Opus V ‒ Crème de la Crème

Im oberen Stockwerk des Bekleidungskaufhauses Engelhorn in Mannheim befinden sich gleich zwei Sternerestaurants. Rechts, vom Verlassen des Fahrstuhls aus betrachtet, das Le Corange (ein Stern), sowie links, einen in Erdtönen eingerichteten Gang hinunter, das Opus V (zwei Sterne). Sowohl diese Häufung als auch die Lage in einem Kaufhaus dürften in Deutschland einzigartig sein. Das kenne ich sonst nur aus Hongkong.

Das Opus V, wo ich heute Abend zu Gast bin, dirigiert Tristan Brandt, Küchenchef mit eindrucksvoller Vita, geschäftstüchtiger Gastronom, hochgelobtes Kochtalent. Dass der Restaurantname so direkt aus der Kunst entlehnt ist, kann man nicht gerade als bescheiden bezeichnen, aber wie sagt man so schön? Wer (wohl) kann, der kann (wohl).

Ich bin, wie immer, aber nicht auf der Suche nach spannenden Lebensläufen oder sinnigen Restaurantnamen, sondern nur nach einem hervorragenden Abendessen, auf das die zwei Michelin-Sterne zumindest hindeuten.

Das Menü lässt sich flexibel in einer Größe von vier (€ 129) bis acht Gängen (€ 210) wählen. Es gibt zudem einige aufpreispflichtige Alternativen auf einer separaten Karte, die ich erst später entdecke. Ich wähle ‒ zunächst ‒ acht Gänge und beantworte die Frage nach einem Aperitif mit einem Wunsch nach etwas Weißem aus dem Burgund. Dass sich dann selbst ein derart simpler Wunsch nicht erfüllen lässt, ist für die Weinauswahl eines Spitzenrestaurants schlicht indiskutabel. Natürlich lasse ich mich ohne weitere Einlassungen auf die Alternativen des freundlichen Sommeliers ein. Beim ersten Versuch klappt es noch nicht ‒ im Glas ist irgendetwas Wuchtig-Fruchtiges ohne besonderen Charakter (leider nicht notiert) ‒, und auch der zweite Versuch ‒ ein mittelmäßiger Sancerre ‒ ist keine Punktlandung. Ich lasse ihn aber im Glas, um den Abend nicht zu verkomplizieren. In der Zwischenzeit lasse ich etwas Rotes für später öffnen, einen 2009er Château Cantenac Brown aus Margaux (€ 179).

Diese Ouvertüre ist nicht besonders souverän gelöst. Ich mache oft auf diese für die deutsche Gastronomie typische Kleingeistigkeit aufmerksam, gerade auch beim Thema Wein. Es gibt zahlreiche Möglichkeiten, das Thema Wein im Sinne des Gasts zu lösen, gerade dann, wenn es offenkundig ist, dass der Gast dem Thema suchkundig und mit Freude begegnet.

Währenddessen erreichen erste Speisen den Tisch. Erfrischend originell ist, dass als Amuse-Bouches keine Reihe an Knabbereien aufgetischt wird, sondern zwei um das Thema Flüssigkeiten konzipierte Kreationen. Eine davon enthält eine tiefrote, anspruchsvoll bittere und aromatische Mixtur mit, unter anderem, Kombucha (ein fermentierter Tee) sowie Karotten und Apfelblüte. Der Aktivkohlewürfel in der Mitte ist nicht zum Verzehr gedacht, was die Frage nach seinem Zweck hervorbringt (7,5/10). Die zweite Speise besteht aus einer orangefarbenen Flüssigkeit mit Karotte, Yuzu und Honig, die zusammen mit gestockter Büffelmilch in einem sehr gelungenen Süße-/Säurespiel am Gaumen resultiert (8/10).

Es vergehen zweiundzwanzig Minuten bis zur Fortsetzung der Amuse-Bouches, eine lange Zeit in Anbetracht der noch bevorstehenden Akte. Es gibt eine „Dampfnudel“ mit Kalbskopffüllung und Teriyakisauce. Die Füllung ist süffig-pikant, doch der aus der kantonesischen Küche entlehnte Teigball ist etwas zu pappig. (6,9/10)

Ein frittiertes Pfefferblatt mit angenehmer, leicht krosser Textur kommt mit einer Art Grapefruitmarmelade und ist am Gaumen ein kurzweiliger Spaß. (7/10)

Dieser Snack führt damit auch gleich ein Lieblingselement der aktuellen deutschen Spitzenküche ins Menü ein: die aus der Quetschflasche aufgedrückten Cremetupfen, ohne die seit langem schon nur wenige Teller hierzulande auskommen. Auch die folgenden nicht.

Das letzte Amuse-Bouches enthält in hauchdünne Kohlrabischeiben eingewickelten Taschenkrebs, dazu gibt es „Sakekugeln“, einen kräuterig-öligen Sud sowie Cremes von Avocado und schwarzem Knoblauch. Es ist mir ein Rätsel, warum man es dem Taschenkrebs, also einem potenziell hervorragenden Produkt, so schwer macht, hier aufzutrumpfen. Man versteckt ihn in Röllchen und malträtiert ihn mit süßlichen Cremes. Das macht man nicht nur einmal, sondern gleich drei Mal ‒ eine Wiederholung, die in Anbetracht der eher zurückhaltenden kulinarischen Relevanz dieses Tellers etwas zu optimistisch gedacht ist. Die geschmackliche Komposition funktioniert in Summe zwar gut, wobei auch hier Süße überwiegt. Kaum Produkt, viel „Geschmacksbild“. Soeben 7/10.

Noch vor dem ersten Gang weicht meine Vorfreude auf ein exzellentes Mahl allmählich einer eher pessimistischen Hoffnung auf wirklich Großartiges.

Als nach fünfundsiebzig Minuten am Tisch noch nicht einmal der erste Gang serviert ist ‒ ein in Spitzenrestaurants eher selten zu begegnendem Problem ‒ streiche ich zwei Gänge aus dem Menü. Simple Mathematik prognostiziert bei diesem Tempo ein Ende des Essens gegen halb eins, was mir heute und hier zu viel des Guten wäre.

Der erste Gang aus dem Menü ist abgeflämmter „Toro“, also Thunfisch, der in einem abermals recht süßlichen Sud liegt. Kombucha, Miso und Karamell spielen in diesem Zusammenhang auch noch eine Rolle. Welche genau, geht in der ausführlichen Wiedergabe des gesamten Rezepts seitens des Servicepersonals unter. Dazu gibt es Gurkenperlen und diverse Cremes, u. a. mit Sesamgeschmack. Das Erlebnis am Gaumen setzt weiterhin auf süßlich/cremig/klebrig. Instinktiv mag wohl jeder so eine Geschmackswelt, aber sie ist dem Konzept für industrielle Speisen näher als an der Idee einer hochwertigen, authentischen Produktküche, die ich mir in einem Restaurant dieser Liga eigentlich wünsche. Der Thunfisch, der hier ja offenkundig der Star des Tellers sein soll ‒ und dem man durch die Verwendung des japanischen Begriffs „Toro“ jedoch eine alberne exotische Wertigkeit attestiert (er kommt schließlich nicht aus Japan) ‒, ist hier von allenfalls annehmbarer Qualität. Es fehlt ihm an Fett und damit auch an genug Eigengeschmack, um erfolgreich gegen das Abflämmen und die ganzen anderen Komponenten anzutreten. Objektiv betrachtet ist das ein nur ganz knapp sehr guter Teller mit für Sterneküche gerade noch akzeptablen Produkten und einem Geschmackseindruck, der am Gaumen wieder das Gefühl hinterlässt, viele süße Cremes und Texturgeber verzehrt zu haben. Das „schmeckt“ ganz gut, überzeugt aber sonst durch wenig mehr. (7/10)

Es folgt Königskrabbe, ein edles Produkt, das außer einer so puristischen Darbietung wie im Azabu Yukimura eigentlich wenig mehr benötigt, damit man ein Leben lang daran zurückdenkt. Das Stück Krebs hier ist sehr gut, ich probiere sicherheitshalber ein großes Stück ganz pur. Spargel und Dill sind erfrischend und wohlschmeckend, aber zu dem Krebs eine etwas sonderbare Kombination. Auch die erneut eher süßliche und angedickte Sauce lässt wieder Fragezeichen aufkommen, aber insgesamt ist das Gericht frisch und stimmig und lässt immerhin einiges an Authentizität zum Vorschein gelangen. (7/10)

Es geht weiter mit gebratenen Froschschenkeln, die mit einer erneut befremdlich angedickten Sauce mit Estragon, Kerbel und Petersilie serviert werden, sowie mit unzähligen Klecksen aus der Quetschflasche, die in dieser Menge schon fast eine Karikatur von sich selbst sind. Ich finde auch den dunklen, nicht sehr hochwertig wirkenden Teller keine optimale Wahl für diese Präsentation, aber das ist ein anderes Thema. Ich habe schon exzellente Gerichte mit Froschschenkeln gegessen, z. B. bei Régis et Jacques Marcon in der Auvergne oder im Dal Pescatore. Alle kamen ohne klebrige Saucen und Cremetupfen aus. Zudem dominiert bei diesem Gericht ein penetranter Knoblauchgeschmack, bedingt einerseits durch die Creme von schwarzem Knoblauch und noch viel mehr durch die pappig frittierten Knoblauchscheiben, eine fürchterliche Zutat in diesem Kontext. Ganz aufessen möchte ich das nicht. (6,5/10)

Der folgende Teller mit einem Filetstück von der Seezunge sieht hervorragend aus, weil er deutlich puristischer angerichtet ist und offenbar durch authentische, hochwertige Produkte ‒ den Fisch und die leuchtenden Erbsen ‒ überzeugen will. Der Fisch selbst ist von zweifelsfreier Qualität, aber eine Nuance übergart, was bei Seezunge wegen ihrer von Haus aus festen Textur immer etwas kritisch ist. Zudem fehlt Salz, dem ich jedoch mit dem Meersalz am Tisch nachhelfen kann. Erbsen und Zuckerschoten haben dazu ein frisches, intensives Aroma, aber dann kommt wieder eine seltsam angedickte Sauce sowie aufgequetschte, süßliche Jasmincreme. Alles nicht berauschend. (6,9/10)

Der Hauptgang thematisiert zwei Stücke Flank Steak von der Morgan Ranch aus Nebraska, die einschlägigen Lieferanten lassen grüßen. Ich habe nichts dagegen, das ist eine gute Zutat. Das rosa gegarte und von schmelzenden Fettmarmorierungen durchzogene Fleisch ist zart und aromatisch, auch hier nehme ich jedoch etwas Salz nach. Der Rinderjus ist endlich mal etwas klassischer zubereitet und geschmacklich mit Senfessig in eine leicht säuerliche Richtung gebracht worden, was wohlschmeckend und appetitanregend ist. Weitere Komponenten sind gehobelter Rettich für einen frischen Akzent und leider auch wieder eine süßliche Creme, diesmal mit Erdnussgeschmack. Das passt alles, aber eindrucksvoll oder denkwürdig ist auch dieses Gericht nicht. (7/10)

Das erste Dessert besteht unten im Glas aus einer Zubereitung mit Apfel und Tapioka, darauf ein Schaum mit Ingwer und Litschi. Das Geschmacksbild ist säuerlich und frisch, aber ich kann diesen ganzen Texturgeberkram jetzt einfach auch nicht mehr sehen. Es fühlt sich an, wie Spülmittel zu essen. (6,9/10)

Kokosnuss, Ananas und Basilikum stellen die Geschmacksrichtungen für das finale Dessert dar. Trotz eines in Summe stimmigen Geschmacks ist das flüssig-krümelige Dessert, bei dem wieder ordentlich mit Schaum gesprüht wurde, eine Farce. Ein paar kleine, verlorene Quetschflaschentupfen findet man auch noch, wenn man genau hinsieht. (6/10)

So hat dieses Menü diverse Probleme offengelegt, die mir bereits länger in vielen deutschen Spitzenküchen auffallen. Dabei stellen die Gerichte nicht jeweils ein Produkt von hervorragender Güte in den Mittelpunkt, sondern irgendein möglichst komplexes, mitunter diffuses Geschmacksbild. Die verschiedenen Aromen und Geschmäcker appliziert man dabei in unterschiedlichen Texturen und Darreichungsformen auf den Teller, was in Form von Cremes, Gels und angedickten Flüssigkeiten am besten gelingt (und sich praktischerweise auch am einfachsten vorbereiten lässt). Der unkundige Gast staunt dann zunächst über die optisch unbekannten Elemente, wird damit aber eigentlich nur in die Irre geführt und mit einer tatsächlich hervorragenden Küche nicht bekannt gemacht.

Die Tatsache, dass man nicht mit den allerbesten Produkten kocht und in der Konsequenz lieber sehr fantasievolle, aber auch sehr artifizielle Geschmackskompositionen kreiert, führt dann auch zu allen anderen Phänomenen, denen man hierzulande immer wieder begegnet, von der Betitelung der Gerichte in der Speisekarte mit mehreren gleichwertigen Substantiven (weil eben kein Hauptprodukt zum Thema gemacht wird) über die komplizierten Vorträge des Personals, was alles auf dem Teller liegt und wie es zubereitet wurde (daher gibt es bei dieser Art der Küche auch immer nur Gerichte in Zimmertemperatur) bis hin zur von der eigentlichen Problematik ablenkenden Anrichtweise. Mit einem Menü wie heute Abend kann ich niemandem meine Passion für gutes Essen erklären, meine Passion für natürliche Zutaten, die so großartig schmecken, dass man immer wieder ans sie denken muss, meine Begeisterung für Einfachheit auf höchstem Niveau.

Sieht man sich in den wahren internationalen Spitzenküchen um, kann man feststellen, dass all das ein nahezu ausschließlich deutsches Phänomen ist, welches international auch nicht viele Freunde hat. Kein ausländischer Spitzenkoch ahmt deutsche Kollegen nach, und auch kein ausländischer Gast reist nach Mannheim, um ein Menü wie heute Abend zu essen. Gleichzeitig beklagt sich die Spitzengastronomie bei uns immer wieder über wirtschaftliche Probleme. Ich glaube nicht, dass sie sich durch Quetschflaschen lösen lassen und finde diese Situation bedenklich. Ich kann an Gäste immer wieder nur appellieren, genau hinzusehen, hinzuschmecken und das eigentliche Ereignis des Essengehens von den Zutaten und Zubereitungen auf dem Teller zu trennen. Ich glaube tatsächlich, dass sich auch viele Köche wünschen würden, einfacher, aber besser zu kochen.

Jeder Cremeklecks, der anstelle eines herausragenden Produkts auf den Teller gequetscht wird, muss kritisch hinterfragt werden. Allein in diesem Menü zähle ich über fünfzig. „Kunst“, wie oft kolportiert wird, ist das natürlich nicht. Und ohne Kunst gibt es auch kein Opus. Es bleibt also nicht viel übrig von diesem scheinbaren Kunstwerk, außer eine süßlich-cremige Erinnerung.

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: Opus V (→ Website)
Chef de Cuisine: Tristan Brandt
Ort: Mannheim, Deutschland
Datum dieses Besuchs: 04.05.2019
Guide Michelin (D 2019): **
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