Sébastien Bras vs. Guide Michelin

Sébastien Bras, der zusammen mit seinem Vater Michel das berühmte Restaurant Bras im französischen Laguiole führt (siehe auch meinen Bericht aus dem Jahr 2012), hat im September in einem Facebook-Video angekündigt, künftig auf die drei Michelin-Sterne verzichten zu wollen, die das Restaurant seit 1999 auszeichnen ‒ oder, genauer, vom Michelin künftig nicht mehr in dem berühmten roten Restaurantführer empfohlen zu werden. Als Gründe führt er unter anderem eine diffuse Sorge an, dass jeder einzelne der fünfhundert Teller, die die Küche täglich verlassen, theoretisch von einem Michelin-Inspektor inspiziert werden könnte und, so hört man aus seinen Aussagen heraus, es sich ohne das Korsett des Guide Michelin befreiter und kreativer kochen ließe.

Diese Äußerungen haben sich in den Medien wie ein Strohfeuer verbreitet, in erster Linie natürlich wegen der Berühmtheit der Familie Bras und deren Restaurant, aber auch, weil sie einige der einschlägigsten Debatten und Klischees befeuern, die rund um den Guide Michelin regelmäßig an die Oberfläche schwappen.

Mit Titeln wie „Starkoch verzichtet auf Michelin-Sterne“ („Der Spiegel“), „Sébastien Bras gibt Sterne zurück“ (gastronews.com) oder „Starkoch will frei sein – und seine Sterne abgeben“ („Die Welt“) beweisen die deutschen Medien jahraus, jahrein, dass sie noch immer nicht verstanden haben, dass man Sterne nicht zurückgeben kann wie eine Trophäe, und disqualifizieren sich damit schon in der ersten Zeile für eine sachliche Auseinandersetzung mit diesem Thema. Interessanterweise texten ausländische Medien bereits hier spezifischer: „Acclaimed French chef asks to be stripped of three Michelin stars” („The Guardian”), oder „Sébastien Bras renonce à figurer au guide Michelin“ („Le Monde“) machen zumindest schon mal deutlich, dass die Entscheidung dieses Themas nicht in der Hand von Sébastien Bras liegt. Besonders unaufgeklärte und unsensible Medien ziehen bei dem Thema noch die tragischen Tode von Bernard Loiseau und Benoît Violier aus der Konserve als ließe sich das zweifellos sehr anstrengende Leben berühmter Küche auf einen Restaurantführer reduzieren. Das ist taktlos, stellt andere Probleme, die diese Menschen ganz offensichtlich hatten, in den Hintergrund, und klingt in diesem aktuellen Kontext so als wäre der Freitod das nächste unausweichliche Übel, das Sébastien Bras erwarten wird, wenn ein berühmter Restaurantführer nicht endlich darauf verzichtet, seine Küche als eine der besten der Welt auszuzeichnen. Wie absurd.

Überhaupt sollte man bei der ganzen Thematik um Sébastien Bras den Ball flach halten. Ein Koch bittet also darum, dass sein Restaurant aus einem Restaurantführer gestrichen wird. Das bedeutet zunächst einmal nichts anderes, als dass er darum bittet, dass der Guide Michelin in seiner kommenden Ausgabe für Frankreich, die vermutlich im Februar 2018 erscheint, nicht mehr aufgeführt wird. Da der Guide Michelin allerdings ein Reiseführer für Gäste ist ‒ die aktuelle Ausgabe für Frankreich steht derzeit für € 29,95 im Buchhandel in den Regalen ‒, wäre eine solche Streichung mehr als sinnwidrig. Restaurants, die der Guide Michelin nicht in seinen Büchern aufführt, gelten grundsätzlich als „nicht empfohlen“, oder sind noch zu neu, um es in den Führer geschafft zu haben, oder haben ihre baldige Schließung angekündigt. All das trifft auf das Restaurant von Bras nicht zu, und die Kategorie „nicht aufgeführt, aber trotzdem empfehlenswert“ gibt es ‒ bisher ‒ nicht. Ließe sich der Guide Michelin auf die Bitte Bras’ ein, hätte der prinzipientreue Restaurantführer einen immensen Erklärungsbedarf bei seiner Leserschaft. Die Glaubwürdigkeit würde stark verwässern, weil man dann offiziell zugeben würde, sich von Köchen beeinflussen zu lassen, was ja von einer breiten Öffentlichkeit ohnehin gerne kolportiert wird. Und als ernsthaft interessierter Leser wüsste man gar nicht mehr, welche Selektion der Michelin bei der Auswahl seiner Restaurants tatsächlich betreibt. Bisher war dies eine Frage der Qualität der Küche, auf die man sich ‒ mit etwas Erfahrung ‒ ziemlich gut verlassen konnte. Fehlt das Restaurant von Bras in der kommenden Ausgabe tatsächlich, wird der Michelin zu einem löchrigen Schweizer Käse. Leser müssten dann mehr als bisher auf andere Quellen ausweichen, um „das ganze Bild“ einer Region zu erhalten. Es wäre ein Genickschuss für den ehrenwerten Führer.

Was Bras betrifft, finde ich seine Bitte in mehrerlei Hinsicht befremdlich. Zum einen gibt er zu, eine Küche zu betreiben, die auf irgendwelche angebliche Vorlieben von Michelin-Testern abzielt. Warum sonst sollte er sich in seiner Kreativität eingeschränkt fühlen? Niemand, wirklich niemand, hält Bras davon ab, so zu kochen wie er es für richtig hält. Der Michelin hat ja gerade keinen Kriterienkatalog für seine Sterne-Auszeichnungen. Hätte ich in nächster Zeit eine Reservierung bei Bras, fühlte ich mich angesichts dieses ganzen Themas ziemlich düpiert. Ich möchte keine Küche für Tester essen, sondern eine Küche für mich als Gast.

Alain Passard betrieb mit seinem Restaurant Arpège jahrelang eine der berühmtesten Rôtisserien von Paris. Er hatte also ein dreifach besterntes Fleischrestaurant. Als er sich dazu entschloss, irgendwann den Fokus radikal auf Gemüse zu verschieben, haben ihn viele schräg angesehen und einen Rückgang seiner Bewertung vorausgesagt. Passard war das egal. Er hat souverän und nach seiner Überzeugung weitergekocht ‒ und die drei Sterne behalten. Ich zähle ihn bis heute zu einem der kreativsten Köche unserer Zeit.

Wenn Sébastien Bras weniger Beachtung durch wichtige Restaurantführer wünscht, fragt man sich, warum er eingewilligt hat, einen ganzen Spielfilm über sein Restaurant drehen zu lassen („Entre les Bras“, 2011) oder den Zirkus der World’s 50 Best Restaurants insofern zu unterstützen als auf einschlägigen internationalen Koch-Events aufzutauchen anstatt sich in Ruhe um die Kreativität in seiner Küche zu kümmern, die er sich so sehr wünscht. Und ob wohl derzeit die rote Michelin-Plakette das Haus in Laguiole ziert?

Der Guide Michelin sollte nicht einmal darüber nachdenken, das Restaurant aus dem Guide Rouge zu streichen. Im Gegenteil, die Inspektoren sollten die Chance dieser Anfrage nutzen, um in diesem Jahr genauer denn je auf die Teller des Restaurants zu schauen. Aus einigen vertrauenswürdigen Quellen habe ich bereits gehört, dass die Küche dort in letzter Zeit etwas ins Schwanken geraten sei. Vielleicht wäre eine Abwertung auf zwei Sterne ja eine angemessene Reaktion auf Bras’ Anfrage. Wir Gäste wüssten dann zumindest, was Sache ist und dass sich der Michelin genauso wenig in sein Handwerk pfuschen lässt wie Bras es sich vom Michelin tun sollte.