Aponiente ‒ der Wind und das Meer

Man steht etwas hilflos herum. Zugegeben, ich bin ein wenig vor meiner Reservierungszeit angekommen, doch mittlerweile ist auch diese Zeit überschritten. Es steht bereits ein gutes Dutzend Gäste hier draußen im Freien. Der uns bereits gereichte Cava ist auch schon versiegt.

Alle warten darauf, dass eine vorherige Gästegruppe mit den Amuse-bouches fertig ist, die in den verglasten Pavillons serviert werden, welche links und rechts vor uns stehen. Es ist sommerlich, aber ein energischer, salziger Wind höhlt an meiner Geduld. Vielleicht ist es der Poniente, so wird der Westwind hier an der andalusischen Atlantikküste bezeichnet.

Aber jetzt geht es los. Man wird in einen der Pavillons geführt. Dass dies im Kollektiv geschieht, fühlt sich ein bisschen so an wie unfreiwilliger Cluburlaub, aber hier im Pavillon zerstreuen sich die Gäste dann in ihre jeweiligen Gruppen an unterschiedlichen Tischen.

Ich weiß nicht, was mich in den kommenden Stunden erwarten wird. Mit spanischer Koch-Avantgarde habe ich es bekanntlich nicht so, dennoch bin ich nur dieses Restaurants wegen hierhin geflogen, ans südwestliche Ende Europas. Nicht gerade ein Katzensprung übers Wochenende.

Ein erster Löffelsnack ist ein „Blini“ ‒ tatsächlich eher eine Creme mit der Textur von Eigelb ‒ aus Austernwasser, getoppt mit Kaviar. Jod, Salz und Meer springen mich an, das ist richtig gut. (9/10)

Es folgt ein Holzbrett mit drei eigenwilligen Kreationen um das Thema Fisch. Die in der Mitte täuschend „echt“ aussehende Mortadella ist tatsächlich eine Scheibe aus Wolfsbarsch hergestellter Fischwurst. Textur und Geschmack unterscheiden sich nur marginal von dem bekannten Original aus Schweinefleisch. Weiter gibt es, auf einem krossen Chip, eine Sobrasada von Makrele, in Anklang an die mallorquinische Rohwurst mit Paprika; sowie „Papada marina“, eine aus 25 Tage trockengereiftem Hundshai hergestellte Spezialität als Parallele zu einem ansonsten aus Schweinebacke produzierten Speck. Küchenchef Angél Léon geht es hierbei sichtlich um das Aufbrechen von stereotypen Assoziationen („Wurst ist gleich Fleisch“) und das Schärfen der Sinne für die konsumierten Produkte. Das nehme ich zumindest an, denn niemand hält hier lange Vorträge. Die Zubereitungen mit interessanten Texturen und maritimer, leicht salziger Geschmackswelt sind originell und hervorragend. Im Schnitt 8/10.

Ein „Canelé“ mit fermentierter Sardine und Senfsauce schmeckt zwar „fischig-senfig“, aber auf eine unaufdringliche, hervorragende Art (7,9/10). Eine Krokette mit Kaisergranat, die man in eine rötlich-pikante Mayonnaise stippt, bringt das edle Krustentier trotz der scheinbar einfachen Präsentation köstlich zur Geltung (7,9/10).

Das letzte Amuse-bouches, das in diesem luftigen Pavillon serviert wird, ist eine Interpretation von Tortillitas de camarones. Die regionale Frittierspezialität mit, unter anderem, Shrimps, Frühlingszwiebeln und Petersilie, ist üblicherweise viel massiger, und Shrimps kann man darin normalerweise auch nicht mehr erkennen. Hier ist alles sehr differenziert umgesetzt, mit kleinen, süßlich schmeckenden Shrimps und Erbsencreme auf einem luftigen Cracker. Fragil und daher recht schwer essbar, aber geschmacklich sehr delikat. (8/10)

Im Restaurant selbst herrscht eine eher sachliche, durch kreisrunde Bullaugen-Fenster leicht schiffsartige Atmosphäre. Erstaunlich viele Gäste finden hier an großen, runden Tischen Platz.

Das Menü wird in einer großformatigen Pappschachtel gereicht. Darin findet man zwei Menüoptionen: die umfangreiche Variante („groundswell“) für € 225 sowie eine abgekürzte Version („calm sea“) für € 195. Ebenfalls enthält die Schachtel mehrere Schwarzweißfotografien von Meer in verschiedenen Zuständen ‒ ruhig, aufgewühlt, funkelnd, matt, hell, düster … Wer „keinen Fisch mag“ sollte spätestens jetzt das Restaurant verlassen.

Die Weinkarte ist, typisch für Spanien, fair bepreist und bietet Schätze aus allen namhaften Regionen der Welt. Meine Wahl fällt auf einen 1996er Viña Tondonia Blanco Gran Reserva (€ 160) und einen 2010er Pinot Noir „As Covas“ vom Weingut Raúl Pérez & Rodrigo Méndez (€ 85). Der Service ist von Beginn an souverän, charmant und professionell.

Zum Auftakt gibt es einen einfachen, aber guten Schaumwein aus der Region („Toto Barbadillo“), ein Algenbrot und ein mit Plankton aromatisiertes Olivenöl. Das Brot ist etwas trocken, das Öl durch den Meereszusatz prägnant bitter. In Summe setzt das alles aber einen stimmigen Ton.

Der Meeresritt beginnt dann mit Entenmuscheln (percebes), die man in dem mit Algen und einer angegossenen Salzlösung (dazu später mehr) dekorierten Teller erst einmal finden muss. Die schmackhaften, begehrten Krebstiere präsentieren sich in hervorragender Qualität. Ein rares Essvergnügen. (8/10)

Weiter geht’s mit einem Gazpacho mit Sardellen, Kreuzkümmel, Olive und Karotte. Die kühle, ölige Suppe ist geschmacklich perfekt ausbalanciert. Vor allem der präzise Umgang mit Kreuzkümmel ist hervorragend; das kann auch schnell in allzu exotische Geschmacksbilder abdriften. Im Vordergrund der Aromen stehen hier Olive und Karotte sowie die exzellenten, nahezu rohen Sardellen ‒ alles als Anspielung auf einen regionalen Taps-Snack. Das ist eine kleine Menge allergrößten Wohlgeschmacks, man taucht schon ganz tief in eine intensive Genusswelt ab. (10/10)

Der nächste Gang ist eine herzhafte Crème Caramel, hergestellt unter anderem mit dem Rogen von Meeräsche (Bottarga). Die intensiv „fischig“ schmeckende Kreation spielt einem auf herausfordernde Art einen Streich, da man ‒ trotz entsprechender Ankündigung ‒ mit etwas Süßem rechnet. Tatsächlich hilft etwas Crème Chantilly dabei, den Geschmacksorkan abzumildern. Kraftvoll, ungewöhnlich, herausragend. (8,9/10)

Es folgt ein Gericht um das Thema einer weiteren regionalen Spezialität: Herkuleskeule. Die auch als Brandshorn bekannte Meeresschnecke wird in diesem Gericht mit Gazpachuelo serviert, einer herzhaften Suppe auf der Basis von Fischfond, Mayonnaise und Knoblauch. Bewegt man die Schnecken etwas mit dem Löffel, gelangt eine purpurne Flüssigkeit zum Vorschein, eine Art Tinte des Tiers. Das Gericht schmeckt wunderbar. Deutlich weniger intensiv als zuvor, dennoch eindeutig dem Meer zugewandt, dabei mild, mit interessanter Textur der Schnecken und einem mild-würzigen Sud. Mit einem Muschelgelee in Tellermitte steuert man ein wenig die Intensität des Gerichts. Das ist wie ein Auf und Ab des Meeres. Eine hervorragend herausgearbeitete Hauptzutat in einem ergreifend guten Ensemble. (9/10)

Teil zwei der Schnecke ist ein „Parfait“ aus den Schnecken-Innereien, serviert mit knusprigen Brotkrumen und einem Sud aus karamellisierten Zwiebeln. Das „Parfait“ ist eine optisch an Schlick erinnernde Masse mit leicht sandiger Textur. Das klingt unappetitlich, ist aber erneut ein maritimer Hochgenuss. Vor allem der süßlich-herzhafte Zwiebelsud ist dazu eine Wonne. (8,9/10)

Als nächstes wird ein kleiner Fisch auf einem Teller präsentiert. Es handelt sich um eine kleine Flunder (tapaculo genannt). Sie liegt komplett roh und im Ganzen vor einem. Neben dem Teller steht eine Karaffe mit einer farblosen, kalten Flüssigkeit, die man über den Fisch gießen soll. Die Flüssigkeit ist eine mit mehreren Salzen „übersättigte“ Lösung, die beim Kontakt mit dem Fisch auskristallisiert, erhärtet und sich dabei erwärmt.

Die warme Salzschicht gart nun sanft den Fisch ‒ an sich ja keine unbekannte Methode. Von vielen Spielereien, die ich bereits in Restaurants gesehen habe, ist das hier sicherlich die eindrucksvollste. Der Teller wird zunächst wieder abgeräumt, während der Fisch weiter präpariert wird.

Währenddessen gibt es den nächsten Gang. In einer warmen Thunfischbrühe findet man aus Stabmuscheln hergestellte und mit Edamame-Püree gefüllte Ravioli sowie kleine Thunfischwürfel. Die hervorragende Brühe ist pures Umami, dazu leicht salzig und etwas pikant. Die weiteren Zutaten sind geschmacklich eher zurückhaltend, aber gleichwohl präsent. Eine Fahrt in ruhigeren Gefilden. (8,5/10)

Dann kommt die Flunder zurück. Sie wurde inzwischen durch die Küche filetiert. Butter, die ein Jahr lang in Kaviar fermentiert wurde, bildet die Basis für eine außergewöhnliche Sauce, mit der der Fisch glasiert wurde. Sie ist klebrig an den Lippen wie ein dicht eingekochter Fond, üppig buttrig und beherbergt die salzig-jodige Nussigkeit von Kaviar. Trotz dieser intensiven Attribute gelangt der feine Fisch voll zur Geltung. Die Garung ist auf den Punkt ‒ ich weiß nicht, ob hier noch einmal nachgeholfen wurde ‒, das Filet zart und saftig. Meine Lippen kleben, alles schmeckt nach Salz, Karamell, Butter und Kaviar. Phänomenal. (10/10)

Die kurzweilige Reise schreitet weiter fort. Botillo beschreibt eigentlich eine Wurstspezialität aus Nordwest-Spanien, hier wurde sie, wie schon bei den Appetizern, aus Fisch hergestellt, genauer aus unterschiedlichen Teilen von rotem Thun. Von dieser „Wurst“ hat man nun eine fingerdicke Tranche auf dem Teller, die mit einer abermals dicht eingekochten Sauce überglänzt ist. Die Sauce ist großartig ‒ leicht salzig, etwas rauchig ‒ und der Thunfisch ein Gedicht. Verschiedene Texturen sorgen für ein variiertes Erlebnis am Gaumen, Rosenkohl lockert das etwas an Kasseler erinnernde Geschmacksbild auf. Erneut ein ergreifend gutes, vollkommen unkonventionelles Gericht. (10/10)

Dicht und intensiv geht es weiter. Es gibt geräucherte Austern mit einer Sauce aus Fischniere ‒ welcher Fisch genau, wird nicht erwähnt ‒ und Oloroso-Sherry. Interessanterweise erinnert die Sauce geschmacklich sehr an Kalbsleber. Die Auster, mit ihrem Geschmack nach Meerwasser, bildet einen eleganten Gegenpol. Das Gericht spielt mit Licht und Schatten, mit Tiefe und Oberfläche. Ein weiterer herausragender Gang. (9/10)

Die nächsten beiden Gerichte widmen sich dem Thema Tintenfisch. Zunächst gibt es die Gonaden des Tiers ‒ ein transparentes, zwiebelförmiges Fortpflanzungsorgan ‒ mit einer Pepitoria-Sauce. Letztere ist eine cremige Sauce, die unter anderem mit fermentiertem Huhn, Eigelb und geröstetem Brot hergestellt wird. Die Gonaden gibt es in verschiedenen Varianten, sowohl schlicht gegart ‒ geschmacklich nicht anders als Tintenfisch ‒ als auch in einer an Bottarga erinnernden, getrockneten Form, die das Gericht geschmacklich dann wieder in Richtung Meer lenkt. Angenehme Röstnoten von der dichten Sauce verliehen dem famosen Teller weitere Geschmackstiefe. (9/10)

Ein kugelförmiger Tintenfisch-Raviolo ziert den nächsten Gang. Er ist mit einer schwarzen, dichten Sauce von Tintenfischtinte überglänzt. Die runde Zubereitung ist mit einem leichteren Tintenfischfond gefüllt, der mit marokkanischen Gewürzen aromatisiert ist. Das fügt dem Gericht durch die flüssigere Komponente nicht nur etwas Leichtigkeit hinzu, sondern geschmacklich auch eine exotische Komplexität. Das Gericht schmeckt dunkel, „heiß“ und orientalisch. Erneut verblüffend großartig. (9/10)

Winkerkrabbe mit Vanille, Zwiebeln und einer mit Armagnac aromatisierten Sauce soll an ein regionales Schmorgericht erinnern. Wenngleich Vanille eine schwierige Zutat in herzhaften Gerichten ist, gelingt der Küche hier ein sehr überzeugender Einsatz. Das sehr behutsam dosierte Gewürz passt perfekt zu den Eichenholznoten des Armagnacs. Vor diesem rauchigen, runden Hintergrund entfalten sich fast verkochte, leicht süßliche Zwiebeln sowie schließlich das exzellente Krebsfleisch mit frisch-nussigem Geschmack. Ein kleines, süffiges Meisterwerk. (9/10)

Der folgende Gang ist eine Analogie zum Thema „Hühnchen mit knuspriger Haut“, verzichtet aber gänzlich auf Huhn. Stattdessen gibt es Buttermakrele (escolar), ein gesundheitlich nicht ganz unbedenklicher Fisch (vgl. BfR), serviert mit knuspriger Muränenhaut. Letztere wurde vor der Erhärtung aufgeblasen, sodass die Haut hauchdünn, sehr knusprig und nahezu transparent ist. Eine Sauce auf der Basis von Fischfond, Tomaten und erneut etwas Armagnac sorgt für ein klassischeres Geschmacksbild. In Summe jedoch begeistert das Gericht abermals durch Extreme. Die am Gaumen geradezu laut zersplitternde Haut, die ungewöhnlichen, aber exzellenten (und auch sehr bekömmlichen) Zutaten, der klebrig eingekochte Fond … Eher aufgewühltes Meer als seichtes Gewässer. (9/10)

In diesem Moment sind alle Esser an derselben Stelle des Menüs angelangt. Das Licht im Saal erlischt. Es ist stockdunkel, eine Stimme aus Lautsprechern erzählt auf Englisch etwas über das Meer, während das Personal jedem Gast ein Getränk an den Platz stellt. Man soll es schwenken. Tut man das, leuchtet das Glas hellblau auf.

Es handelt sich dabei um eine Lumineszenz aus Krebsen (in einem mit Apfel aromatisierten Wasser),  die man hier im Restaurant aus den Tieren gewinnt. Wenn alle Gäste an ihren Gläsern schwenken, sieht es aus als blickte man in einen Sternenhimmel. Dabei trinkt man das Licht von Krebsen. Das ist in diesem Moment sehr ergreifend. Alles in diesem Restaurant ist schlüssig, alles ist authentisch und andersartig. Ein magischer Moment.

Das erste Dessert kühlt eventuell erhitzte Gemüter. Gefrorene Scheiben von Basilikum- und Zitronensorbet liegen abwechselnd geschichtet in einem kühlen Sud aus Weintrauben und Sherry. Das schmeckt etwas wie ein Gin Basil Smash, ist ebenfalls nicht zu sauer und bringt die Aromen aller Zutaten hervorragend zur Geltung. (8,5/10)

Ein Dessert mit Avocado, Schokolade und „geräuchertem“ Olivenöl wirkt vor dem Hintergrund des bisherigen Menüs dann völlig fehl am Platz und spielt ‒ fast schon ironisch ‒ mit vielem, was in der modernen Patisserie schieflaufen kann. Das Dessert schmeckt stumpf und bitter, lediglich der Schokolade kann man eine exzellente Qualität attestieren, wenn man denn will. (6,5/10)

Verschiedene Pralinen bieten teils perfekten klassischen Genuss, z. B. mit einer wunderbaren Mokka-Praline, und teils etwas ausgefallenere Erlebnisse mit Plankton und Olivenöl, allesamt jedoch auf höchstem Niveau. (8,9/10)

Die Küche im Aponiente ist zweifellos eine der außergewöhnlichsten unserer Zeit. Sie lässt Qualitätsfragen lange hinter sich, fordert heraus, berührt und begeistert. Dabei ist die Küche äußerst bodenständig und thematisiert oft Gerichte, mit denen man hier in der Region aufgewachsen ist ‒ ein Bezug, der in den deutschen Spitzenküchen ja nahezu vollständig fehlt. Es gab dabei diverse konzeptionell und geschmacklich fesselnde Gerichte. Meine Höchstnote ist daher die einzig schlüssige Bewertung dieses Essens aus einer anderen Welt. Einer Welt mit kräuselnder Brandung und stürmischen Wellentürmen, mit dunkeln Tiefen und hellen Seichten. Einer Welt mit geborgenen Schätzen und noch viel mehr Geheimnissen. Manche von ihnen leuchten sogar.

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: Aponiente (→ Website)
Chef de Cuisine: Angél Léon
Ort: El Puerto de Santa María (Cádiz), Spanien
Datum dieses Besuchs: 06.07.2019
Guide Michelin (E/PT 2019): ***
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