten mit prachtvollen Zutaten (Tomaten, Sellerie, Kräuter, Hummer!), über die traumhafte Feuerstelle aus Edelstahl und Ziegelstein, bei der sich hinten rechts gerade ein saftiger Braten ausruht. Es brutzelt, es duftet, alles beglückt Nase und Auge. Ich habe ja schon öfter das Schlaraffenland als Vergleich bei einem Restaurant herangezogen. Aber das hier ist kein Restaurant. Wir sind mitten auf dem Land, umgeben von großartigen Produkten.

Aus diesen ‒ und mit einer großen Prise geistreicher kulinarischer Kreativität ‒ entwirft Passard in den kommenden Stunden ein beeindruckendes Menü.

Es beginnt mit etwas Gemüse-Hummus aus Basilikum mit Himbeercreme und violetter Blumenkohl. Jede Zutat schmeckt intensiv, authentisch und befreit von Ballast. Schon dieser kleine Auftakt ist wunderbar. (8/10)

Ein „heiß-kaltes“ Ei, gefüllt mit einer (etwas zu) flüssigen Kombination von Eigelb, Petersiliencreme und Yuzu bereitet weitere, etwas gemäßigte, Freude. (7/10)

Es geht weiter mit einem ganzen Gemüsebeet auf dem Teller. Man findet dort hauchdünne Gurkenscheiben, kleine Brokkoliröschen, Beten, gelbe und orange Karotten, eine Erdbeere, Blüten und Kräuter. So extrem puristisch wie das klingt, ist dieses Gericht vollkommen. Jede einzelne dieser Zutaten springt einem aromatisch mitten ins Gesicht. Die Aromen wirken regelrecht überzeichnet. „Normale“ Gemüse duften nicht so und schmecken nicht so. Oder ist alles andere vielleicht unnormal? (10/10)

Eine Platte mit dünn aufgeschnittenen Ochsenherztomaten wird zwischendurch um den Tisch gereicht. Bestes Olivenöl ergänzt diesen schlichten, aber denkwürdigen Teller ‒ ein Klassiker von Passard ‒, dem ich nichts anderes als meine Höchstnote für unverarbeitet servierte Produkte attestieren kann. (8/10)

Sensationell ist auch das folgende Gazpacho aus gelben Tomaten. Umami ist der Geschmack der Stunde, und hier ist er ganz konzentriert. Alle Rezeptoren für Glutaminsäure feuern im Akkord und melden meinem Genusszentrum im Hirn fleischigen Wohlgeschmack. Ein paar Frühlingszwiebeln kommen mit einer knackigen Frische zu Wort, und eine Nocke geeister Sahne mit körnigem Senf macht aus dem schlichten Gang ein raffiniertes Meisterwerk, das sich hinter einer eher belanglosen Optik ‒ wie bei einer nichtssagenden Vorspeise aus einer Bankett-Küche ‒ versteckt. Wie sehr die äußeren Werte täuschen können! (9/10)

Ein Stück Nigiri-Sushi mit Roter Bete und Geranienöl ist der nächste Streich. Ich kenne diese Zubereitung bereits aus Passards Restaurant, aber das heutige Stück ist noch besser. Das shari (der Reis) ist auf japanischem Niveau, mit perfekter Balance zwischen Klebrigkeit und Luftigkeit. Etwas Säure, florale Aromen eines Blütenblatts und das hocharomatische Öl vollenden diesen Gang, der sich handwerklich mit den besten Nigiris Japans messen kann. (10/10)

Auch der nächste Teller ist auf rätselhafte Art und Weise großartig. Rätselhaft deshalb, weil einem die Zutaten auf den ersten Blick so gewöhnlich vorkommen. Gurke, gelbe Zucchini, Erdbeere, Mozzarella. Aber wie das leuchtet! Und dieser Duft: nach frischer Gurke, Rosenblättern, Pfeffer und Basilikum. Allein dieses Bouquet ist zum Augenschließen. Wäre da nicht dieser plumpe Mozzarella, wäre das eine weitere Höchstnote. (8,9/10)

Ein Rote-Bete-Tartar, begleitet von hauseigenem Senf, Tomate, Gurke und Kräutern fällt etwas bescheidener aus, wenngleich auch dieser Teller durch die cremige Textur des süßlich-herzhaften Tartars in Kombination mit dem Senf und der Frische der weiteren Gemüse ein Genuss ist. (7/10)

Bretonischer Hummer kommt ganz aus der Nähe von den Chausey-Inseln und wird ganz schlicht mit Olivenöl und etwas Estragon serviert. So sehr ich mir, allein der Textur wegen, etwas Salz zum Darübersprenkeln wünsche, ist das eine eindrucksvolle Produktdarbietung mit einem perfekt zubereiteten Hummer allererster Güte. (8/10)

Der zehnte Gang ist eine Tomatenessenz, darin zwei gefüllte Teigtaschen, eine mit Tomate, die andere mit Aubergine, Pinienkernen und Rosmarin ‒ all das schmecke ich zumindest ganz klar heraus. Auch dies ist hervorragend! (8/10)

Pure Schlichtheit auch beim nächsten Gang: gegrillter Steinbutt, Olivenöl, geschmolzene Tomaten, alles abermals in außergewöhnlichen Qualitäten. (8/10)

Eines der unvergesslichsten Gerichte dieses Essens folgt, und es ist nicht einfach, die Großartigkeit dieses so simpel anmutenden Tellers in Worte zu fassen. Es geht um ganz einfach gegarte Kartoffeln. Sie sind geviertelt und liegen auf einer Estragoncreme, dazu gibt es noch mehr Estragon sowie Frühlingszwiebeln und Blüten ‒ kein Salz! Als ich die Kartoffeln probiere, wird mir bewusst, dass ich so feine Kartoffeln mit einem so außergewöhnlichen Aroma noch nie probiert habe. Sie sind mild nussig und haben eine angenehme, saftige Textur wie bissfeste Pasta. Zusammen mit den frischen, leicht pikanten Aromen der Kräuter erzeugt das Gericht bei mir sommerliche Assoziationen; klare, aber traumartige Bilder von lauen Abenden irgendwo in Frankreich … — 10/10

Auberginenkaviar, das weiche Innere der Beerenfrucht, wird beim folgenden Gang mit etwas Schnittlauch und einer weiteren Komponente serviert, die ich nicht notiert habe. Insgesamt etwas weniger beeindruckend. (6,9/10)

Eine Schüssel makelloser Miesmuscheln überbrückt genussvoll die Zeit zum nächsten Gang. (8/10)

Huhn, dessen Herkunft ich im Eifer des Festessens nicht mitbekommen habe, ist der saftige, schmackhafte Hauptdarsteller des nächsten Gangs, bei dem die Qualität und Garung überragend ist, die violetten Kartoffeln jedoch zu hart. Wen kümmert’s bei diesem Essen? (7,5/10)

Drei Stunden nach dem ersten Gang folgt noch ein Stück Kalbskarree bester Qualität mit ein paar geschmolzenen Tomaten. (8/10)

Ich hätte diesen Gang gar nicht mehr essen dürfen. Google Maps zeigt mir eine äußerst pessimistische Fahrtdauer für meinen Rückweg nach Roissy an. Meine Maschine verpasse ich nur deshalb nicht, weil sie fast vierzig Minuten verspätet ist.

Alain Passards Küche hat mich zutiefst beeindruckt. Je länger ich mich für gute Küche interessiere, je weiter ich reise und je mehr ich probiere, umso klarer lassen sich meine Präferenzen formulieren. Der Anspruch an Qualität und Authentizität steigt, während das Bedürfnis nach Ablenkung davon sich nahezu komplett zurückgezogen hat. Und Passard schafft es, aus den scheinbar einfachsten Zutaten himmlische Gerichte zu kreieren. Dabei bestimmt die Natur eigentlich viel mehr als er selbst, was auf den Teller kommt. Oft lässt Passard die Zutaten einfach nur für sich sprechen. Das ist dann zwar simpel, aber überaus eindrucksvoll, immer schmackhaft und oft eine Referenz für die jeweilige Zutat. Nur wer sich solche Referenzen aneignet, kann Essen realistisch beurteilen. Optisch und handwerklich aufwändig präsentierte Gerichte machen es einem einfach, diese zu loben, aber ich weise oft genug darauf hin, dass die wahren Qualitäten eines Gerichts woanders zu suchen sind.

Wenn Passard dann nicht nur auftischt, sondern auch noch kreativ wird, was er gar nicht immer will, gelingen ihm ausnahmslos kleine Meisterwerke. Diese „Zweischneidigkeit“ ist es, die einem in seinem Restaurant L’Arpège bei einem einmaligen Besuch irritieren kann. Es ist nicht jedes Gericht perfekt. Auch heute nicht. Aber seine Küche in Summe ist es. Jedes Mal ein bisschen mehr. Es lebe das Produkt, es lebe hoch!