Sketch at The Lecture Room ‒ französische Landpartie

Bizarr, mysteriös, verrückt: diese und weitere Attribute treffen zu, wenn man versucht, den Gebäudekomplex zu beschreiben, in dem man Londons jüngstes Drei-Sterne-Restaurant Sketch at The Lecture Room findet. Eigentlich müsste das Restaurant The Lecture Room at Sketch heißen, denn das kulinarische Konzepthaus Sketch beherbergt unter seinem Dach neben dem Lecture Room mehrere weitere Gastronomien, die das gesamte Spektrum von Frühstück über Mittagessen, Café, Konditorei, Abendessen bis zur Cocktailbar abdecken, jeweils in absolut extravagantem Design.

Eine Kunstgalerie und eine Bibliothek sind auch noch mit von der Partie, hinter deren Vision der algerische Gastronom Mourad Mazouz steckt. Für den Lecture Room schaffte es Mazouz, niemanden Geringeres als Kochlegende Pierre Gagnaire anzuheuern, der neben seinem legendären Pariser Drei-Sterne-Restaurant (in dem ich viel zu lange nicht gewesen bin) inzwischen ein multi-besterntes internationales Gastronomieimperium betreibt.

Wenn man das Haus im mondänen Stadtteil Mayfair betritt ‒ draußen parken McLaren-Sportwagen und Rolls Royce ‒, hat man den Eindruck, in einem exklusiven Nachtclub angekommen zu sein, dessen Eintritt einem die Reservierung im Lecture Room garantiert.

Nach der Nennung des Reservierungsnamens werde ich von charmantem Personal eine Treppe hoch, über fluoreszierend beleuchtete Gänge in den Speisesaal des Lecture Room begleitet.

Die Szenerie wechselt abrupt in ein rot-weiß-goldenes Interieur. Das wirkt psychedelisch, orientalisch, überfrachtet, aristokratisch … und doch gemütlich. Man bietet dem Gast ohne Umschweife eine Umgebung zum Staunen und Feiern an. Das macht Spaß!

Erst mal ein Glas Weißwein, offen. Es gibt unter anderem eine exzellente Auswahl an Burgundern (natürlich, wir sind in einer Metropole), z. B. einen 2015er Bourgogne-Aligoté von Arnaud Ente (£ 36, ca. € 42). Bei dem Wein lässt es sich schon mal bequem in der Speisekarte stöbern.

Recht zügig werden erste Amuse-Bouches aufgetischt. Ich habe noch nicht abschließend entschieden, ob ich es gut finde, solche Snacks zügig serviert zu bekommen, während man noch mit den Karten hantiert. Das ist einerseits lästig, weil man Speise- und Weinkarten wieder beiseitelegen und konzentriert zuhören muss, andererseits lässig, weil man einen klassischen Aperitifsnack auch nicht allzu ernst nehmen muss.

Käse-Sablés sind einfach, aber sehr gut (7/10); ein Buchweizen-Cracker mit Krebsfleisch, Thunfisch, Kaviar und einer nach Zitrusfrucht schmeckenden Creme ist leicht, frisch, hervorragend (8/10); und ein luftig-knuspriges Reisgebäck mit Sardellenpaste, Kokos und einem Kraut, das ätherisch und frisch nach Erbse schmeckt, ist einfach nur verblüffend grandios (9/10).

In einem Glas findet man noch einen Vodka-Martini-Geleewürfel am Spieß ‒ verspielt und mit authentischem Geschmack (7/10) ‒; auf einem Löffel dann noch Scheiben von geräucherter Ente mit etwas süßlicher Kastanienpaste ‒ sehr gut, aber nicht mehr (7/10).

Ich habe inzwischen auch den nächsten Wein ausgewählt, einen 2012er Clos Vougeot von der Domaine Forey (€ 341), sowie zwei Gänge à la carte. Das klingt wenig, doch wer die Gerichte von Pierre Gagnaire kennt, weiß, dass man damit schon sieben bis acht Speisen degustiert. Gagnaires Konzept mit aus mehreren Tellern bestehenden Gerichten ist weltberühmt und hat viele Nachahmer gefunden. (Selbst das von mir so geschätzte Le Moissonnier kann sich von Inspirationen des französischen Großmeisters in dieser Hinsicht sicherlich nicht freisprechen. Aber wer kann, der kann.)

Ein weiterer Appetizer folgt. In einem kleinen tiefen Teller befindet sich ein Tofu-Würfel sowie, darauf, Juliennes von Rüben und Karotte. Die filigrane Komposition wird mit einem heißen Algensud angegossen, der ein intensives, fleischiges Aroma preisgibt und eher wie eine würzige Rindercomsommé schmeckt als nach Alge. Die Komposition in der Mitte liefert fast nur Textur, aber auch pointierte Frische. Das offenbar komplett vegane Gericht überzeugt mit einer eleganten Zurückhaltung. (7,5/10)

Der erste Gang trägt den Titel „Winter“ (€ 64). Es handelt sich um eine Komposition aus vier Gerichten. Im Mittelpunkt steht ein Pâté en croute, farciert mit Kalbsbries, Foie Gras und Morcheln, neben den man einige dünne Champignonscheiben gelegt hat. Etwas Senf gibt es auch dazu. Allein das. Allein diese ländliche Komposition, die durch das Keramikgeschirr subtil unterstrichen wird, ist wundervoll. Auch am Gaumen ist das alles ein Gedicht. Der Pâté ist kühl, aber nicht kalt, sodass der luxuriöse Schmelz von Leber und Bries voll zur Geltung gelangt, die Morcheln und Champignons liefern dazu beide ihr jeweiliges Waldaroma, und der nonchalant auf den Teller getupfte Senf ist pikant und würzig. Schon dies ist ein unvergesslicher Teller ‒ geschmacklich, handwerklich und konzeptionell.

Doch man isst ihn ja zunächst nicht auf, sondern kostet von den weiteren Angeboten. Auf einem länglichen Teller findet man Lauch und Puntarelle, beides gebraten, angerichtet in einer süffigen Vinaigrette, und fast komplett bedeckt mit schwarzem Trüffel aus Richerenches in der Provence. Süffig, säurebetont, erdig, lauchig, lauwarm, himmlisch ‒ und absolut schlüssig zum Pâté.

Links dann noch etwas Warmes, eine buttrige, geschmorte Roscoff-Zwiebel, die fast schon zerfällt, dazu Streifen von gekochtem Schinken. Das Ganze wird am Tisch mit einer heißen „Schinkenbouillon“ angegossen, deren herzhafter Duft nicht appetitanregender sein könnte. In der süffigen Speise unterstreichen ein paar kleine, süße Weintrauben die säuerliche Süße der Zwiebel, auch das ist großartig.

Zum Abkühlen der Nerven gibt es dann noch ein Schälchen mit Rindertatar ‒ perfekt gewürzt ‒, dazu Ossietra-Kaviar ‒ üppig portioniert ‒ und ein Weiße-Bete-Eis mit schmeichelndem Schmelz.

Der „Winter“ von Pierre Gagnaire ist eigentlich eine Landpartie in die Provence im Frühling, mit Decke, Picknickkorb, reichlich Wein und guten Freunden. Die Kreation ist eine Hommage an die simplen Genüsse, die jedes Kind in Frankreich kennt, zubereitet auf absolutem Spitzenniveau. Gerade, wenn man solche Geschmacksbilder kennt ‒ ich selbst bin in einem frankophilen Haushalt groß geworden ‒, ist ein so „bodenständiges“ Erlebnis von Hochküche ein tief emotionales Erlebnis. Ich bin voller Freude. Das ist wunderbares Essen, das glücklich macht. (10/10)

Der nächste Gang rankt um Wolfbarsch und Thunfisch. Der zentrale Teller enthält ein Stück Wolfsbarsch, saftig und exzellent gegart, das auf gerösteten und in Whisky und Guinness-Bier geschwenkten Schwarzwurzelstückchen gesetzt wurde. Schlichte Zitronenbutter und ein paar hauchdünne Radieschen ergänzen das Ensemble, das zwar makellos zubereitet ist und hervorragend schmeckt, sich aber zunächst noch hinter seiner Unauffälligkeit versteckt.

Mit den weiteren Tellern kommt Gagnaires Konzept aber eindrucksvoll zur Geltung. Eine Art „Reispuffer“ ‒ von der Textur her ähnlich wie das Äquivalent aus Kartoffeln ‒ ist mit einer Scheibe rohen Thunfischs bedeckt, dazwischen etwas mit Limone gebratener Lauch. Dieses unkonventionelle Konstrukt spielt wunderbar mit Kühle und Wärme, mit Säure und Süße, und ergibt im Wechselspiel mit dem Wolfsbarsch eine hochgradig deliziöse Angelegenheit. Ein Teller mit frittiertem Grünkohl und Bonitoflocken, der Grundzutat von Dashis, liefert ergänzenden Knabberspaß und Umamigeschmack. Ein fantastisch unaufgeregtes Gericht, das weder durch Anrichtwahnsinn noch durch vermeintliche Luxuszutaten überzeugt, sondern durch eine klug zusammengesetztes, sehr harmonisches Geschmacksbild und makelloses Handwerk. (9/10)

Gagnaires Küche hat mich schon fasziniert als ich sie zum ersten Mal vor zwölf Jahren in Paris erlebt habe. An die Gerichte von damals kann ich mich noch immer erinnern, da sie trotz ihrer oft komplexen Vielschichtigkeit angenehm zugänglich sind. Gagnaires Prinzip, die Geschmacksbilder mit Hilfe mehrerer Teller nach und nach aufzubauen und zu komplettieren, macht diese besonders nachvollziehbar und einprägsam. Die dazu oft nicht kaschierte Bodenständigkeit als Ursprung vieler Teller ist zusätzlich sympathisch, wenngleich die nicht allzu spannenden Amuse-bouches den Schnitt dieses Essens etwas nach unten korrigieren.

Draußen auf der Straße kommt es mir vor wie aus einem Traum herausgerissen worden zu sein. War ich nicht gerade noch auf einer Picknickdecke in der Provence? Was machen all diese Leute hier? Und woher kommt die laute Musik? Das ergibt alles keinen Sinn. Aber dieser Pâté, der war ganz sicher real. Da kommt man doch im Traum nicht drauf.

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: Sketch at The Lecture Room (→ Website)
Chef de Cuisine: Johannes Nuding
Ort: London, Vereinigtes Königreich
Datum dieses Besuchs: 25.01.2020
Guide Michelin (GB & Irland 2020): ***
Meine Bewertung dieses Essens 8,5 (Was bedeutet das?)
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