Schwarzwaldstube ‒ Michels Sterne

Die Sterne sind jetzt in seiner Obhut. Drei Stück an der Zahl, mit denen der Guide Michelin seit 25 Jahren die Küche der Schwarzwaldstube auszeichnet. Rekord in Deutschland. Nach dem medial etwas holprig kommentierten Fortgang von Kochlegende Harald Wohlfahrt, hat jetzt Torsten Michel das Ruder in Deutschlands berühmtestem Restaurant übernommen. Michel ist kein Neuer, er wirkt bereits seit zehn Jahren hier und war zuletzt ‒ auch schon unter Wohlfahrt ‒ offizieller Küchenchef im französischen Restaurant des Hotels Traube Tonbach.

Mir sind die internen Geschehnisse, die zum Fortgang Wohlfahrts geführt haben, nicht im Detail bekannt, aber sie interessieren mich ‒ als Gast ‒ heute Abend nicht besonders. Mich interessiert, wie sich das Essen unter Michel entwickelt hat, wenngleich ich nicht behaupten kann, eine Entwicklung hier dokumentieren zu können. Mein erster und letzter Besuch in der „Stube“ liegt schon über neun Jahre zurück.

Das Interieur war damals deutlich barocker. Heute ist das Mobiliar sachlich schlicht, die Anzüge des Serviceteams sind modisch, und der Service agiert mit einer Kombination aus Souveränität, Charme und Humor, die besonders in Deutschland selten vorzufinden ist. Keine Spur von Biederkeit oder Kleinbürgertum ‒ und das nicht in Berlin, sondern in Baiersbronn. Selbst das massive, urige Holzgewerk wirkt der monochromen deutschen Lieblingsfarbwelt für gehobene Restaurants mit Authentizität und Charakter entgegen. Eine angenehme Kulisse für die nächsten Stunden.

Einen schönen Anblick bietet auch die Speisekarte. Gerichte mit ‒ nicht nur ‒ französischem Fokus sind stimmig in kalte und warme Vorspeisen, Suppen, Fisch- und Fleischgerichte unterteilt, es gibt auch noch drei Menüs, alles ist flexibel. Die Preisgestaltung ist im internationalen Vergleich auf diesem Niveau nicht Aufsehen erregend. Das teuerste Menü kostet € 225, die A-la-carte-Gerichte liegen, bis auf eine Ausnahme, alle noch deutlich im zweistelligen Bereich. Für ein derart produktfokussiertes Spitzenrestaurant ist das ein völlig akzeptables Niveau.

Ich wähle, wie ich das gerne in solchen Restaurants tue, à la carte. Ich „bestelle“ aber nicht, sondern spreche mit dem Service über die Gerichte, die mich von den Zutaten her besonders interessieren. Die finale Auswahl kommt dann im Dialog zustande. Dieser kurzweilige, explorative Bestellansatz ist längst nicht in allen Restaurants möglich. Wenn jemand mit gezücktem Notizblock am Tisch steht, kann man so etwas eigentlich schon vergessen.

Erste Häppchen zum Aperitif begleitet Sommelierlegende Stéphane Gass mit zwei verschiedenen Muskatellern, der erste süffig-frisch (Jahrgang 2016 von Alexander Laible aus Baden, € 10), der zweite überraschend tiefgründig (2011 „Ried Silberberg“ vom Weingut Neumeister aus der Steiermark, € 15).

Ein mit einer Kalbsmousse gefülltes Rinderfiletröllchen als Löffeldegustation wird mit akkurat dosierten Mitspielern Kapern, Senf und Parmesan serviert, eine Punktlandung in Bezug auf Wohlgeschmack und elegante Herzhaftigkeit (9/10). Ein weiterer Snack ist eine Scheibe Jakobsmuschel auf einem luftig-knusprigen Chip, kombiniert mit Schalottenvinaigrette und Currycreme. Letztere überlagert etwas das Aroma der qualitativ exzellenten Muschel, aber in Summe ist das geschmacklich hervorragend, vor allem das Spiel mit den Texturen ist große Klasse (8,9/10).

Im Glas ist inzwischen ein exzellenter 2013er Meursault „Rougeots“ von der Domaine Vincent Girardin (Glas € 20), und in der Karaffe für später eine Flasche 1999 Château Clinet aus Pomerol (€ 240).

Die dritte Kleinigkeit ist gezupftes Fleisch von der Meerspinne auf einem intensiv nach bestem Krustentierfond schmeckenden Chip. Krustentiergelee steigert diesen Eindruck. Ein Passionsfruchtschaum bringt sowohl eine passende Fruchtigkeit als auch Säure mit ins Spiel, die bei dieser exzellenten Speise allerdings einen Hauch zu präsent ist (8/10). „Topinky“, eine ursprünglich aus Tschechien stammende kulinarische Tristesse aus geröstetem Toastbrot mit eingeriebenem Knoblauch, präsentiert sich hier als eine Scheibe zu perfekter „Krossheit“ geröstetem Weißbrot mit Entenleber, Apfel, Trüffelstiften und Champignons. In dem kompakten Arrangement zeigt sich unter anderem erneut, wie grandios Champignons schmecken können. Im Idealfall, so wie hier, sind sie sogar in einem Arrangement mit Trüffeln und Entenleber der Hauptdarsteller (9/10).

Als Amuse-Bouche folgt eine aufwändige kulinarische Arbeit bestehend aus mehrerlei Delikatessen rund um die Zutat Elsässer Hauskaninchen. Es gibt eine Ballotine vom Rückenfilet und der Keule mit Portweingelee, dazu eine feine Mousse von gebratenem Kaninchenfleisch auf Pflaumencoulis und einen knusprigen Wan Tan gefüllt mit geschmorter Keule auf einem Ananas-Mangochutney. Diese Meisterarbeit als Amuse-Bouche zu präsentieren ist fast schon von unerhörtem Understatement. Temperaturen, Texturen, Geschmack und Präzision sind im Einklang, jeder Bissen bietet geschmacklich neue, stimmige Eindrücke zwischen Herzhaftigkeit und genau ausbalancierter Fruchtsüße. Die vom Handwerk her asiatisch inspirierte Teigtasche dürfte noch etwas krosser und der Anteil der cremigen Komponenten etwas reduzierter sein, doch das ändert am Weltklasseniveau dieses Tellers nichts Wesentliches. (9/10)

Der erste von mir gewählte Gang ist Thunfisch „Kishū“ (€ 64). Abgeflämmtes Rückenfleisch sowie aufgerolltes, gebeiztes Bauchfleisch präsentieren sich in einer phänomenalen Qualität, der man in unseren Breiten so gut wie gar nicht begegnen kann. Kombiniert ist das fettreiche, umami schmeckende Fleisch mit eingelegten Gartengurken, Shiitakepilzen, Ingwer und Wasabischaum. Obwohl mich das Volumen der schaumigen Masse im Zentrum des Tellers zunächst verunsichert, verflüchtigt sich jede Sorge dann beim Probieren. Wenn alle Komponenten dieses Tellers am Gaumen zusammenkommen, stellt sich ein einnehmendes Erlebnis absoluten Wohlgeschmacks ein. Eine Vinaigrette auf Sojabasis agiert hier wie Nadel und Faden, indem sie alle Zutaten miteinander verbindet. Säure, Umami, Fett, Frische, leichte Schärfe und die außergewöhnliche Qualität des Fischs ergeben ein grandioses Gericht, das ganz und gar nicht französisch ist und vielleicht auf ein „Freischwimmen“ Michels hindeutet. (10/10)

Eine weitere Vorspeise, die ich probiere, hat Karotten von der schwäbischen Alb (€ 38) als Leitmotiv. Es gibt sie geschmort, mit indischen Gewürzen und einer Curryvinaigrette aromatisiert, sowie in Form eines Schaums, der erneut recht prominent angerichtet und voluminös portioniert ist. Hier ist überhaupt ziemlich viel Cremiges im Spiel. Eine Pistaziencreme, eine Earl-Grey-Mousse, Süßholzgelee und eine Korianderemulsion sorgen am Gaumen eher für ein etwas „breiig-klebriges“ Durcheinander als für Harmonie, auch finde ich das Gericht in Summe zu süß. Zu viel aus der Quetschflasche und sättigende Texturgeber dürfte man sich hier nach meinem Geschmack schnell wieder abgewöhnen. (7/10)

Dass das ein Ausreißer war, wird beim nächsten Gericht wieder deutlich. Ein Filetstück vom Glattbutt (€ 92) in fantastischer Qualität ist perfekt gegart und ergibt mit pochierten Austern, Kaviar und geschmacklich sehr intensiven Seeigelzungen aus der Bretagne ein Geschmackserlebnis zum Träumen. Die Sauce, ebenfalls auf Basis von Seeigeln umgesetzt, ist schaumig, buttrig, klassisch und unterstützt den Geschmack nach einem Spaziergang am Meer. Fantastische Produkte, perfektes Handwerk und Bilder im Kopf, mehr geht nicht. (10/10)

Ähnlich ‒ und doch ganz anders ‒ ist ein Gericht mit Rotbarbe (€ 68). Das Filet ist kross gebraten und befindet sich in einem hervorragenden Jus, der intensiv nach Jod und Paprika schmeckt und zum Nachnehmen am Tisch gelassen wird. Die tournierten Artischocken zählen mit zu den besten, die ich je probiert habe, vergleichbar mit einem Niveau, das man etwa von Alain Ducasse kennt. Knoblauchschuppen obenauf, mit mildem Aroma, sorgen für zusätzlichen Texturspaß. Doch das beschreibt das Gericht noch nicht. Der wahre „Kick“, die wahre Herausforderung dieses Gerichts besteht in einer Emulsion aus Rotbarbenleber, die à part in einem Schälchen serviert ist. Zusammen mit einem Basilikum-Espuma gewinnt auch diese schaumige Masse zwar nicht den Preis für die ansehnlichste Beilage, doch dass es sich nicht einmal um eine Beilage handelt, wird schnell klar, wenn man ein Stück des Fischs zum ersten Mal in dieses Elixier tunkt. Es schmeckt so kraftvoll als hätte man wochenlang Krustentiere und jodiges Meeresgetier ausgekocht und immer wieder reduziert, bis man an die „Grenze des guten Geschmacks“ gestoßen ist. Diese fast schon medizinisch schmeckende Substanz ist so schonungslos intensiv, dass ich zunächst etwas innehalte. Nach einigen Dosierungsversuchen werde ich mir der Sache jedoch sicherer und bin am Ende dankbar für ein unvergessliches Gericht, das nicht einfach nur gut schmeckt, sondern auf höchstem Niveau herausfordert. Das ist nichts für jeden Tag und auch nichts für jeden Gast, aber alles für mich am heutigen Abend. (10/10)

Mit einer im Ganzen zubereiteten Keule vom Milchlamm (€ 155 für zwei Personen) geht es weiter. Auf dem Teller findet man von dem Fleisch drei fingerdicke Tranchen mit dünner Bärlauchkruste in einem Baroloessigjus (samt Sauciere zum Nachnehmen), nebst einer Zubereitung mit jungen Erbsen, Spitzmorcheln und hauchdünnen, knusprig gebackenen Kartoffelscheiben. Auf den ersten Blick erscheint der ideale Garpunkt der Keule nicht ganz erreicht zu sein, auch irritiert mich die Abwesenheit von Röstspuren. Es scheint als hätte man auf intensiveres An- oder Nachbraten absichtlich verzichtet. Am Gaumen zeigt sich jedoch kein nennenswerter Makel. Das Fleisch ist ungemein zart und von feinem, authentischen Geschmack, der durch den leicht säurebetonten und intensiv eingekochten Jus ideal unterstützt wird. Ein separat serviertes Kräuterpesto kann man nach Belieben dazu kombinieren. Von atemberaubender Referenzqualität sind die Erbsen und Morcheln, von denen jeweils jede einzelne ein perfektes Exemplar ihrer Gattung ist. Obwohl ich beim Fleisch einen Hauch längere Garzeit und schärferes Anbraten für vorteilhaft hielte, ist das Gericht ein Fest. (9/10)

Bei den Desserts entscheide ich mich für eine Kreation mit exotischen Früchten, genauer um einen Passoa-Savarin, eine Art Mini-Baba mit Passoa-Likör. Darauf befindet sich ein Mango-Limoneneis mit einer fantastischen Balance von Süße und Säure und mit intensivem karibischen Geschmack. All das wird ergänzt von Kokosschaum und dünnen Scheiben von Kokosnuss-Fruchtfleisch. Selbst Letztere sind geschmacklich exzellent, was in unseren Breiten alles andere als eine Selbstverständlichkeit ist. Gels von Passionsfrucht bzw. Ingwer, sowie kleine Mangowürfel vervollkommnen eines der besten „exotischen“ Desserts, die ich je probiert habe. Ich schließe die Augen und tauche ab in eine dunkle Karibiknacht, umnebelt von leisen Klängen einer E-Gitarre, Zikaden und goldbraunem Rum. (10/10)

Der Dessertwagen mit Petits Fours lässt viele Wünsche offen ‒ weil man zwar alles probieren darf, aber nicht alles probieren kann. Meine Auswahl fällt auf ein Stück fantastische Opern-Torte (9/10), einen makellos hergestellten Canelé (9/10), einen Macaron mit Schwarzwälder Kirsch, der etwas mehr Kirsch vertragen könnte (8,9/10) und eine Praline mit exzellenter dunkler Schokolade (9/10). Die Kleinigkeiten schmecken wie aus der Patisserie des Schlaraffenlands. Die Sterne der Stube sind nicht nur damit in besten Händen.

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: Schwarzwaldstube (→ Website)
Chef de Cuisine: Torsten Michel
Ort: Baiersbronn, Deutschland
Datum dieses Besuchs: 07.04.2018
Guide Michelin (D 2018): ***
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