Lameloise ‒ typisch Burgund

Vor fast fünfzehn Jahren brach ich mit einem meiner besten Freunde in Richtung Burgund auf. Wir suchten ‒ vergeblich ‒ nach dem großen Schloss der Domaine de la Romanée-Conti, verwechselten bei Terminen zu Weinproben die Domaine Mugneret-Gibourg mit Mongeard-Mugneret und wechselten alle paar Tage das Hotel, weil wir uns auf diese Weise die Côte d’Or von Süden nach Norden hochschlängelten und ich bei meiner Planung (ohne Google Maps) dachte, dass die Distanzen viel größer seien. Wir lebten aus dem Koffer, von einem Relais & Châteaux zum nächsten, tranken guten Burgunder und schlemmten uns ein paar Tage durch die Region. Meine Erinnerungen sind jedoch lückenhaft; die wenigen analogen Fotos aus der Zeit offenbaren vor allem einen fürchterlichen Nadelstreifenanzug von mir und kein einziges Foto vom Essen. Dabei ließen wir es uns in vielen großartigen Restaurants gutgehen. Unter anderem auch im Lameloise in Chagny.

Es war eines meiner ersten Drei-Sterne-Erlebnisse, und ich erinnere mich noch immer an eines der bis heute besten Schokoladendesserts, die ich je probiert habe, ein quaderförmiger Riegel mit hauchdünnem Knuspergebäck als Trennelement zwischen Haselnusscreme und feinster Schokoladenganache, dessen Gefühl am Gaumen und Geschmack ich noch heute, nach all der Zeit, genau abrufen kann. Ich erinnere mich ebenfalls noch an das Gericht mit Taube, sehr rosa gebraten und mit einer Sauce mit sehr vielen Trüffelwürfeln übergossen.

Nach der Reise erkrankte ich unangenehm, ein meldepflichtiger Keim namens Campylobacter jejuni, der oft in nicht ausreichend durchgegartem Geflügel vorzufinden ist, begründet bis heute mein Tauben-Trauma.

Als ich vor kurzem das Burgund wiederbesuchte, war es dennoch klar, dass ich ins Lameloise zurückkehren musste. Ausgestattet bin ich dieses Mal mit einem erheblich größeren Erfahrungsschatz, einem Smartphone mit Kamera, und meine Anzüge sitzen inzwischen auch besser. Taube bestelle ich heute trotzdem nicht.

Unser Tisch ‒ wir sind zu viert ‒ befindet sich etwas abseits des Hauptspeisesaals in einem fensterlosen, sakral anmutenden Raum. Eine schöne Aussicht nach draußen ist in dem verwinkelten Haus zwar grundsätzlich nicht das Leitmotiv, aber wer hier reserviert, sollte diese Situation vor Augen haben.

Während ich in der Speisekarte blättere, die man wegen ihres übergroßen Formats nirgends ablegen kann, gibt es erste Amuse-Bouches. Die Karte auf dem Schoß, die Beine leicht angehoben, damit die Karte nicht runterrutscht, probiere ich einen Lolli mit Foie Gras, Kakaobutter und Passionsfruchtmarmelade, der leicht knusprig und geschmacklich mehr als hervorragend ist (8,5/10). Ein Marshmallow von grünem Spargel wäre bei meinem Besuch vor über zehn Jahren kaum denkbar gewesen, heute überzeugt die winzige Speise, die mit konfiertem Eigelb, Olive und Orange kombiniert ist, durch ein intensives Spargelaroma (8/10).

Ein als „Toast“ bezeichneter Snack besteht aus zwei millimeterdünnen Scheiben knusprigen Brots, zwischen denen die regionale Spezialität Judru (eine mit Schnaps hergestellte Wurst) und Cornichon-Butter für ländlich-französischen Aperitifspaß auf hohem Niveau sorgen (8/10). Feiner wird es dann mit einer Tartelette mit in Weißwein marinierter Makrele und Püree von karamellisiertem Gemüse (8/10).

Etwas deftiger ‒ und dabei dennoch sehr fein ‒ sind die letzten Petitessen, ein Beignet mit einer warmen, cremigen Füllung aus Comté, Vin Jaune und Schinken (8/10), sowie ein frittierter Raviolo mit Schnecken und Bärlauch (8/10).

Die etwas hemdsärmelige Optik dieses vielfältigen Auftakts unterstreicht den rustikalen Charme der Region, hinter dem sich so viele Schätze verstecken.

So wie die nächste Vorspeise. In einer mit Rotwein zubereiteten Crème anglaise findet man ein pochiertes Wachtelei, das von frittierten Zwiebelstückchen umhüllt ist, sowie Champignons mit intensivem Aroma. Die Speise ist eher kühl temperiert und beglückt den Gaumen mit einem Gefühl von absolutem Wohlgeschmack. Salz, „Süffigkeit“ und die betörenden Röstaromen der Zwiebel, die sich mit dem flüssigen Eigelb vermengen, sind eine Kombination zum Augenschließen. (10/10)

Das Thema Wein kommt hier naturgemäß auch nicht zu kurz. Die Karte ist natürlich auf die Region fokussiert und sehr umfangreich. Es ist ratsam, im Voraus online einige Favoriten ausfindig zu machen und diese dann mit dem Sommelier zu besprechen ‒ eine Strategie, die ich bei umfangreichen Weinkarten häufiger umsetze.

Im Laufe des Abends trinken wir exzellente Tropfen, ein 2012er Meursault von der Domaine Coche-Dury (€ 200), ein 2009er Pommard 1er Cru „Clos des Epeneaux“ von der Domaine Comte Armand (€ 220) und einen 2012er Morey Saint-Denis 1er Cru „Clos de la Bussière“ von der Domaine Georges Roumier (€ 220).

Der erste von mir à la carte gewählte Gang hat dann Erbsen und Seesaibling zum Thema (€ 64). Auf einer kühlen Erbsen-Velouté findet man einige Stücke von behutsam gegartem Seesaibling sowie blanchierte Erbsen und eine Art Zitrusfrucht-Wassereis in Scheiben. Vor dem Hintergrund, dass Erbsen größtmöglichen Genuss bescheren können, ist dieser Teller ziemlich enttäuschend. Die Velouté ist fad, die Erbsen haben keinesfalls Referenzqualität, und auch der durchgekühlte Saibling offenbart außer erwartungsgemäß makelloser Qualität nichts Außergewöhnliches. Das Gericht schmeckt zudem komplett „durchgekühlt“, so als hätte es in dieser Form schon lange in der Kühlschublade auf seinen Abruf gewartet. Ich befürchte genau das. Ein stolzer Preis für einen schwierigen Einstieg ins Menü. (7/10)

Ganz anders verhält es sich mit Kaisergranat (€ 84), der mit Puffreis paniert und frittiert wurde. Zwei solcher Exemplare demonstrieren sowohl eine hervorragende Qualität des nussig-süßlich schmeckenden Krustentiers als auch exzellentes Handwerk. Begleitend zu dem gaumenerfreuenden Snack gibt es das Fleisch des Tiers noch einmal roh mariniert als Tartar in einem Schälchen mit einer üppigen Selleriecreme mit Granny Smith, Kaviar und einer leichten Senfcreme (mit Senf des bekannten regionalen Erzeugers Edmont Fallot). Das schmeckt alles hervorragend, bietet spannende Temperatur- und Texturkontraste am Gaumen und ist verständlicherweise ein Klassiker des Hauses. (9/10)

Ich probiere noch eine weitere Vorspeise. Schnecken der Art „Große Graue“ (escargots Gros Gris „Prés de Fontaines“, € 63) gelangen hier in einem komplexen Potpourri diverser, unterschiedlich interagierender Zutaten auf den Teller. Während die ausgelösten, geschmorten Schnecken sowie Tintenfisch für eine herzhafte Basis mit Biss sorgen, bieten aromatische Kräuter einen frischen Kontrast. Vor allem Dill begeistert in diesem Arrangement, das mit einer Safran-Mayonnaise und geschmorten Zwiebeln an noch mehr Tiefe gewinnt. Zwischen anspruchsvoller Bitterkeit und süffigem Wohlgeschmack wird einem hier eine ganze Palette an hervorragenden Geschmackseindrücken geboten. (8,9/10)

Mein Hauptgang ist ein Gericht mit Kalbsbries (€ 86). Es wurde in „Brioche-Schuppen“ gebraten, sodass das Bries mit einer knusprigen Kruste ummantelt ist. Weitere Zutaten sind eine Zwiebel-Mousseline, Artischocken, Kumquat und ein mit Zimtkassie aromatisierter (und sehr sparsam portionierter) Jus. Das Gericht ist problematisch, weil die Teigkruste um das Bries so schmeckt als sei das Stück (schlecht) frittiert worden. Dies ist zwar nicht der Fall, doch am Gaumen überwiegt ein trockener, ranziger Eindruck, den die anderen, geschmacklich exzellenten Zutaten auch nicht wettmachen können. In Summe in das immer noch „fast sehr gut“, aber durch den handwerklichen Fehler kein großer Spaß. Ich lasse den Gang zurückgehen. (6,9/10)

Etwas ärgerlich daran ist, dass ich bereits beim Bestellen das Risiko einer solchen Zubereitung sah und den Maître de darauf ansprach. Er überzeugte mich jedoch davon, das Gericht zu probieren. Nun ist das alles kein Beinbruch. Ich gehe mit solchen Situationen höflich, aber bestimmt um. Man sollte nicht allzu lange an einem Gericht herumprobieren, wenn man einen Mangel sachlich benennen kann.

Ich bin auch eigentlich schon satt, bestehe nicht auf einen Austausch. Dennoch kommt wenig später eine Alternative aus der Küche, die, wie der Hauptgang, später nicht berechnet wird.

Es handelt sich um Lammkarree, knusprig und saftig gebraten und ganz schlicht mit einigen Gemüsen und einer Kräutercreme serviert. Hieran ist alles sehr gut, aber wenn dieses Gericht ein typisches Drei-Sterne-Niveau repräsentierte, gäbe es auf der Welt zigtausende Restaurants mit dieser Auszeichnung, anstatt nur knapp über hundert. Dennoch: fehlerfrei, authentisch, qualitativ einwandfrei. (7/10)

Trotz eines am Tisch kollektiven Verzichts auf Desserts, klingt das Menü süß aus. Es gibt ein fantastisches Apfelsorbet mit Ahornsirup und karamellisierten Cornflakes (8,9/10) sowie diverse Pralinen, alle auf sehr hohem Niveau (8,5/10).

Damit endet ein Menü, welches auf diesem Niveau ungewöhnlich stark schwankte. Vor allem durch die nahezu vollständige Abwesenheit von Referenzprodukten sowie wegen einiger handwerklicher Probleme war das Essen oft weit entfernt von dem attestierten Niveau, mit dem man sich inzwischen auch die Eingangstür schmückt.

Aber auch das ist typisch Burgund. Es hilft nicht immer, auf große Namen und stolze Preise zu setzen. Manchmal hat auch die teuerste Flasche Kork und der beste Winzer einen schlechten Tag. Aber alle Flaschen schreiben die Geschichte weiter, so auch dieser Restaurantbesuch meine eigene.

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: Lameloise (→ Website)
Chef de Cuisine: Eric Pras
Ort: Chagny, Frankreich
Datum dieses Besuchs: 30.04.2018
Guide Michelin (F 2018): ***
Meine Bewertung dieses Essens 8 (Was bedeutet das?)
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